Mignon - Geschöpf des 'Sturm und Drang' - Erfüllung von Werthers Erlösungswunsch


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

24 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung

2. Mignon – das geheimnisvolle Wesen

3. Mignon – Attributzuschreibung
3.1 Hermaphroditismus
3.2 Animalisierung
3.3 Zitherspiel und Gesang
3.4 Epiphanie und Liebesreligion

4. Mignon – Symbol einer unüberwindbaren Lebensstufe Leidenschaft ohne Ende

5. Mignon – Geschöpf des `Sturm und Drang´
5.1 Das Herz als bestimmende Instanz
5.2 Erfüllung von Werthers Erlösungswunsch
5.3 Abschied von der Naturpoesie

6. Résumé

7. Sigelliste

8. Literatur

9. Internet

10. Abbildungsverzeichnis

Erklärung

1. Einleitung

Schiller schrieb am 28. Juni 1796 an Goethe: „Aus der Masse der Eindrücke, die ich empfangen, ragt mir in diesem Augenblick Mignons Bild am stärksten hervor. Ob die so stark interessirte Empfindung hier noch mehr fordert, als ihr gegeben worden, weiß ich jetzt noch nicht zu sagen. Es könnte auch zufällig sein, denn beim Aufschlagen des Manuscripts fiel mein Blick zuerst auf das Lied, und dieß bewegte mich so tief, daß ich den Eindruck nachher nicht mehr auslöschen konnte“[1]. Und am 23. Oktober 1796 ergänzte er: „Mignon wird wahrscheinlich bei jedem ersten und auch zweiten Lesen die tiefste Furche zurücklassen“[2]. Dieser Eindruck wurde von vielen zeitgenössischen und auch späteren Kritikern des „Wilhelm Meister“ geteilt.

Wie kann diese tiefe Furche in Worte gefasst werden? Worin liegt der Zauber, den Mignon auf Schiller und unzählige weitere Leser ausübte? Mignon wirbelt durch den Roman und ist tatsächlich schwer zu fassen. Dennoch ist es sicherlich möglich, sich über Attributzuschreibungen der Figur Mignon zu nähern und eine Interpretation auf die wesentlichen Eigenschaften der Mignon zu stützen. Nach der Attributzuschreibung wird sich die Möglichkeit ergeben, Mignon als Symbol des „Sturm und Drang“ zu deuten, bzw. in ihr nicht nur wichtige romantische Wesenszüge zu erkennen – wie es bereits viele Interpreten behaupteten –, sondern sie eindeutig als Relikt des „Sturm und Drang“ zu sehen.

Dabei darf man natürlich nicht vergessen, dass eine solche Analyse in einer langen Tradition steht. Über Mignon ist viel geschrieben worden, und die Interpretationen der letzten einhundert Jahre könnten unterschiedlicher kaum sein. Viele widmeten sich einzelnen Merkmalen der Mignon und konnten für das Ganze wenig bewirken. Die vorliegende Arbeit nimmt stets auf die lange Tradition der Mignon-Forschung Bezug, die für die Zielsetzung dieser Arbeit interessanten Aspekte der verschiedenen Aufsätze und Bücher werden zusammengetragen und der hier zu Grunde liegenden Fragestellung zugeordnet.

Zum Schluss soll die Frage beantwortet werden, ob Mignon als Teil des „Sturm und Drang“ in den „Lehrjahren“ direkten Bezug auf die „Leiden des jungen Werther“ nimmt. Die Frage ist, ob Mignon die Werther-Thematik nicht nur aufnimmt, sondern sie sogar weiterentwickelt. Die These ist, dass in Mignon der Erlösungswunsch von Werther noch einmal Gestalt annimmt. An Mignon erfüllt sich, was für Werther Verheißung bleibt.

