Künstliche Intelligenz als neue Dimension in der Gestaltung


Masterarbeit, 2019

176 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Inhaltsverzeichnis

II. Abkürzungsverzeichnis

III. Abbildungsverzeichnis

IV. Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Relevanz der Fragestellung
1.3 Aufbau der Arbeit

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Digitale Produktentwicklung
2.2 Komplexe Probleme in der Gestaltung
2.3 Ganzheitlicher Gestaltungsprozess
2.4 Designsystem als Werkzeug

3 Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine
3.1 Verortung der künstlichen Intelligenz
3.1.1 Machine Learning
3.1.2 Generative Gestaltung
3.2 Arbeitsfelder eines Algorithmus
3.2.1 Algorithmus als Nachmacher
3.2.2 Algorithmus als Unterstützer
3.2.3 Algorithmus als Gestalter
3.2.4 Zwischenfazit
3.3 Konstruktion eines neuen Gestaltungsprozesses
3.3.1 Vorteile eines neuen Arbeitsprozesses
3.3.2 Nachteile des neuen Arbeitsprozesses
3.3.3 Zwischenfazit

4 Empirische Forschung
4.1 Empirische Methodologie
4.1.1 Grundsätze des qualitativen Denkens
4.1.2 Gütekriterien der qualitativen Forschung
4.1.3 Zirkuläre Strategie
4.2 Die Erhebungsmethode
4.2.1 Leitfadengestütztes Interview
4.2.2 Auswahl der Experten
4.3 Forschungsleitende Annahmen
4.4 Datenerhebung
4.4.1 Durchführung der Interviews
4.4.2 Transkription der Expertenaussagen
4.5 Datenauswertung
4.5.1 Auswertungsmethode
4.5.2 Inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
4.5.3 Extraktion der Expertenaussagen
4.5.4 Diskussion der Ergebnisqualität

5 Fazit und Ausblick
5.1 Darstellung der Untersuchungsergebnisse
5.2 Auswirkungen auf das Berufsbild
5.3 Ausblick auf zukünftige Forschungsarbeiten

V. Quellenverzeichnis

VI. Anhang

II. Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

III. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Trajektionsstufen nach Klaus Krippendorff

Abbildung 2: Die drei Reflexionsphasen von Donald Schön

Abbildung 3: Die sieben möglichen Designstufen nach Hugentobler, Jonas und Rahe

Abbildung 4: Designprozess innerhalb von Agenturen

Abbildung 5: Schematische Darstellung eines kollaborativen und interdisziplinärer Arbeitsfluss

Abbildung 6: Aufbau eines Design Systems anhand der Atomic Design Struktur

Abbildung 7: Designkomponenten kategorisiert am Beispiel von Instagram

Abbildung 8: Deduktives und induktives Verfahren

Abbildung 9: Arten von Machine Learning

Abbildung 10: Kooperation zwischen Algorithmus und Gestalter

Abbildung 11: Algorithmus der einen Styletransfer abbildet

Abbildung 12: Weiterverarbeitung und Style-Transfer

Abbildung 13: Aktueller Gestaltungsprozess

Abbildung 14: Arbeitsprozess mit Unterstützung eines Algorithmus

Abbildung 15: Schematische Darstellung des Ablaufs der qualitativen Forschung

Abbildung 16: Schematischer Ablauf der Inhaltsanalyse nach Kuckartz

Abbildung 17: Codedefinition der Hauptkategorien am Beispiel "Automatisierung führt zur schnelleren Entscheidungsfindung"

Abbildung 18: Codierter Interviewtext mit Memos

Abbildung 19: Liste der Hauptkategorien und Subkategorien

IV. Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Darstellung der Experten und ihre fachlichen Hintergründe

1 Einleitung

“A study group estimated that it would be 1980 before developments in artificial intelligence make it possible for machines alone to do much thinking or problem solving of military significance. That would leave, say, five years to develop man-computer symbiosis and 15 years to use it. The 15 may be 10 or 500, but those years should be intellectually the most creative and exciting in the history of mankind.” (Licklider, 1960, S. 4) träumte schon Licklider über die Anwendung von künstlicher Intelligenz im Jahre 1960 und in dem Zuge von der Symbiose des Menschen mit der Maschine. Aus der Perspektive der Gestaltung sprechend, stellt sich die Frage, ob sich die Form der Zusammenarbeit zwischen Maschine und Kreativschaffenden grundlegend revolutionieren oder nur in Fragmenten optimiert wird.

Inspiriert von diesen Erkenntnissen wurde zunächst ein fachlicher Austausch mit Kollegen aus dem Designbereich veranstaltet. Einige der Gestalter verspüren derzeit Unsicherheiten bezüglich der Zukunft ihres Gewerkes. Die Frage nach der Automatisierung ihrer Profession und damit der vollständige Abschied ins Digitale beschäftigt sie. Es wird beobachtet, dass sich der vermehrt freie Schöpfungsprozess zu einem einheitlichen Produktionsprozess verdichtet – hin zu einer sich wiederholenden Routine von Handlungsschritten, eine vermeintliche Automatisierung der Ästhetik.

In der vorliegenden Arbeit soll das Phänomen der künstlichen Intelligenz innerhalb der digitalen Gestaltungsarbeit beleuchtet werden. Wie findet die Arbeit des Designers heutzutage statt, und wo ergeben sich Synergien? Mit weiterführenden Antworten auf diese Fragestellungen soll eine technologiegetriebene Betrachtungsweise auf den zukünftigen Gestaltungsprozess gerichtet und in diesem Sinne der Wandel aufgezeigt werden, in dem sich die digitale Zusammenarbeit weiterentwickelt. Die möglichen Veränderungen und neuen Arbeitsformen, die dieser technische Wandel hervorruft, werden für die Perspektive des digitalen Gestalters erarbeitet.

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

Der industrielle Fortschritt begleitet die Menschheit bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts. In der ersten Industriellen Revolution wurden mit der Erfindung der Dampfmaschine die körperlichen Tätigkeiten des Menschen durch Maschinen ersetzt. Die Maschinen wurden als eine Gefahr für den Menschen dargestellt, wie die WDR-Dokumentation "Quarks“ über die Industrialisierung auf dem Jahr 2016 darstellt (Hahne & Kneiding, 2016, Abschn. Minute 25-29). Die Dokumentation zeigt ebenso auf, dass mit dem Beginn der Digitalen Revolution zum Ausgang des 20. Jahrhunderts die Industrialisierung nicht nur körperlichen Tätigkeiten, wie die Produktion am Fließband, sondern auch von geistigen Tätigkeiten Einzug findet. Beispielsweise werden Rechnungsvorgänge, Transaktionen und Planungszyklen bereits jetzt automatisiert getätigt. Im Zuge der Entwicklung der künstliche Intelligenz werden nun weitere geistige und menschliche Leistungen, wie die logische Entscheidungsfindung imitiert (Hebron, 2016, S. 5).

