Erziehung und Schule im Nationalsozialismus - Nachgewiesen am Beispiel der Landerziehungsheime besonders der Odenwaldschule unter Berücksichtigung der Grund- und Hauptschule


Examensarbeit, 1997

108 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Reformpädagogik in Deutschland bis zum Jahr 1933. Ein Überblick
2.1. Die Wurzeln
2.2. Kritik am Bildungssystem
2.3. Pädagogische Strömungen und Bewegungen
2.3.1. Die Jugendbewegung
2.3.2. Die Frauenbewegung
2.3.3. Die Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung
2.3.4. Die Volksbildungsbewegung
2.3.5. Die Kunsterziehungsbewegung
2.3.7. Die Landerziehungsheimbewegung
2.4. Wissenschaftler und Pädagogen, die die Reformpädagogik beeinflussten
2.4.1. Ellen Key
2.4.2. Berthold Otto
2.4.3. Maria Montessori
2.4.4. Georg Kerschensteiner
2.4.5. Paul Oestreich
2.4.6. Rudolf Steiner
2.4.7. Peter Petersen

3. Landerziehungsheime in Deutschland
3.1. Hermann Lietz und seine Auswirkungen
3.2. Die Grundlagen der Landerziehungsheime, Erziehungsziele, -mittel
3.3. Die Differenzierung der Landschulheimbewegung, Neugründungen
3.4. Die Vereinigung der Landerziehungsheime
3.5. Kurt Hahn, Minna Specht, Paul Geheeb und Lietzsche Heime
3.5.1. Kurt Hahn
3.5.2. Minna Specht
3.5.3. Paul Geheeb
3.5.4. Lietzsche Landerziehungsheime

4. Paul Geheeb. Ausgewählte Abschnitte aus seiner Biographie

5. Die Odenwaldschule unter der Leitung Paul Geheebs (1910 - 1934)
5.1. Der Aufbau der Odenwaldschule
5.2. Die Lebensgemeinschaft der Odenwaldschule
5.3. Die Odenwaldschule im 1. Weltkrieg
5.4. Die Blütezeit der Odenwaldschule
5.5. Das Ende der Odenwaldschule unter Paul Geheeb

6. Pädagogik im Nationalsozialistischen Deutschland
6.1. Dogmatiker im Bildungswesen der Nationalsozialisten
6.2. Einflussreiche Behörden und deren Amtsinhaber
6.3. Nationalsozialistische Pädagogen
6.4. Konsequenzen des Nationalsozialismus für die Lehrer
6.5. Jugendverbände des nationalsozialistischen Regimes und ihre Funktion
6.6. Lehrerausbildung im Nationalsozialismus
6.7. Unterricht zwischen 1933 und 1945

7. Die Odenwaldschule im Nationalsozialismus
7.1. Der Übergang 1933/34
7.2. Die Entstehung der "Gemeinschaft der Odenwaldschule" (GdO)
7.3. Die "Gemeinschaft der Odenwaldschule" (GdO)
7.4 Der Übergang 1945/46

8. Schlussbetrachtung

9. Anhang
9.1. Der weitere Kreis der Forscher und Praktiker auf dem Gebiet der Reformpädagogik
9.2. Bildungspolitische Daten von 1933 bis 1939
1933, 1934
1935, 1936, 1937
1938, 1939

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Auf die Odenwaldschule in Ober-Hambach stieß ich bereits als Kind bei Wanderungen mit meinen Eltern. Die Häuser der Schule, die nahe unseres Wohnortes malerisch im Wald verstreut liegen, erweckten schon damals meine Neugier. Wie wäre es wohl, eine solche Schule zu besuchen, fragte ich mich. Im Gespräch mit Schülern der Odenwaldschule gewann ich später erste Eindrücke vom Leben in einer solchen Schule. Im Studium lernte ich in Seminaren die Gedanken der Reformpädagogik kennen. Ein Referat über die Odenwaldschule weckte mein Interesse für diese Schule von neuem.

