Ostdeutschland 1989/90. Eine Revolution?

Klärung des Revolutionsbegriff anhand dreier Theorien


Hausarbeit, 2019

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historische Soziologie
2.1. Wieso gibt es die historische Soziologie?

3. Der Revolutionsbegriff
3.1. Was versteht man unter einer Revolution?
3.1.1. allgemeine Definitionen
3.1.2. Tilly und die Revolution
3.1.3. Arendt und die Revolution
3.1.4. Skocpol und die Revolution

4. Die Situation 1989/90 in Ostdeutschland
4.1. Semantik
4.2. Verlauf der Umbrüche 1989/90 in Ostdeutschland
4.2.1. Vorgeschichte bis 1989
4.2.2. Von der Ausreiswelle bis zur Wiedervereinigung
4.3. Revolution oder nicht?
4.3.1. Waren die Umbrüche 1989/90 für Arendt eine Revolution?
4.3.2. Waren die Umbrüche 1989/90 für Skocpol eine Revolution?
4.3.3. Waren die Umbrüche 1989/90 für Tilly eine Revolution?

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mode-Revolution, Technik-Revolution, industrielle Revolution, usw. - nicht viele Wörter schaffen eine derart inflationäre Benutzung im Sprachgebrauch, wie „Revolution“. Für viele ist es ein Synonym für Wandel und Veränderung, nur wenige benutzen es im historischen Sinn für eine totalitäre Umwälzung bestehender Strukturen. Assoziationen sind dabei oft die Französische oder Englische Revolution, aber vor allem auch für den in Plauen geboren und aufgewachsenen Autor die Umbrüche in Ostdeutschland 1989/90. Denkt man an die ersten Proteste gegen das DDR-Regime im Jahr 1989, so wird häufig Leipzig als erste Stadt genannt, in der am 9.10. Massendemonstrationen stattfanden. Nur wenige wissen, dass bereits zwei Tage vorher in Plauen Bürger gemeinsam auf die Straße gingen. Auch wenn die Situation zu eskalieren drohte, da Polizisten mit Wasserwerfern erschienen, blieb es am 7.10.1989 weitgehend friedlich. Für dieses Engagement bekam die Stadt Plauen zum Tag der deutschen Einheit 2011 von der Bundeszentrale für politische Bildung einen Sonderpreis. In der Pressemitteilung begründeten sie ihre Entscheidung so: „Mit dem Sonderpreis der Jury für die Stadt Plauen will die Jury an die Zivilcourage der dortigen Bevölkerung erinnern, die sich am 7. Oktober 1989, dem Nationalfeiertag der DDR, von Stasi, Volkspolizei und Wasserwerfern nicht daran hindern ließ, für ein Ende der SED-Diktatur zu demonstrieren. In der öffentlichen Wahrnehmung standen die Plauener im Schatten von Leipzig und Berlin, aber sie markierten den Wende-Punkt im dramatischen Revolutionsherbst von 1989.“ (Bundeszentrale für politische Bildung, 2011) Auf Grund dieser fehlenden Gewalt werden die Umbrüche häufig als friedliche oder demokratische Revolution bezeichnet. Doch kann man dann überhaupt noch von einer „echten“ Revolution sprechen? Und welche anderen Faktoren sprechen noch gegen oder für die Benutzung des Revolutionsbegriffs?

Um diese Frage beantworten zu können, wird zunächst die historische Soziologie erklärt. Vor allem die sogenannte zweite Welle dieser Subdisziplin beschäftigte sich in den 1980er Jahren intensiv mit dem Revolutionsbegriff. Zwei Mitglieder dieser Phase waren Theda Skocpol und Charles Tilly, von denen die Revolutionstheorie näher betrachtet wird. Als Ergänzung folgt die der politischen Theoretikerin Hannah Arendt. Weiterhin wird zunächst der historische Verlauf der Umbrüche näher dargestellt, auf die unterschiedlichen Bezeichnungsmöglichkeiten der Situationen eingegangen und zuletzt mit den drei Theorien verglichen.