Wie das Gestaltungsmagazin Page in dem eDossier „Künstliche Intelligenz im Gestaltungsprozess“ betrachtet (Schätzle, 2017, S. S. 82f), hält die Automatisierung bereits ersten Einzug in Designaufgaben, beispielsweise durch das maschinelle Setzen von Website-Layouts oder von vereinzelten Website-Komponenten. Dies kann bisher aber nur als Rekombination bestehender Komponenten verstanden werden und dient der Standardisierung von Produktionsschritten. Die Automatisierung der zuvor noch für sich alleinstehenden Arbeitsschritte kann mit den Anfängen der Industriellen Revolution verglichen werden. Der technologischen Wandel impliziert marginale Veränderungen innerhalb des Gestaltungsprozesses, die sich beobachten lassen.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den digitalen Fortschritt durch das Aufkommen einer neuen Technologie zu analysieren. Dabei gilt es, das Phänomen der künstlichen Intelligenz in der Digitalbranche tiefer zu verstehen, und dessen Einfluss auf die kreative Arbeit zu untersuchen. Die Untersuchungen werden geleitet von den Ausführungen Krippendorffs in „The Semantic Turn“ und in Buchanans „Wicked Problems in Design Thinking“ im Kontext des Lösens von komplexen Problemen innerhalb des Gestaltungsprozess. Komplexe Probleme können nur durch Entwürfe eines Designers bearbeitet werden und lassen sich nicht vollständig lösen. Zudem wird basierend auf Hebron „Machine Learning for Designers“ die Zusammenarbeit zwischen Gestalter und Maschine untersucht, und neuen Formen der Kooperation zwischen Gestalter und Maschine aufgezeigt. Da sich bisher noch wenig wissenschaftlichen Annäherungen zu dem Thema finden, sollen im weiteren Verlauf die Erkenntnisse qualitativ mit Branchenexperten untersucht werden.

Als Forschungshypothese soll untersucht werden, dass eine Symbiose zwischen Gestalter und Algorithmus möglich ist. Der Leitfaden, der sich durch die vorliegende Arbeit zieht, ist die Frage, welche Arbeitsschritte kreativer Arbeit tatsächlich an eine Maschine übertragen werden können und wo der Entwurfsprozess so komplex ist, dass er nicht abstrahiert und automatisiert werden kann.

1.2 Relevanz der Fragestellung

Bereits in den 1950er Jahren formulierte Norbert Wiener, der Gründer der Kybernetik, die These, dass das Nervensystem des Menschen vergleichbar mit dem einer Maschine sei und der Mensch auf diese Weise unbewusst einer Maschine gleiche (Wiener, 1967, S. 15). Dass diese Maschine den Menschen bald ersetzen werde, war die logische Konsequenz dieser Auffassung. Seitdem werden viele Stimmen laut, die die Zeitspanne auf nur noch wenige Jahre schätzen, in der sich die künstliche Intelligenz voll und ganz dem Menschen angenähert haben werde und die Grenzen beider verschwänden. Auf der Gegenseite dieses Diskurses gibt es die Auffassung, basierend auf den Forschungen von Klaus Krippendorff, dass Lösungen zu komplexen Problemen nur von einem Menschen gelöst werden können (Boyarski, Butter, Krippendorff, Solomon, & Tomlinson, 1997, S. S. 30f). Die von Menschenhand trivial erschaffene Maschine kann nur selbst Gelerntes und Bestehendes reproduzieren und demzufolge keine Neuerungen erschaffen.

Eingefasst zwischen diesen beiden Meinungspolen soll die Automatisierung, die in die Gestaltung Einzug gehalten hat, erforscht werden. Dass sich die Arbeitswelt mit dem Beginn des Digitalen Zeitalters ständig verändert, erkennt man bereits an den Werkzeugen. Während vor einigen Jahren noch handwerklich am Zeichenbrett gestaltet wurde, verschiebt sich der heutige Gestaltungsprozess ins Digitale. Innerhalb weniger Stunden können neue Produkte mithilfe von Softwareanwendungen skizziert, geformt und getestet werden. Der Arbeitsprozess beschleunigt sich.

1.3 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit ist in drei aufeinander aufbauenden Teilen aufgeteilt. Zunächst gilt es, die bestehenden wissenschaftlichen Termini zu definieren und sie einer eindeutigen Begrifflichkeit zuzuweisen. Definiert werden die elementaren Begriffe des digitalen Gestaltungsprozess basierend auf den Forschungen von Brad Frost, Horst Rittel, Richard Buchanan und Klaus Krippendorff sowie auf der Entwicklung von digitalen Produkten nach Matthias Schrader. Ebenso werden die Ausdrücke maschinelles Lernen und generative Gestaltung im Kontext der Gestaltung näher beleuchtet.

Im zweiten Teil werden, basierend auf einer vorausgegangenen Literaturanalyse, ein Gestaltungsprozess des Designers erarbeitet sowie mögliche Schnittstellen zwischen Kreativarbeit und künstlicher Intelligenz aufgezeigt. Indem aktuelle Gestaltungswerkzeuge vorgestellt werden, die bereits mit maschinellem Lernen arbeiten, wird ein zukünftiger Gestaltungsprozess beschrieben.

Der dritte Teil formt aus den im Vorfeld entwickelten Erkenntnissen eine Synthese aus sechs Hypothesen. Diese Annahmen werden mit Experten aus der Designbranche diskutiert. Dazu wird mittels qualitativer Forschung, basierend auf leitfadengestützten Experteninterviews, die professionelle Haltung von Branchenexperten zu den Erkenntnissen aufgenommen und nach der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet. Zum Abschluss der vorliegenden Arbeit werden die gewonnenen Ergebnisse diskutiert, und es wird ein Ausblick auf die Zukunft des Arbeitsfeldes des Designers gegeben.

2 Theoretische Grundlagen

Im ersten Teil dieser Arbeit werden die gestalterischen Grundlagen beschrieben und eindeutig belegt. Dabei werden zunächst die Fachtermini der digitalen Produktentwicklung festgehalten. Was macht die digitale Produktentwicklung so besonders und worin unterscheidet sie sich von der Entwicklung physischer Produkte? Dazu folgen Antworten zur digitalen Produktentwicklung von Matthias Schrader. Das Vorgehen eines Gestalters wird nach Klaus Krippendorff, Richard Buchanan und Horst Rittel systematisch dargestellt. Im weiteren Verlauf wird das Arbeiten im Kontext der angewandten Agenturarbeit mit Designsystemen nach Brad Frost beschrieben.