Nach intensiver Auseinandersetzung mit dieser reformpädagogischen Einrichtung, schien mir besonders die Geschichte der Odenwaldschule während der NS-Zeit als ein ergiebiges und spannendes Thema, um Schule und Erziehung im Dritten Reich zu untersuchen.

Die Odenwaldschule war wie andere reformpädagogische Schulgründungen im Versuch entstanden, sich von der Vormundschaft des Staates zu lösen, pädagogisch neue Wege zu beschreiten und eine umfassende, humanistisch geprägte Bildung für Kinder aller sozialen Schichten zu ermöglichen. Daher musste sie zwangsläufig in krassen Gegensatz zum Nationalsozialismus geraten. Eine Betrachtung dieses Konfliktes wirft Fragen nach den Kerngedanken von Schule und Erziehung auf und ist somit essentiell, um Grundlagen der Pädagogik zu hinterfragen.

Eine Untersuchung des nationalsozialitischen Einflusses auf die Odenwaldschule verlangt jedoch sinnvoller Weise eine nähere Betrachtung dieser reformpädagogischen Schule. Hierbei ist es unabdingbar, in einem umfassenden Rahmen, näher auf die Odenwaldschule, ihre Geschichte und ihren Gründer einzugehen.

Zunächst gilt es, die Reformpädagogik und ihre Wurzeln zu dokumentieren. Das folgende Kapitel dokumentiert Gedanken, Strömungen und Wissenschaftler, die eine Reform der Schule bewirkten und gibt einen Eindruck der Atmosphäre, in der eine Schule wie die Odenwaldschule entstehen konnte.

Die Kenntnis der Genese der Landerziehungsheime ist eine wichtige Voraussetzungen, um die Besonderheit der Odenwaldschule verstehen zu können. Im dritten Abschnitt der Arbeit werden Gründer, Grundlagen, Erziehungsziele und Schulen der deutschen Landerziehung näher betrachtet. Hierbei wird der besondere Charakter der Odenwaldschule als fortschrittliches Landerziehungsheim deutlich.

Die Odenwaldschule ist ohne ihren Gründer und langjährigen Leiter Paul Geheeb nicht denkbar. Geheeb – ein bedeutender Vertreter der Reformpädagogik – war eine zentrale Person der Landerziehungsbewegung. Sein Leben, seine Ausbildung und seine Ideen sind Inhalt des vierten Kapitels dieser Untersuchung.

Paul Geheeb leitete die Odenwaldschule 24 Jahre lang und prägte mit seinem pädagogischen Vorbild ihren Charakter bis zum heutigen Tag. Über die Zeit der Odenwaldschule unter der Leitung Geheebs, die Schüler und Mitarbeiter der Schule heute als "OSO - 1" bezeichnen, wird im 5. Teil meiner Arbeit berichtet. Dies ist von großer Bedeutung, um die späteren Anpassungen der Odenwaldschule an das NS-Regime bewerten zu können.

Der Nationalsozialismus zeigte auch in Schule und Erziehung eine verheerende Wirkung. Die Mechanismen der Ideologisierung und Zersetzung des Schulsystems durch die Nationalsozialisten waren perfide und menschenverachtend. Das 6. Kapitel versucht, die grauenvollen Veränderungen, denen Schüler und Lehrer durch Anhänger des Nationalsozialismus unterworfen waren, zu beschreiben.

Die Odenwaldschule erlitt im Nationalsozialismus ein besonderes Schicksal. Die Zeit des Nationalsozialismus stellt einen eigenen Abschnitt in ihrer nun 87-jährigen Geschichte dar. Dieser Zeitabschnitt wird heute in der Odenwaldschule als die Zeit der "OSO - 2" bezeichnet.

Der zentrale Teil dieser Arbeit zeigt, wie sehr Schule und Erziehung in diesem ausgewählten Landerziehungsheim durch den Nationalsozialismus geprägt wurden.