Dass die Umbrüche in Ostdeutschland erst vor 30 Jahren waren, hat Vor- und Nachteile. Zum einen wurde das Thema in den letzten Jahren sehr intensiv und breit behandelt, jedoch fehlt eine historische Distanz, die es uns nicht erlaubt objektiv die Ergebnisse zu betrachten, da wir uns wahrscheinlich in diesem Moment noch darin befinden. Ziel der dieser Hausarbeit ist es, zu klären, ob die Ereignisse 1989/90 in Ostdeutschland eine Revolution waren. Deswegen wird im Verlauf zunächst von Umbrüchen gesprochen, bis man zuletzt im Klaren über die Benennung ist. Unter Umbruch versteht man laut Duden eine „grundlegende Änderung, Umwandlung, besonders im politischen Bereich.“ (Bibliographisches Institut GmbH, 2019), sodass diese Bezeichnung auf jeden Fall korrekt ist.

2. Historische Soziologie

2.1. Wieso gibt es die historische Soziologie?

Möchte man sich soziologisch mit vergangenen Prozessen, wie eben den Umbrüchen in Ostdeutschland 1989/90 auseinandersetzen, dann braucht es die historische Soziologie. Historische Soziologie ist eine eigenständige Perspektive innerhalb der Soziologie und beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Gesellschaften über eine bestimmte Zeit entwickelt haben, beziehungsweise wieso die modernen Gesellschaften so geworden sind, wie sie heute sind. Etabliert hat sich diese Subdisziplin in den späten 1960er und Anfang der 1970er Jahren zunächst in den Vereinigten Staaten und Großbritannien.

In den letzten Jahren hat mit der Gründung der New Historical Sociology eine neue Fokussierung auf historische Prozesse wie Nationbuilding, Klassen oder Revolutionen stattgefunden. Den Anfangspunkt dieser eigenständigen Perspektive der historischen Soziologie bildet unter anderem die Soziologie Max Webers und Karl Marx. Letzterer fragte vor allem nach dem Kapitalismus, insbesondere wieso dieses andere System ersetzt und wie es sich zum Beispiel reproduziert. (vgl. Lachmann 2013, S. 1f.) Weber hingegen rückt die Ursprünge der Weltreligionen, rationales Handeln und ebenfalls den Kapitalismus ins Zentrum seiner Soziologie. Seit dem Beginn der historischen Soziologie gibt es drei verschiedene „Wellen“ innerhalb dieser Perspektive, die unter anderem Julia Adams in ihrem Buch „Social Theory, Modernity, and the Three Waves of Historical Sociology“ oder Jack A. Goldstone in seinem Essay „A History and Sociology of Historical Sociology“ postulieren.

Die erste Welle beschäftigte sich vorrangig mit dem Funktionalismus, wurde dann aber von einer Marx inspirierten und Funktionalismus ablehnenden zweiten Welle abgelöst. (vgl. Goldstone 2006 S. 359) Vor allem Theda Skocpols Buch „States & Social Revolutions“ war Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre ausschlaggebend für die Bildung des „paradigmatic core oft the new historical sociology (the sometimes so- called „second wave“)“ (Knöbl 2011, S. 15) Neben verschiedenen anderen Forschungsschwerpunkten ist ein klar erkennbarer thematischer Fokus der Gruppe rund um Skocpol, Tilly, Goldstone, Mann und vielen weiteren, die Klärung von Ursachen, sowie der Struktur sozialer Revolutionen. Die letzte Welle etablierte sich in den 1990er Jahren und war vermehrt kulturwissenschaftlich orientiert. Somit beschäftigt sie sich vor allem mit dem Wandel der sozialen Ordnung und gleichzeitig mit Geschlechtsunterschieden, Religion oder Alltagshandlungen. Man sollte dieser strikten Phasentrennung jedoch kritisch gegenüberstehen. Goldstone schlägt vor eher von Logiken zu sprechen, anstatt von Wellen. (vgl. Goldstone 2006, S. 360) Während sich die historische Soziologie vor allem in den Vereinigten Staaten großer Beliebtheit erfreut, ist sie in der deutschsprachigen Soziologie kaum vertreten und das obwohl Weber und Marx ihre Geburtsstunde eingeleitet haben. Laut dem Handbuch Soziologischer Theorien gibt es vier Gründe für die Unbeliebtheit der historischen Soziologie in Deutschland: 1. Die Gegenwartsbezogenheit der modernen Soziologie; 2. Die steigende Popularität der Geschichtswissenschaften, durch die die Soziologie an Bedeutung verliert; 3. Die Dominanz der Differenzierungstheorie und 4. „dass die Soziologie eine starke Neigung zur raum-zeitlichen Dekontextualisierung ihrer Forschungsgegenstände hat.“ (Kneer; Schroer 2013, S. 277)