2.1 Digitale Produktentwicklung

Die digitale Produktentwicklung fokussiert auf die Gestaltung und die Konzeption von digitalen Services (Luxem, 2001, S.44f.). Dabei kann in der Produktwelt zwischen drei Kategorien unterschieden werden: Zum einen physische Produkte, die für den Nutzer greifbar sind und keine digitale Komponente enthalten. Beispielsweise klassische Industrieprodukte, wie ein Tisch oder ein Stuhl, können als physische Produkte begriffen werden. Die zweite Produktkategorie ergibt sich aus hybriden Produkten. Diese enthalten digitale Informationen und sind in einem physischen Gegenstand verortet. Demgemäß sind eine CD-ROM oder ein Smartphone hybride Produkte, weil sie in Form eines Gegenstandes digitale Informationen enthalten. Als dritte Produktkategorie können rein digitale Produkte identifiziert werden. Diese Art von Produkten, beispielsweise Softwareanwendungen oder Applikationen, sind auf einem hybriden Produkt gespeichert und können, entsprechende Netzwerkressourcen vorausgesetzt, über eine Datenanbindung verschickt und geteilt werden. Ebenso können digitale Produkte in großer Anzahl und ohne hohe Produktionskosten vervielfältigt werden. Dieses Phänomen kann als Long Tail beschrieben werden (Anderson, Bayer, & Schlatterer, 2009, S. 35ff). Eine Abwicklung des Verkaufsprozesses ist über ein Datennetz umzusetzen und für den Nutzer sofort verfügbar. In der vorliegenden Arbeit sollen nur die Gestaltungsarbeiten an digitalen Produkten untersucht werden.

Digitale Produkte sind dabei mehr als eine visuelle Oberfläche. Diese Produkte verbinden Kunden, die ein individuelles und spezifisches Nutzerbedürfnis aufweisen, mit einem entsprechenden Leistungsvorschlag oder Service. Der essentielle Mehrwert basiert auf einer einfachen, direkten Schnittstelle – verbunden über die digitale Infrastruktur und visuelle Oberfläche – zwischen Nutzer und Anbieter. Die Produkte können für den Nutzer kostenfrei sein, jedoch beruht die Produktentwicklung darauf, dass das Produkt einen Mehrwert für den Nutzer hat, der sich monetär beziffern lassen kann (Luxem, 2001).

Matthias Schrader definiert ein erfolgreiches digitales Produkt als einen Service, der den Nutzer langfristig bindet und der ein nachhaltiges Geschäftsmodell aufweist. Nach Schrader können digitale Produkte auch als transformationale Produkte verstanden werden (Schrader, 2017, S. 22), wobei der Begriff sich von ein sich ständig wandelnden Produkts ableitet, da sich den technologischen Veränderungen anpasst.

Transformationale Produkte enthalten drei spezifische Attribute: Zunächst transformiert das Produkt die Nutzererwartung, indem es die Bedürfnisse des Nutzers erkennt und anhand dessen individuellen, ortsgebundenen oder verhaltensabhängigen Bedürfnissen eine entsprechende Lösung oder einen Servicevorschlag anbietet. Zweitens transformiert das Produkt insofern das Nutzerverhalten, als dass der Nutzer die Lösung essentiell in seine Routinehandlung und seinen Alltag einbindet, sodass das Produkt zu seinem Alltagsbegleiter wird. Drittens verändert ein erfolgreiches digitales Produkt die Wertschöpfungskette, sodass etablierte Konkurrenzprodukte um ihren bisherigen Marktanteil fürchten müssen. In diesem Sinne gelingt in der digitalen Produktenwicklung die Transformation eines physischen Produktes in eine Serviceleistung, die auf Software basiert (Schrader, 2017, S. 62f).

Die transformationalen Produkte sind dabei von einem Plattformcharakter geprägt (Layon, 2014, S. 10). Sangeet Paul Choudary beschreibt, dass Plattformen drei verschiedene Bedeutungsebenen besitzen: Zunächst sind sie eine Schnittstelle, über die eine direkte Interaktion mit dem Nutzer aufgebaut werden kann. Unter technologischem Aspekt dienen sie als eine Ebene der Infrastruktur. Außerdem wird die wesentlichste, sinnstiftende Ebene als die Datenebene beschrieben, die die benötigten Services und Wissensinhalte mit dem Nutzer verbindet (Choudary, 2015).

Transformationale Produkte besitzen die maßgebliche Eigenschaft, dass diese nicht aus Sichtweise des Marketings direkt an den Nutzer beworben werden müssen, sondern dass der Nutzer durch einen Lock-in-Effekt an den Service gebunden wird. Der Lock-in-Effekt beschreibt das Phänomen, dass ein Produkt einen essentiellen Wert für den Nutzer besitzt sowie, dass es dem Nutzer mithilfe von Austrittsbarrieren schwer gemacht wird, das Produkt zu wechseln. Somit verbleibt der Nutzer bei seiner bisherigen Lösung (Schrader, 2017, S. 45).

In der Marketingbranche lässt sich aktuell ein Wandel beobachten. Das Vorgehen einer klassischen Marketingstrategie, die erst nach der Gestaltung eines Produktes einen für den Nutzer erkennbaren Sinn oder Erfahrungswert hinzufügt, wird abgelöst. Es tritt eine Dienstleistung hervor, die den Erfahrungswert des Produktes in sich selbst trägt. Es ist nicht mehr relevant, mit welchen Geschichten und Emotionen ein Produkt von Agenturen oder Marketingunternehmen aufgeladen wird. Nur der individuelle Nutzen für den Anwender ist für Bedeutung und Anwendung des Produktes maßgeblich.

Weiterführend beschreibt Klaus Krippendorff in „The Semantic Turn“ die Handlungsfelder eines digitalen Gestalters. Dieser arbeitet an Artefakten, die sich in sechs Trajektionsstufen einteilen lassen: Produkte, Services, Interfaces, Netzwerke, Projekte und Diskurse (Krippendorff, 2005, S. 23).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Trajektionsstufen nach Klaus Krippendorff

Quelle: entnommen aus The Semantic Turn, Krippendorff, 2005, S. 23

Die transformationalen Produkte von Schrader finden sich auf der Trajektionsstufe3, den Interfaces, und auf der Stufe4, den Multiusersystemen und Netzwerken, im Modell von Krippendorff wieder (Krippendorff, 2005, S. 23f).

Krippendorff beschreibt die Gestaltung von Interfaces als eine Arbeit an der Schnittstelle zwischen Nutzer und Technologie. Das Interface ist eine neue Art von Artefakt. Es entsteht eine Mensch-Maschine-Symbiose, weil stets beide Akteure benötigt werden, um funktionieren zu können. Die Schwierigkeit in der Gestaltung liegt im Spezifischen in der Nutzerführung, die so natürlich und mühelos wie möglich stattfinden sollte.