Die Jahre zwischen 1933 und 1946 empfanden viele Schüler und Lehrer an der Odenwaldschule in unterschiedlicher Weise. Dies wird sowohl bei Altschülertreffen als auch in vorliegenden Veröffentlichungen über jene Zeit deutlich. Nur eine differenzierte Betrachtung der Vorgänge und Schicksale jenes Zeitraumes kann dieser Tatsache gerecht werden.

Da Schüler und Lehrer sich in einer Heimschule wie der Odenwaldschule nicht nur in Unterrichtsstunden treffen, sondern zusammenwohnen und -leben, ist die Gemeinschaft aller von großer Wichtigkeit. Persönliche Kontakte und gegenseitiges Vertrauen prägen das Leben der Menschen in diesem Schulheim.

Um den Einfluss des Nationalsozialismus auf die Odenwaldschule beurteilen zu können, ist daher unabdingbar, die Veränderungen des täglichen Lebens und Abläufe des Alltags von Schülern und Lehrern in diesen Jahren genau zu studieren. Diese Schwerpunkte bestätigten sich bei der Quellensuche zu der vorliegenden Arbeit.

Zeitgenössische Quellen und Berichte damaliger Schüler enthalten nur äußerst spärliche Hinweise auf Unterrichtsinhalte und Methoden. Erinnerungen von Altschülern sind von persönlichen Erfahrungen geprägt und stellen subjektive Standpunkte dar. Dies muss auch bei einer Bewertung berücksichtigt werden.

Die Person des Schulleiters stand schon seit Paul Geheeb stets im Mittelpunkt der Odenwaldschule. Er hatte die Schule auf seine pädagogischen Konzepte gegründet und nach seinen Ideen geführt.

Die Rolle Paul Geheebs übernahm in der Zeit zwischen 1934 und 1946 mit Heinrich Sachs ein Mann, der sich nie hätte träumen lassen, einmal eine solche Schule zu leiten. Sein persönliches Schicksal läßt sich durchaus als tragisch bezeichnen. Sein Wirken wird, wie auch der Zeitraum der Odenwaldschule unter seiner Ägide, bis heute sehr unterschiedlich bewertet.

Wie der Nationalsozialismus Schule und Erziehung in der Odenwaldschule veränderte und welche Schlüsse sich daraus für die Grund- und Hauptschule von heute und morgen ziehen lassen, soll diese Arbeit abschließend zeigen.

2. Reformpädagogik in Deutschland
bis zum Jahr 1933. Ein Überblick

2.1. Die Wurzeln

Ein Grundanliegen der Epoche, die wir heute als Romantik bezeichnen, war das Verständnis für die Eigenart des Kindes und den Eigenwert dieses Lebensabschnitts. Gedanken, die in der darauf folgenden Zeit von zahlreichen Philosophen, Wissenschaftlern, Pädagogen und Erziehern aufgegriffen wurden und schließlich in eine Zeit der pädagogischen Reformen mündeten. Reformen wurden vollzogen, die das Schulsystem prägten und mit ihm die Menschen.

Das folgende Kapitel enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Ursachen und Faktoren. Es nennt Einflüsse, Strömungen, Denker und Verfechter einer Reformpädagogik vom 18. Jhdt. bis zum Jahr 1933, denn: "Die Pädagogische Reformbewegung war 1933 zu Ende"[1]. Ob dieser Satz so absolut stehen bleiben kann, gilt es im Verlauf dieser Arbeit zu klären.

Nach dem "großen deutschen Jahrhundert" (1750 - 1850)[2] waren in Deutschland die tragenden denkerischen Impulse ausgeblieben. Während in England und Frankreich moderne Staatsgründungen erfolgt waren, blieb Deutschland gleichsam gelähmt. Auf die neuen Anforderungen der Zeit der beginnenden Industrialisierung reagierten nicht etwa Aristokratie und Politik, sondern Philosophen und Wissenschaftler.

Viele von ihnen waren Vertreter eines aus der Aufklärung stammenden Positivismus, der geprägt wurde von Auguste Comte in Frankreich und Herbert Spencer in England. Auguste Comte (1798 - 1857) vertrat die Ansicht, der Mensch entwickle sich in drei Stufen von der Theologie zur Metaphysik und schließlich zum Positivismus.