Die Forschungslogik der historischen Soziologie ist hauptsächlich die komparative Methode. Der Vorteil darin besteht, dass man somit sowohl generalisierte, als auch individualisierte Ergebnisse bekommen kann. So kann man nach allgemeingültigen Mustern schauen, wie zum Beispiel nach den Ursachen oder Folgen von Revolutionen. Gleichzeitig kann man mit der Methode aber auch schauen, wie sich eine bestimmte Revolution von anderen unterscheidet. Um es zusammenzufassen: „Die historische Soziologie benutzt also Komparationen, um mit Hilfe der Isolierung und Identifizierung spezifischer Variablen Hypothesen zu prüfen und Theorien zu konstruieren.“ (ebd. S. 285)

3 . Der Revolutionsbegriff

3.1. Was versteht man unter einer Revolution?

3.1.1. allgemeine Definitionen

Im Wörterbuch der Soziologie wird Revolution als ein „besonders drastischer, zu schwerwiegenden und tiefgreifenden sozialen und polit. Strukturveränderungen führenden Prozess soziale[n] Wandels“ verstanden. (Hillmann 2007, S. 751) Eine Gruppe versucht dabei die bestehenden Normen hinsichtlich der Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur zu ersetzen und dabei auch die Herrschaftsposition neu zu besetzen. (vgl. ebd. S. 751)

Der Historiker Peter Wende nennt drei Faktoren, die gegeben sein müssen, dass man von Revolution sprechen kann. Der erste Faktor umschließt den Umbruch auf der Regierungsebene. „Das Objekt des revolutionären Wandels ist die politisch organisierte und in bestimmter Form verfaßte Gesellschaft“. (Wende 2000, S. 11) Der Staat ist hierbei eine politische Einheit. Bei einer Revolution wird die bestehende Regierung gestürzt. Wichtig ist dabei, dass nicht nur ein Austausch an der Spitze stattfindet, sondern verschiedene politische Organisationen von der revolutionären Koalition besetzt werden, sowie eine neue Verfassung verkündet wird. Zudem muss es zu einer „Veränderung [in] der sozialen und politischen Legitimationsideologie“ (ebd. S. 12) kommen.

Der zweite Faktor nach Wende ist die Art und Weise, wie die Revolution abläuft. Hierbei ist wichtig, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen nicht regierungskonforme Parteien oder Individuen kommt. Häufig kommt die Gewalt vom Volk, da diese sich von der gegenwärtigen Regierung als missverstanden, unterdrückt oder ungerecht behandelt fühlen. Diese Gewalt „von unten“ trifft dabei das „Subjekt der Aktion […] die bestehende Regierung, d.h. reformiert wird <von oben>“ (ebd. S. 12) Weiterhin muss es zu einem raschen Ablauf der Ereignisse kommen.

Drittens sind die Folgen der Revolution entscheidend, denn wo es keinerlei Veränderungen gibt, kann man auch nicht von Revolution sprechen. Somit ist es für Wende auch eine Revolution, wenn es eine „zumindest partielle Rückkehr zu vorrevolutionären Zuständen zu verzeichnen ist.“ (ebd. S. 13) Neben diesen drei Faktoren bedarf es jedoch auch des „subjektiven Willens der Handelnden zur Veränderung.“ (ebd. S. 14) Erst wenn all diese Faktoren eintreten kann man nach Peter Wende von Revolution reden.