Bei der Gestaltung von Multiusersystemen und Netzwerken, die mit der Produktplattform von Schrader übereinstimmen, geht Krippendorff noch einen Schritt weiter: Im Gegensatz zur Gestaltung eines Interfaces, das auf der Interaktion zwischen einem Nutzer und einem System basiert, muss die Interaktion bei einem Multiusersystem so gestaltet werden, dass alle Teilnehmer die Informationen verstehen und damit interagieren können.

Nachdem im ersten Schritt die Systeme beschrieben worden sind, die ein digitaler Gestalter bearbeitet, werden nun die Probleme identifiziert, die ein Gestalter löst, und die Vorgehensweise dargestellt, nach der er arbeitet.

2.2 Komplexe Probleme in der Gestaltung

Im Mittelpunkt der Arbeit eines Designers steht das systematische Herangehen an Probleme. „Eine Person ist mit einem Problem konfrontiert, wenn sie etwas will und nicht sofort weiß, welche Folge von Aktionen sie durchführen kann, um es zu bekommen“ (Newell, 1972, S. 72), beschreibt Herbert Simon die Herausforderungen, die die Designdisziplin löst.

Seit Horst Rittel ist Design als eine Lösungsdisziplin klassifiziert, die die sogenannten verhexten Probleme löst. Rittel beschreibt verhexte Probleme als heimtückisch (Rittel & Webber, 1973, S. 160), weil sie niemals aufgelöst und nicht durch einen linearen Entscheidungsfindungsprozess bewältigt werden können (Rittel & Webber, 1973, S. 169).

Solche verhexten Probleme besitzen keine endgültige Lösung, sondern die Probleme müssen ständig von Neuem gedacht und gelöst werden. Im Gegensatz zu Fragestellungen, die die Wissenschaft zu lösen versucht, also die eine eindeutige Lösung implizieren und daher in einem strukturierten Lösungsweg münden, besitzen komplexe Probleme keine feststehenden Lösungen. Ferner existiert auch kein festgeschriebener Lösungsweg. Zunächst muss also das Problem beschrieben und in diesem Zuge der Lösungsweg mit angedacht werden. Weil Problemformulierung und Lösungsweg bei komplexen Probleme miteinander einhergehen, also das Problem erst formuliert werden kann, sobald mögliche Lösungswege bereits gedacht worden sind, sind die verhexten Probleme als kontextbezogene Probleme zu verstehen (Rittel & Webber, 1973, S. 161).

Gestalter haben, mithilfe von praxisbezogenen Schlussfolgerungen durch Entwürfe und Prototypen, Lösungswege dazu erarbeitet (Buchanan, 1992, S. 20). Buchanan hat diesbezüglich die Aufgabe des Designers im Folgenden spezifiziert: Indem dieser als Akteur nicht festgelegte (indeterminierte) Probleme mithilfe von Gegenständen beantwortet, verlässt er das geregelte, vorhersagbare System – im Unterschied zur Lösungsfindung eines Wissenschaftlers, der in der Welt der festen Regeln oder Strukturen verhaftet bleibt (Buchanan, 1992, S. 16). Demzufolge kann man die Herangehensweise des Gestalters im Gegensatz zu der eines Wissenschaftlers insofern abgrenzen, als dass laut Buchanan der Gestalter mit einer gewissen Unsicherheit und Unwissenheit an Fragestellungen herangeht. Mit jedem Entwurf, der die Lösung vertieft, werden die Problemstellung spezifiziert sowie das inhärente System definiert, in denen die Fragestellung stattfindet (Buchanan, 1992; Petruschat, 2012).

Geleitet der Annahme, dass ein Entwurf die Antwort auf eine bereits existierende Realität ist, besteht der erste Arbeitsschritt für einen Gestalter darin, die existierenden Annahmen zu hinterfragen. Die gegebene Form und erscheinende Ordnung aufzunehmen und aufzulösen, ist die initiale Maßnahme, um sich von der definierten Gegenwart in eine unsichere Zukunft zu bewegen (Petruschat, 2012, S. 9). In abstrahierter Weise stellen Designer demzufolge in ihrem Wirkungsgrad die vorliegende Ordnung und deren Komplexitätsgrad in Frage (Petruschat, 2012, S. 10).

Die Entwürfe und Prototypen eines Gestalters werden mit virtuell veränderbaren Materialen erstellt, um die bisherigen Strukturen aufzubrechen oder zu hinterfragen. Beispielsweise durch das Fehlen einer dritten Dimension, wie beim Skizzieren auf Papier, und die damit einhergehende Übersteuerung oder Überzeichnung werden mögliche Lösungen abstrahiert. Neue Verortungen oder Hierarchien können in liquiden und virtuellen Medien erprobt werden, beispielsweise durch die Verwendung von Post-its, das Zeichnen an Boards oder in Mindmaps. Ebenso sind Assoziationen oder die Erschaffung neuer Kontext ein großer Bestandteil der Lösungsfindung. „Indem Designer das in Unordnung Gebrachte neu anordnen und zu einem Ganzen machen, werten sie das Zueinander der Elemente ästhetisch“(Petruschat, 2012, S. 12f) beschreibt Petruschat.

Gestaltung kann auch als ständige Stellungnahme beschrieben werden, in der jeder Entwurf als Bewusstwerdung von vielfältigen, technischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren aus der Perspektive des Designers in Form gebracht wird. Die Leistung des Designers liegt in der Entscheidung und der Eingrenzung des Entwurfs in den kontextuellen Bezug. Dieser Prozess kann auch als Framing beschrieben werden. Design reflektiert in diesem Zuge die Rolle des Beobachters nach Wolfgang Jonas (Jonas, 2010, S. 82). Aus diesem Grund wird nicht die Realität beobachtet und modelliert, sondern die Beobachtungen der Realität werden beobachtet und modelliert (Jonas, 2010, S. 172).

2.3 Ganzheitlicher Gestaltungsprozess

In „The Reflective Practitioner“ beschreibt Donald A. Schön die drei Reflexionsphasen, die mit dem Gestaltungsvorgang eines Designers einhergehen, und zeichnet einen ersten zusammenhängenden Gestaltungsprozess auf. Diese Phasen unterteilen sich in:

1. knowing in action = implizites Wissen während der Gestaltung aufbauen
2. reflection in the process = Reflexion innerhalb des Gestaltungsprozesses
3. reflection after the process = Reflexion nach dem Gestaltungsprozess

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Die drei Reflexionsphasen von Donald Schön

Quelle: entnommen aus On Becoming a Critically Reflective Practictioner, M.E.Forrest, 2008, S. 230

Beim Erkennen und Bearbeiten eines Gestaltungsproblems ist eine strategische Herangehensweise, der sogenannte Designprozess, von Bedeutung, der die Reflexionsphasen von Schön beinhaltet. Allgemein spricht man von einem Gestaltungsprozess, wenn die Vorgänge während des Gestaltens beschrieben werden (Jonas, 2010, S. 62). Meist werden mit dem Prozess nur die Aktionen des Handelnden beschrieben, seine Rolle als Akteur innerhalb des Systems wird dabei oftmals ausgelassen.