Für Herbert Spence r (1820 - 1903) war besonders die Erhaltung des Lebens wichtig und die Kraft, sich durchzusetzen. Er schätzte vor allem die körperliche Erziehung und die Physiologie. Mit diesen Theorien wurden die spekulativen Systeme von "modernen" Naturwissenschaften verdrängt, mit denen versucht wurde, die Hochöfen, Eisenbahnen und den Weltmarkt zu beherrschen.

Mit den neuen Ansprüchen verloren die bis dahin mächtigen Adeligen ihren alleinigen Einfluss auf die intellektuelle Oberschicht. Erste Kritik an der "deutschen Kultur" kam auf.

Einer ihrer Kritiker war Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), der schon damals auf die deutsche Bildung mit schonungsloser Verachtung hinabblickte.[3] Er erteilte in seinen Schriften und Vorträgen der klassisch-antiken als auch der christlichen Bildungstradition eine klare Absage. Nietzsche setzte den "Verfallserscheinungen sein Evangelium der Natur und des Lebens entgegen, die notwendigen Voraussetzung schöpferischen Menschentums und wahrer Kultur."[4]

Auch Paul Lagardes (1827 - 1891) kritisierte das herrschende Bildungsideal. So waren für ihn Bildung und Erziehung damals "die volle Barbarei unsrer Museen" und "ein Harem voller Ideen"[5]. In verhängnisvoller Weise redete Lagardes in seinen Schriften einem Nationalismus und Antisemitismus das Wort.

Ein Phänomen, das auch bei nachfolgenden Vertretern der Reformpädagogik mehr und mehr zu beobachten war. Ebenso reduzierte sich der klerikale Einfluss, Bildungs- und Erziehungsgedanken mussten neu definiert werden.

Insbesondere zu nennen sind hier Pestalozzi, Fichte, Schleiermacher, Herbart, Humboldt, Süvern. Dadurch wandelten sich die Schulen soziologisch zu "neuen" Schulen mit Lehrern, die nicht mehr nur Theologen oder Küster waren, sondern enzyklopädisch Gebildete.

2.2. Kritik am Bildungssystem

Obwohl durch die Gedanken moderner Erziehungswissenschaftler ein, im Vergleich zu anderen Ländern, vor allen Dingen in der Form der Unterrichtsorganisation als vorbildlich angesehenes Erziehungssytem entstand, wurde es zum Ende des 19. Jahrhunderts immer häufiger kritisiert.

Hauptkritikpunkte waren:

- Der Eintritt in die Schule wurde als krasser Riss im Leben des Kindes gesehen. "Das Kind muß totgeschlagen werden, damit das Schulkind auferstehe."[6]
- Der Lehrer und seine Autorität stünden zu sehr im Zentrum jeglicher Aktivitäten. Er würde zu einem auf Leistung pochenden "Pauker".
- Die Schule ginge nur vom Stoff aus und bliebe bedingungslos an ihm orientiert, statt sich nach den Bedürfnissen des Kindes zu richten.
- Die Aneignung des Wissens würde durch ständiges Auswendiglernen und Konzentration auf "trockene" Lehrbücher zu einem stupiden "Einbleuen" von Information.
- Die Überwiegende Inanspruchnahme des Gedächtnisses führe zu "Weltfremdheit und Tatenlosigkeit."[7]

Diese kritischen Gedanken wurden von vielen Wissenschaftlern, Lehrern, Erziehern aufgenommen und in unterschiedlichster Weise fortentwickelt.

Als Universitätslehrer sind hier zu nennen: Otto, Kerschensteiner, Gaudig, Spranger, Scheibner, Oestreich, Lietz. Von der Volksschule kamen die Ideen von Wolgast, Linde, Jensen, Gansberg.