2. Mignon – das geheimnisvolle Wesen

Mignon, die Tochter einer sündhaften Geschwisterehe, wurde von ihren Eltern „zu guten Leuten unten am See“[3] gegeben und somit früh von ihren Eltern allein gelassen. Von dort von einer Gruppe wandernder Seiltänzer und Akrobaten entführt, finden Wilhelm Meister und seine Theatergruppe sie in einer kleinen deutschen Stadt. Wilhelm Meister ist sogleich von ihr fasziniert und kauft sie dem Anführer der Seiltänzer ab[4]. Das Alter Mignons bleibt unbekannt[5], es wird nur geschätzt: „Er [Wilhelm Meister; d.V.] schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre; ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen stärkern Wuchs versprachen oder einen zurückgehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend; ihre Stirne geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich schön, und der Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schien, und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre bräunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen“[6]. Mignon spricht nur gebrochen Deutsch; ihr Wortschatz enthält viele italienische und französische Wörter. Mignons Ausdrucksmittel ist ihr Körper, das Tanzen[7]. Dorothea Flashar urteilte daher 1929: „Mignon ist ein geheimnisvoll in sich verschlossenes Wesen, fremd den Forderungen der Welt gegenüber, nur der Stimme ihres Herzens gehorchend“[8]. Gleichzeitig ist Mignon die einzige „unter den Figuren des Romans, die Wilhelm eine immer gleiche, zuverlässige, uneigennützige Liebe entgegenbringt“[9].

Die geheimnisvolle Verschlossenheit Mignons führte in den letzten über 100 Jahren – wie in der Einleitung bereits erwähnt – zu widersprüchlichen Interpretationen. Mignon wurde auf authentische Personen wie die Seiltänzerin Petronella zurückgeführt, die „1764 in Göttingen in einer Seiltänzergruppe [auftrat; d.V.]. Sie litt offensichtlich unter einem brutalen Peiniger, Caratta, tanzte nur widerwillig und hatte so ein bescheidenes und zurückhaltendes Benehmen, dass sich das Gerücht verbreitete, sie sei ein vornehmes, ihren Eltern geraubtes Kind“[10]. Andere Interpreten sahen in Katharina Zimmermann, einer Arzttochter, oder der Sängerin Elisabeth Schmeling, die erst als erwachsene Frau schreiben lernte und deren einzige Ausdrucksmittel das Zitherspiel und der Gesang waren, reale Vorbilder der Mignonfigur[11].

Man suchte nach literarischen Einflüssen[12], man diskutierte das „Pathologische“ in Mignons Verhalten vom medizinischen Standpunkt aus: Gustav Cohen suchte nach Hinweisen auf „geistige Minderwertigkeit oder den angeborenen Schwachsinn“[13] in Mignons Verhalten. Psychoanalytisch ausgerichtete Arbeiten fragten nach der Beziehung Mignons zu Wilhelms oder gar Goethes seelischen und partnerschaftlichen Problemen.

Während Mignon und der Harfner von Kritikern im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert als Schlüsselfiguren des Romans gesehen wurden[14], gerät in der neueren Forschung „insbesondere Mignon buchstäblich unter die Räder“[15]. Dem zarten Geschöpf werde – so Erwin Seitz – „eine Zentnerlast von negativen Attributen aufgehalst“[16].

3. Mignon - Attributzuschreibung

Mignon ist gerade wegen der widersprüchlichen Interpretationen stets geheimnisvoll geblieben. Um sich der Figur Mignon zu nähern, erscheint es sinnvoll, die ihr zugewiesenen und zuzuweisenden Attribute in eine klare Systematik zu bringen und anschließend zu überlegen, welche Schlüsse aus diesen Attributen zu ziehen sind.

3.1. Hermaphroditismus

Das am deutlichsten hervortretende Merkmal Mignons ist ihr Geschlecht. Mignon entzieht sich der Einordnung nicht nur im Hinblick auf ihre Ausdrucksweise, sondern auch im Hinblick auf die Muster und Normen des Geschlechts. Der Name Mignon ist bekanntlich männlich, und es ist wohl nicht unbedeutend, dass Goethe in seinem Manuskript und noch in der ersten Ausgabe von 1795 Mignon als Knaben darstellt[17]. In der „Theatralischen Sendung“ wechselt Goethe häufig zwischen „er“ und „sie“, wenn er von Mignon spricht. Auch in der endgültigen Fassung von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ behält Goethe an zwei Stellen das männliche Geschlecht bei[18].