Im Zuge eines Designprozess haben sich verschiedene Vorgehensmodelle etabliert, die den Gestalter bei seiner Arbeit unterstützen. Die häufigsten Phasenmodelle lassen sich als eine stringente, lineare Abfolge von Abschnitten beschreiben (Hugentobler u.a., 2010, S. 70). Die im Folgenden drei wissenschaftlichen Vorgehensmodelle beschreiben, wie man über verschiedene Prozessschritte anhand eins sequenziellen Vorgehens von einem Problem zu einer Lösung gelangt und haben gemeinsam, dass sie den Prozess auf ein einziges, homogenes Problemlösungsmodell komprimieren.

1. Prozessschritten in der Ausführung bei Rittel (1970)
- Verstehe das Problem
- Sammle Information
- Analysiere die Information
- Kreativer Akt
- Synthese
- Ausführung und Kommunikation der Ergebnisse

2. Klassische Angebotsphasen einer Designagentur
- Informationsphase
- Entwurf
- Umsetzung

3. Gestaltungsvorgehen bei Jonas (Jonas, 1996)
- Analysis
- Projection
- Synthesis

Rittel beschreibt die Suchstrategien als lineare Prozesse. Die Entscheidungen werden anhand von Entscheidungsbäumen dargestellt. Das Filtern der richtigen Alternativen ist essentiell. Es werden Entscheidungsalternativen nicht dadurch getroffen, dass man für sie stimmt, sondern indem man die unerwünschten Ergebnisse abwählt. Hierbei handelt es sich um einen darwinistischen Entscheidungsbaum (Hugentobler u.a., 2010, S. 77), der vergleichbar mit den Entscheidungsbäumen eines Algorithmus ist.

Im Gegensatz zu den Suchstrategien von Rittel ist der klassische Designprozess einer Agentur nach den jeweiligen Projektphase unterteilt. Zunächst gilt es, sich in das Projekt einzuarbeiten, Erkenntnissen aufzusammeln und einen Entwurf zu erarbeiten. Zum Ende wird die entwickelte Idee in die Umsetzung gegeben.

Eine andere, vermehrt auf iterative Prozessschritte herangehende Arbeitsweise ist die Methodenplattform nach Hugentobler, Jonas und Rahe (Jonas, Chow, Bredies, & Vent, 2010), die die verschiedenen Arbeitsschritte in einem größeren System einheitlich erklärt. Dabei gibt es drei verschiedene Phasen der Erkundung und Wissensproduktion. Die reflexive oder zurückschauende, die projizierende oder visionäre sowie die produzierende oder gestaltende Phase. Diese drei Phasen sind an den Lernzyklus von Kolb (Research, Analysis, Synthesis, Realisation) angelehnt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Die sieben möglichen Designstufen nach Hugentobler, Jonas und Rahe

Quelle: Entnommen aus Beyond Dualism in Methodology: An Integrative Design Research Medium „MAPS“ and some Reflections, Jonas, 2005, S. 11

Es geschieht schnell, das beschriebene Vorgehen und der Designprozess als Anleitungsmodell verstanden wird und man diesem chronologisch folgt. Im Gestaltungsprozess trifft das meist jedoch nicht zu, denn im Vordergrund steht ein iteratives Vorgehen. Dabei werden die so aufgezeigten Phasen erst am Projektende rückblickend beschrieben, während in der nach vorn gewandter Planung andere Grundsätze im Vordergrund stehen. Mit Planung ist jene Vorstellung gemeint, die man hat, wenn man eine Aufgabe löst und bearbeitet. Sie variiert im Detailgrad der Phasen: Während Entwicklungsschritte, die in naher Zukunft liegen, sehr detailliert beschrieben werden können, können Handlungsschritte, die von abhängig von Entscheidungen in der nahen Zukunft sind, nur grob umrissen werden.

Innerhalb des Prozesses treten Phasen zeitgleich auf, es werden Ergebnisse verworfen, iterativ betrachtet oder den wechselnden Entwicklungen angepasst. Diese anpassungsfähige und agile Arbeitsweise besticht dadurch, Herausforderungen in kleinen, aber strukturierten Schritten anzugehen. Dementsprechend kann man von vernetzten bzw. zirkulären Modellen ausgehen, die die Arbeitsschritte als System von Elementen und als komplexes Geflecht mehrerer, ineinander verflochtener Vorgehensweisen beschreibt (Hugentobler u.a., 2010, S. 74).

In der vorhergehenden Beschreibung ist die theoretische Entwicklung des Gestaltungsprozesses fundiert. Doch wie können diese Erkenntnisse auf den angewandten Arbeitsprozess des Gestalters transformiert werden? Rian van der Merwe schreibt auf dem Blog elezea.com über seine praktische Erfahrung aus der Agenturwelt (van der Merwe, 2013). Dabei unterteilt er den Arbeitsprozess der Gestalter, den er in der Agentur beobachtet hat, in drei Phasen. Zunächst ergibt sich eine Entdeckungsphase, in der die Bedürfnisse eines Nutzers ergründet werden und in der eine erweiterte Produktstrategie erarbeitet wird. Im nächsten Schritt werden in der Informationsarchitektur die relevanten Schritte für die Planung des neuen Features geplant, um dann im Zeichenprozess verschiedene Lösungsmöglichkeiten für das Problem anzuzeichnen, auszuprobieren und zu experimentieren. Sobald die jeweilige Lösung für eine Herausforderung definiert ist, werden iterativ an einem Prototyp gearbeitet, das visuelle Erscheinungsbild definiert und dann in die Softwareentwicklung übertragen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Designprozess innerhalb von Agenturen

Quelle: entnommen aus An agency workflow for Responsive Web Design, van Merwe, 2013

2.4 Designsystem als Werkzeug

Der digitale Gestaltungsprozess mündet als Arbeitsprodukt des Gestalters in einem greifbaren und digitalen Prototyp: dem Designsystem. Dieses Designsystem, als lebendiges, sich ständig veränderndes und sich anpassendes Produkt ist das Werkzeug und der Arbeitsplatz des digitalen Gestalters. Es versteht sich als zentrale Plattform, die die konzeptionellen und visuellen Inhalte eines digitalen Produkts beinhaltet.

Den im Voraus definierten Arbeitsprozess hat Brad Frost in „Atomic Design“ aufgegriffen und fundamental weiterentwickelt. Laut Frost arbeitet ein digitaler Gestalter in drei aufeinander folgenden Phasen: 1. die Entdeckung des Produktes, 2. die Konzeption der Inhalte, 3. die iterative Weiterentwicklung der Inhalte (Frost, 2015, S. S. 92).