3.1.2. Tilly und die Revolution

Auch der US-amerikanische Politologe und Soziologe Charles Tilly setzte sich intensiv mit dem Revolutionsbegriff auseinander. In seinem Werk „Die europäischen Revolutionen“ findet er neben Merkmalen für Revolutionen auch Definitionen für revolutionäre Situationen und Ergebnisse.

Für Tilly gibt es vor allem drei große Revolutionen, die die europäische Geschichte beeinflussten: die Revolution in England 1688/89, in Frankreich 1789/90 und in Russland 1917.

Revolution bedeutet für ihn ein mit Gewalt erzwungener Machtwechsel, bei dem sich mindestens zwei Gruppen gegenüberstehen und die herrschende Gruppe dies nicht unterdrücken kann. Ein Teil der Bevölkerung, nämlich jene, die sich denn vergangenen Gesetzen der Regierung unterwerfen mussten, unterstützen dabei die rebellierende Gruppe. Häufig gehören jene Personen der gleichen sozialen Schicht an, „[a]ber oft bestehen sie [auch] aus Koalitionen zwischen Angehörigen der herrschenden Schicht, ihren Mitgliedern und/oder ihren Herausforderern.“ (Tilly 1993, S. 30) Die Grundvoraussetzungen für Revolutionen liegen für Tilly also in der Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung für zwei oder mehr Machtblöcke, welche gegensätzliche Ansichten bezüglich der Regierung besitzen und so einen Machtwechsel anstreben. (vgl. ebd. S. 30) Im Laufe der Revolution werden selbst zunächst unbeteiligte Bevölkerungsschichten mobilisiert, sollte ein Interessenkonflikt, und die Möglichkeit sich zu organisieren, entstehen.

Zunächst gibt es eine Reihe revolutionärer Ereignisse, die letztendlich eine Revolution darstellen können, jedoch ist es keine unabdingbare Folge, denn nicht alle kurzfristigen Regierungswechsel, auch wenn diese gewaltsam erzwungen wurden, sind Revolutionen. Tilly nennt zunächst zwei Merkmale, die eine Revolution innehaben muss, um sich dahingehend nennen zu dürfen. Auf der einen Seite muss das neue Regime mindestens einen Monat die Macht haben und auf der anderen Seite „sollten wir uns darüber hinaus darauf einigen, daß eine kleinere Gruppe, die solche Ansprüche stellt zumindest in einem wesentlichen geographischen oder administrativen Teilbereich dieses Staates die Kontrolle ausübt.“ (ebd. S.31) Weiterhin schließt er „erfolglose Rebellionen, unblutige Staatsstreiche und von oben her eingeleiteten gesellschaftlichen Umorientierungen“ (ebd. S.31) vom Revolutionsbegriff aus.

Eine Revolution besteht für Tilly aus revolutionären Situationen und revolutionären Ergebnissen. Diese Unterscheidung hilft dabei verschiedene politische Situationen mit revolutionären Komponenten besser unterscheiden zu können. Somit kann Tilly Revolutionen in verschiedene Typen unterteilen. Von großen Revolutionen kann man seiner Meinung nach erst sprechen, wenn es zu einem vollständigen Bruch im Gemeinwesen und einer vollständige Machtübertragung kommt. Eine Revolte hingegen besitzt zwar eine revolutionäre Situation, führt jedoch letztendlich nicht zu einem Machtwechsel und somit auch zu keinem revolutionären Ergebnis.

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Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Ostdeutschland 1989/90. Eine Revolution?
Untertitel
Klärung des Revolutionsbegriff anhand dreier Theorien
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
24
Katalognummer
V489065
ISBN (eBook)
9783668969902
ISBN (Buch)
9783668969919
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ostdeutschland, eine, revolution, klärung, revolutionsbegriff, theorien
Arbeit zitieren
Nathalie Mainka (Autor:in), 2019, Ostdeutschland 1989/90. Eine Revolution?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/489065

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