Wilhelm Meister ist sich bei seiner ersten Begegnung mit Mignon nicht sicher, ob er ein Mädchen oder einen Jungen erblickt: „[Wilhelm Meister; d.V.] [...] konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder ein Mädchen erklären sollte“[19]. Wilhelm Meister entscheidet sich schließlich für das letztere. Auch für die anderen Figuren des Romans erscheint sie als Mädchen: Aurelie möchte Mignon weiblich kleiden, aber Mignon selbst erklärt, als Melina Wilhelm den gleichen Vorschlag macht: „Ich bin ein Knabe, ich will kein Mädchen sein“[20].

[...]


[1] Goethe-HA, Briefe an Goethe in zwei Bänden, Bd. 1, S. 229.

[2] Goethe-GA, Bd. 20, S. 261.

[3] Goethe-HA, Bd. 7, S. 587.

[4] Vgl. Goethe-HA, Bd. 7, S. 104/105: „[...] wegen des Kindes [...], das unserm Freunde für dreißig Taler überlassen wurde, gegen welche der schwarzbärtige heftige Italiener seine Ansprüche völlig abtrat [...]“.

[5] Vgl. Goethe-HA, Bd. 7, S. 98: „`Wie nennst du dich?´, fragte er [Wilhelm Meister; d.V.]. - `Sie heißen mich Mignon.´ - `Wie viel Jahre hast du?´ - `Es hat sie niemand gezählt.´ - `Wer war dein Vater?´ - `Der große Teufel ist tot.´“ Anmerkung: Der große Teufel war der Bruder des Mignon peinigenden Seiltänzers und nicht ihr leiblicher Vater, als den Mignon ihn offenbar erkannte. Vgl. Goethe-HA, Bd. 7, S. 105.

[6] Goethe-HA, Bd. 7, S. 98-99.

[7] Vgl. dazu die Beschreibung des Eiertanzes; Goethe-HA, Bd. 7, S. 116: „Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm zeigte sie sich.“

[8] Flashar (1929): S. 18.

[9] Flashar (1929): S. 21.

[10] Flashar (1929): S. 6.

[11] Vgl. Flashar (1929): S. 7/ 8.

[12] Vgl. Flashar (1929): S. 12 ff. / „Die Möglichkeit einer Geschwisterehe taucht in Wielands `Don Sylvio von Rosalva´ und in seinem `Agathon´ auf. [...] Goethes unmittelbares Vorbild scheint Gellerts `Schwedische Gräfin´ gewesen zu sein.“ Flashar (1929): S. 13.

[13] Cohen (1920): S. 147.

[14] Eine gute Übersicht über die verschiedenen Interpretationen bietet Lienhard (1978): S. 7-18.

[15] Seitz (1996): S. 122.

[16] Ebenda.

[17] Vgl. Cohen (1920): S. 137.

[18] Vgl. Cohen (1920): S. 138.

[19] Goethe-HA, Bd. 7, S. 91.

[20] Goethe-HA, Bd. 7, S. 207.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Mignon - Geschöpf des 'Sturm und Drang' - Erfüllung von Werthers Erlösungswunsch
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Insitut für Neuere Dt. Literatur und Medien)
Veranstaltung
Hauptseminar: Goethes Romane
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
24
Katalognummer
V49102
ISBN (eBook)
9783638456333
Dateigröße
948 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mignon, Geschöpf, Sturm, Drang, Erfüllung, Werthers, Erlösungswunsch, Hauptseminar, Goethes, Romane
Arbeit zitieren
Thorsten Schulte (Autor:in), 2004, Mignon - Geschöpf des 'Sturm und Drang' - Erfüllung von Werthers Erlösungswunsch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49102

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