Für Frost ist ein definierter Designprozess vor allem deshalb von Bedeutung, um die Kommunikation und die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team zu fördern. Dabei bezeichnet er das interdisziplinäre Arbeiten als essentiellen Bestandteil der Produktentwicklung. Abbildung5 stellt Frosts Beschreibung dar, dass die Zusammenarbeit zwischen einem User Experience Designer, also dem Gestalter der Nutzererfahrung und der Informationsarchitektur, dem visuellen Gestalter und dem Entwicklerteam Hand in Hand gehen sollte, damit Verständnisprobleme und technische Abhängigkeiten schon im Gestaltungsprozess erkannt und geklärt werden können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Schematische Darstellung eines kollaborativen und interdisziplinärer Arbeitsfluss

Quelle: entnommen aus Brad Frost, Atomic Design, 2016, S. 118

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Aufbau eines Design Systems anhand der Atomic Design Struktur

Quelle: entnommen aus Atomic Design, Frost, 2016, S. 42

Dabei prägt Frost mit dem Begriff Designsystem das systematische Arbeiten an einem digitalen Produkt. Die einzelnen Bestandteile eines Designsystems werden in Komponenten unterteilt. Diese beschreiben die einzelnen Funktionen eines Produktes und sind modular aufgebaut. In diesem Sinne werden die verschiedenen Elemente des Designsystems als molekulare Bestandteile beschrieben und unterteilen sich in Atome, Moleküle, Organismen, Templates und Pages (vgl. Abbildung6; (Frost, 2015, S. 11). Mit dem Vergleich aus der Chemie hat Frost ein systematisches Verzeichnis geschaffen, das die einzelnen Elemente eines transformationalen Produktes bezeichnet. Atome beinhalten die kleinsten Elemente des Designsystems, die aus Standard-HTML-Elementen bestehen; dies sind beispielsweise Icons, Inputfelder, Buttons oder Labels, die in sich konsistent sind. Als Atom wird als jedes Element bezeichnet, das in nicht noch weitere, strukturelle Einzelteile zerlegt werden kann. In der nächsten Kategorie finden sich Moleküle, die mehrere Atome verknüpfen und dadurch ein komplexeres Element bilden. Beispielsweise sind Kombinationen von Textfeldern und Icons ein Molekül. Mehrere Moleküle bilden zusammen ein verknüpftes, größeres Wesen: den Organismus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Designkomponenten kategorisiert am Beispiel von Instagram

Quelle: entnommen aus Atomic Design, Frost, 2016, S. 60

Der große Vorteil in der digitalen Entwicklung von einzelnen Komponenten besteht darin, dass diese nach den verschiedenen Entwicklungsständen verändert werden können, für sich selbst stehen und auf diese Weise auch einfacher verbessert oder ausgewechselt werden können. Da aktuell immer mehr Geräte mit unterschiedlichen digitalen Oberflächen und Bildschirmgrößen, wie Laptops, Mobiltelefone oder Fernseher, auf den Markt kommen, müssen sich digitale Produkte an die Bildschirmgröße des jeweiligen Gerätes anpassen. Deshalb sind komponentenbasierte, digitale Produkte, die auf einem Designsystem beruhen, klar im Vorteil, weil sich diese schnell an technische Veränderungen auf dem Markt anpassen können. Aus diesem Grund ist der Ruf nach einer systematischen Gestaltung relevant (Frost, 2015, S. 92).

Da sich ein Designsystem an die komplexen Problemstellungen eines Gestalters schnell anpassen kann und die einzelnen Komponenten sich iterativ und für sich stehend bearbeiten lassen, betont Frost die Bedeutung eines Designsystems für eine nachhaltige Produktentwicklung. Ein System, das sich aus einzelnen Komponenten und Elemente eines transformationalen Produktes klassifiziert, wächst und lässt sich auf technologische Veränderungen schnell und effektiv anpassen (Frost, 2015, S. 57). Mit der Aussage „As an industry, we sell websites like paintings. Instead, we should be selling beautiful and easy access to content, agnostic of device, screen size, or context” vertritt Dan Mall die Notwendigkeit einen Designsystems als Werkzeug in der digitalen Designbranche (vgl. Frost, 2015, S. 111).

Nachdem in der Entwurfsphase das Designkonzept fixiert wurde, überträgt das Team die entstandenen Komponenten in ein Designsystem und beginnt damit, das entwickelte Konzept zu testen, was auch als Rapid Prototyping bezeichnet wird. Obwohl die Unsicherheit im Gestaltungsprozess noch vorherrscht, Idee und Lösung noch fragil sind, wird in der reflektierenden Phase das Gedankenkonzept überprüft. Es besteht die Möglichkeit, das Konzept vollkommen zu verwerfen und in eine andere Richtung weiterzuentwickeln (vgl. Skolos & Wedell, 2012, S. 24)

Zusammenfassend beschrieben, arbeiten Gestalter an verhexten Problemen, für die es keine eindeutige Lösung gibt, sondern die nur kontextuell gelöst werden können. Deshalb sind Prototypen ein bewährtes Hilfsmittel, um iterativ an den Fragenstellungen zu wachsen und ein Bewusstsein für mögliche Lösungen zu entwickeln. Besonders in der digitalen Entwicklung, wo sich Produktlösungen und Geräte ständig verändern, ist das Designsystem des Gestalters ein zentrales Arbeitsmittel. In diesem Designsystem sind die Komponenten des digitalen Produktes enthalten, und die Aufgabe des Gestalters besteht darin, aus dem konzeptuellen Prototypen neue Komponenten in das bestehende Designsystem zu gießen. Aus diesem Grund handelt es sich um ein Arbeiten mit abstrahiertem Material, um die Herausforderungen und verhexten Probleme der Gestaltung zu lösen.

3 Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine

Nachdem in Kapitel 2 die Gestaltungsarbeit theoretisch und konstruktivistisch betrachtet wurde, werden im nächsten Schritt die technischen Einzugsfelder untersucht. Zunächst werden die bisherigen technischen Definitionen von künstlicher Intelligenz, des maschinellen Lernens sowie der generativen Gestaltung beschrieben, um daraufhin eine systematische Zusammenarbeit zwischen Algorithmus und Gestalter beschreiben zu können. Basierend auf diesen Betrachtungen werden Hypothesen entwickelt, wie eine Zusammenarbeit zwischen dem auf festen Entscheidungsprozessen basierenden Algorithmus und dem Gestalter angedacht werden kann.

3.1 Verortung der künstlichen Intelligenz

In diesem Kapitel sollen die zukünftigen, technologischen Komponenten beschrieben werden, die Einfluss auf einen Gestaltungsprozess haben können. Dabei gilt es zunächst, das Themenfeld künstliche Intelligenz einzugrenzen. Da der Fachbegriff künstliche Intelligenz ein breit gefächerter Begriff ist und von verschiedenen Wissenschaften unterschiedlich definiert wird, sollen der Begriff künstliche Intelligenz eingegrenzt und dann im Spezifischen das maschinelle Lernen definiert werden. Maschinelles Lernen versteht sich dabei als eine Unterkategorie in dem Forschungsfeld der künstlichen Intelligenz.

Jennifer Sukis geht davon aus, dass es die Aufgabe der künstlichen Intelligenz sei, Computersystemen menschliche Fähigkeiten beizubringen. Dazu werden menschliche Fähigkeiten benötigt, die wir als intelligent bezeichnen, wie visuelle Erkenntnis, Sprachverständnis, Entscheidungsfindungen oder Sprachübersetzungen. Die Fundamente für die Erforschung von künstlicher Intelligenz liegen in der Mathematik, Logik, Philosophie, Statistik, Linguistik sowie den Neurowissenschaften (vgl. Sukis & Lawrence, 2018).

3.1.1 Machine Learning

Maschine Learning (ML) ist die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, dass Computer mithilfe von Daten Muster und deren Beziehung zueinander erkennen, ohne dass diese Informationen manuell programmiert werden müssen. Dieses Verfahren ist ein bedeutendes Werkzeug und findet bei autonom fahrenden Autos sowie bei personalisierten und dynamischen Nutzererfahrungen Anwendung. Beispielsweise fundieren die personalisierten Empfehlungen von Netflix auf maschinellem Lernen (vgl. Holbrook, 2017).

Hebron hat zwei technische Arten definiert, wie aus Daten Muster erhoben werden können: mit dem deduktiven und dem induktiven Verfahren. Beim deduktiven Verfahren bildet eine Theorie zunächst das Fundament, von der Hypothesen abgeleitet werden. Diese Hypothesen werden im darauffolgenden Schritt durch Beobachtungen bestätigt. Induktive Verfahren erarbeiten Theorien basierend auf Daten. Die Daten werden durch einen Algorithmus zunächst zu Mustern zusammengefasst. Die Muster lassen sich danach als Hypothesen abstrahieren und bilden eine Theorie (vgl. Hebron, 2016, S. 7f).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 8: Deduktives und induktives Verfahren

Quelle: entnommen aus Machine Learning for designers, Hebron, 2016, S. 8

Maschinelles Lernen geht nach dem induktiven Prozess vor. Erst wird aus einer Datenmenge ein Teil der Datenmenge extrahiert, um dann aus diesem spezifischen Datenset ein Trainingsset zusammenzustellen. Dieses Trainingsset wird auf weiteren Datenmengen eingesetzt und trainiert das regelbasierte Erkennen. Durch weitere Trainingsverläufe wird das System verbessert. Das entwickelte Regelsystem definiert sich dann als Algorithmus. Dieser Algorithmus kann nun auf ein fremdes Datenset angewendet werden, sodass er durch das antrainierte Verhalten die gleichen Beziehungen aus dem Datenset erkennen kann. Der Vorteil von maschinellem Lernen ist es, dass es, basierend auf der generischen Synthese von existierenden Daten, eine Vorhersage für zukünftig feststehende Daten erzielen kann. Die Prämisse ist jedoch, dass keine außersystemischen Veränderungen in diesem System vorkommen dürfen, es muss eine vorhersehbare Weiterführung bestehen beschreibt Hebron (vgl. Hebron, 2016, S. 10f).

Die vorhersagbare Entscheidungsfindung von Machine Learning lässt sich deutlich von der Arbeit eines digitalen Gestalters und dessen Lösungsfindung unterscheiden, weil ein Designer wie in Kapitel 2.2 dargestellt, mit unvorhersehbaren Ereignissen arbeitet und die Lösung sowie die Problemstellung sich variabel zueinander verhalten oder sich ständig verändern. Im Gestaltungsprozess eines Designers entstehen jedoch durchaus Phasen mit einer hohen Informationsflut und großen Datenmengen, beispielsweise bei der Recherche, die unstrukturiert auf den Gestalter einfließen. Maschinelles Lernen kann als Unterstützung diese Daten zu Beginn strukturieren (vgl. Hebron, 2016, S. 13).

Ferner existieren drei verschiedene Arten von maschinellem Lernen, die folgendermaßen definiert werden: Zunächst besteht die Möglichkeit des überwachten Lernens, indem der Algorithmus mit einem bereits im Vorfeld klassifizierten Datenset arbeitet. Außerdem gibt es die Möglichkeit des unbewachten Lernens, indem der Algorithmus mit einem unbekannten Datenset trainiert wird. In einem forcierten Lernen wird der Algorithmus ohne Datenset trainiert, indem diesem die Auswahlkriterien beschrieben werden (Sukis & Lawrence, 2018).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 9: Arten von Machine Learning

Quelle: entnommen aus An intro to Machine Learning for designers, Drozdov

Im Gegensatz zum Stand der bisherigen technischen Softwareentwicklung, in der Befehle und das Verhalten einer Maschine manuell programmiert werden, unterscheidet sich das maschinelle Lernen davon immens. Die klassische Softwareentwicklung funktioniert nach Regeln des If-Statements, was bedeutet, dass das Verhalten des Programms voraussagbar, wiederholbar und prüfbar ist. Maschinelles Lernen funktioniert nach einer anderen Lernweise, indem es Verhaltensregeln oder Muster aus einem Set von unstrukturierten Daten erkennt und diese Regeln abstrahiert darstellt (Sukis & Lawrence, 2018). Aus diesem Grund kann maschinelles Lernen auch komplexe Aufgaben bewältigen.

3.1.2 Generative Gestaltung

Im diesem Unterkapitel soll die generative Gestaltung vorgestellt werden. Innerhalb der generativen Gestaltungen findet Design nicht mehr manuell durch einen Gestalter statt, sondern ein Algorithmus übernimmt diese Aufgaben für den Gestalter. Dadurch entsteht eine erste Form der Kooperation zwischen Gestalter und Algorithmus. Durch ein iteratives und sich wiederholendes Anwenden von einfachen Gestaltungsmitteln lässt sich ein komplexes und kohärentes Muster generieren (vgl. Groß, Bohnacker, Laub, & Lazzeroni, 2009, S. 14).

Dabei ist die Verwendung für das Werkzeug der generativen Gestaltung nicht nur dazu da, um die menschlichen Fähigkeiten zu verbessern, sondern auch, um den Fluss der Kreativität anzureichern (vgl. Galanter, 2003, S. 8).

Der Arbeitsfluss in der generativen Gestaltung zeichnet sich dadurch aus, dass der Gestalter nur noch als Entscheider und als leitgebende Person Parameter und Regeln festlegt und die Ergebnisse und Entwürfe bewertet und betrachtet. Die Ausführung der Arbeit und das Gestalten an sich werden von der Maschine übernommen und bewertet, wodurch eine Kooperation zwischen Gestalter und Algorithmus entsteht (vgl. Groß, Bohnacker, Laub, & Lazzeroni, 2018, S. 12).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 10: Kooperation zwischen Algorithmus und Gestalter

Quelle: entnommen aus Generative Gestaltung, Groß, 2009

Das entstandene System lässt sich als ein komplexes System definieren. Komplexe Systeme finden sich in vielen Naturformen wieder, beispielsweise im Gehirn, im Wetter oder in der Entwicklung eines Ökosystem. Dort besteht kein Kontrollmechanismus, und eine Vorhersage über zukünftiges Verhalten kann nur schwer getroffen werden. Jedes dieser Systeme besteht aus vielen Komponenten, beispielsweise aus Zellen, Chromosomen oder Bürgern, die mit anderen nahegelegenen Komponenten interagieren und ein zusammenhängendes Muster oder eine Einheit bilden, ohne dabei zentral kontrolliert zu werden oder ohne, dass das Verhalten im Vorfeld geplant wird. Die Veränderungen in komplexen Systemen verlaufen oftmals unvorhersehbar, sodass sie wie ein Zufall erscheinen.

Eine Ameisenkolonie lässt sich beispielsweise als komplexes System definieren. Bisher ging man davon aus, dass Ameisen mit der Königin als Anführerin einer klassischen hierarchischen Organisation folgten. Dem ist jedoch nicht so. In den 1970er Jahren fanden Forscher heraus, dass keine zentralisierte Führung oder Operation die Ameisen antreibt, sondern dass dies eine große Anzahl an Mikrointeraktionen zwischen den einzelnen Akteuren bewirkt. Deshalb ist es von Bedeutung, zu verstehen, dass chaotische Systeme keine zufälligen Systeme sind, sondern in sich eine Struktur besitzen, auch wenn diese schwer vorherzusehen ist und sich von reinen zufälligen Systemen unterscheidet (vgl. Galanter, 2003, S. 6).

Das Beispiel eines komplexen Systems mit der Interaktion wie bei Ameisen kann auch auf die verhexten Probleme eines Gestalters übertragen werden. Dabei ist die Interaktion einzelner Entwürfe oder Gestaltungskomponenten immer voneinander abhängig und kann im Vorfeld nicht global geplant werden (vgl. Galanter, 2003, S. 5).

Die Veränderungen, die mit dem technologischen Einfluss der generativen Gestaltung einhergehen sind dabei klar ersichtlich: Ein veränderte Entwurfsprozess in etabliert sich, sodass der handwerkliche Aspekt in der Gestaltung in den Hintergrund rückt. Dafür werden Abstraktion und Information zum hauptsächlichen Element des Gestalters (vgl. Groß u.a., 2018, S. 244).

Nach der Beschreibung des Funktionsfeldes innerhalb generativer Gestaltung stellt sich die Frage, wie die Zusammenarbeit zwischen Gestalter und den technologischen Ausprägungen des maschinellen Lernens und der generativen Gestaltung sich etablieren lässt.

3.2 Arbeitsfelder eines Algorithmus

Zunächst sollen existierende technische Hilfsmittel aufgezählt und unter der Definition des maschinellen Lernens oder der generativen Gestaltung als eine neue Form des Arbeitsprozesses dargestellt werden. Dabei lassen sich Kooperationsformen eines Algorithmus in drei Kategorien unterteilen: der Algorithmus als Nachmacher, als Unterstützter und als eigenständiger Gestalter.

In der ersten Kooperationsform ist der Algorithmus ein Nachmacher menschlicher Fähigkeiten und imitiert existierende Entwürfe oder Entwicklungsschritte in abstrakter oder abgewandelter Form. Die folgende Entwicklungsstufe beschreibt die kollaborative Form, in der der Algorithmus zum Unterstützer des Gestalters und die Arbeitsweise durch Vereinfachung und Iteration erleichtert wird. In der dritten Entwicklungsstufe fungiert der Algorithmus als eigenständiger Gestalter und entwickelt innerhalb eines eigenes Iterationszyklus eigenständige Entwürfe.

3.2.1 Algorithmus als Nachmacher

Innerhalb des maschinellen Lernens als Nachmacher von menschlichen Fähigkeiten wird die Zusammenarbeitsform soweit systematisch imitiert, sodass bisherige existierende, menschliche Erkenntnisse vom maschinellen Lernen erkannt und abstrahiert dargestellt werden.

Das Tool Quick, Draw!, das im November 2016 aus dem Google Creative Lab London entstanden ist, ist beispielsweise eine solche technische Möglichkeit. Mithilfe dessen können, aufsetzend auf einem bisher trainierten Datenset, Zeichnungen erkannt werden. Zu diesem Zweck zeichnet ein Benutzer einen ihm vorgegebenen Gegenstand frei ab, wozu ihm ein Zeitfenster vor 20 Sekunden zur Verfügung steht. Innerhalb dieses Zeitfensters werden das zusammenhängende gezeichnete Strichen mit den bereits im Datenset angelegten Zeichnungen verglichen, und ein Algorithmus versucht, die aktuelle Zeichnung mit vergangenen Daten abzugleichen. Bei einem erfolgreichen Vergleich kann der Algorithmus die Zeichnung erkennen und benennen.

Aufbauend auf dieser Funktionalität, sowie dem gleichen Datenset existiert ein weiteres Werkzeug: Cartoonify. Diese Softwareanwendung funktioniert nach dem Prinzip, dass man ein Bild auf die Plattform Cartoonify hochladen kann. Im nächsten Schritt werden die Elemente auf dem Bild mithilfe eines neuronalen Netzes mit dem Datenset von Quick, Draw! verglichen. Wenn innerhalb des Bildes ein Objekt erfolgreich aus dem Datenset erkannt wird, abstrahiert die Softwareanwendung das Bild in eine einfache Strichzeichnung, die einem Comic ähnelt.

Diese beiden, auf einem Algorithmus basierenden Softwareanwendungen beschreiben die erste Stufe der Interaktion zwischen Gestalter und Algorithmus. Dabei wird ein existierendes Gemälde oder eine bereits entstanden Fotografie mithilfe des maschinellen Lernens abstrahiert und in einer neuen, veränderten Form dargestellt.

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Ende der Leseprobe aus 176 Seiten

Details

Titel
Künstliche Intelligenz als neue Dimension in der Gestaltung
Hochschule
Universität der Künste Berlin  (Institut für Weiterbildung)
Veranstaltung
Leadership in digitaler Kommunikation
Note
1,1
Autor
Jahr
2019
Seiten
176
Katalognummer
V491305
ISBN (eBook)
9783668982017
ISBN (Buch)
9783668982024
Sprache
Deutsch
Schlagworte
künstliche intelligenz, digitales design, digitaler designprozess, artificial intelligence, human machine interaction
Arbeit zitieren
Veronika Winkler (Autor:in), 2019, Künstliche Intelligenz als neue Dimension in der Gestaltung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/491305

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