2.3. Pädagogische Strömungen und Bewegungen

2.3.1. Die Jugendbewegung

Vertreter dieser Bewegung setzten sich für die Anerkennung des Eigenwertes der Jugend ein. Sie beabsichtigten eine Abgrenzung der Jugend zur älteren Generation, lehnten die bestehende Zivilisation und Kultur ab und suchten eigene Formen der Lebensgestaltung. Unzählige Jugendbündnisse wie Wandervogel (1901) und Pfadfinderbund (1909) wurden gegründet. In diesen Verbindungen wurden die verschiedensten Ideen ausgiebig diskutiert, ohne allerdings relevante Ergebnisse hervorzubringen. Die Freideutsche Jugend sammelte sich im Jahre 1913 auf dem hohen Meißner und forderte in der Meißner Formel für Jugendliche ein selbstbestimmtes eigenverantwortliches Leben.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde 1925 der Großdeutsche Pfadfinderbund, 1927 die Deutsche Freischar gegründet. Die Verfechter der Jugendbewegung waren inzwischen in Schule in Staat etabliert und begannen u.a. in der Fürsorge- und Gefängniserziehung sozialpädagogisch zu arbeiten.[8]

Die Bewegung der Bündischen Jugend wurde, da sie hoffte, viele ihrer Wünsche im Nationalsozialismus verwirklichen zu können, und da sie, wie es Spranger prägnant formulierte: "...bei übervollem Herzen politisch allzu leere Köpfe besaß."[9] sehr schnell nach der Machtergreifung 1933 vereinnahmt, bald in die Hitlerjugend eingegliedert und damit ihrer eigenen Ideale beraubt.

2.3.2. Die Frauenbewegung

Sie begann in Deutschland im Jahre 1848, hatte aber ihre Wurzeln in der Romantik und der Französischen Revolution. Ihr Bestreben war und ist es bis zum heutigen Tage, ein Verständnis für die Eigenart und den besonderen Wert der Frau zu erreichen. Die Frauenbewegung trat schon Ende des 19. Jahrhunderts für die Gleichstellung mit dem Mann und für gleiche Bildungsmöglichkeiten von Mädchen und Jungen ein.

Bekannte Vertreterinnen in Deutschland waren Elisabeth Gnauck-Kühne (1850 - 1917) mit ihrer Schrift über "Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwarenindustrie" (1896) und Helene Lange (1848 - 1930), die den "Allgemeinen deutschen Lehrerinnenverein" gründete. Als vielleicht die bedeutendste Vertreterin dieser Epoche ist Gertrude Bäumer (1873 - 1954) zu sehen. Sie war Herausgeberin mehrerer Frauenzeitschriften und außerdem Mitglied der Nationalversammlung und des Reichstages. Ihr gelang es, die Zulassung von Frauen zu allen Bildungseinrichtungen und die Gründungen von höheren Mädchenschulen durchzusetzen.[10]

2.3.3. Die Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung

Für Bauern und Handwerker war von jeher der Zugang zu höherer Bildung fast unmöglich (mit Ausnahme des klerikalen Amtes). Die Arbeiterschaft jedoch wollte auch an Bildung teilhaben. So wurde schließlich eine Zentralstelle für Arbeitervereine zur "intellektuellen und sittlichen Hebung der unteren Klassen geschaffen."[11]

Die bürgerliche Bildung, deren Reform 1848 gescheitert war, bot jedoch keine Lösungen für die sozialen Probleme einer modernen Arbeiterschaft. Die marxistische Form des Sozialismus bot den Arbeitern eine "wissenschaftliche" Deutung ihrer Lage an. Die von Gewerkschaften, Sozialisten und Sozialdemokraten betriebene Arbeiterbildung hatte den Zweck, die Arbeiter in eine Arbeiterbewegung zu integrieren und sie für die Verwirklichung von politischen Zielen nutzbar zu machen.

2.3.4. Die Volksbildungsbewegung

Aus Einflüssen der Reformation und der Aufklärungsepoche entstand das damals moderne Mittel zur Volksbildung, die Volksschule als Jugendschule. Mit der zunehmenden Urbanisierung wuchs aber auch die Notwendigkeit von Erwachsenenbildung. Der entwurzelte moderne Mensch sollte "Klarheit und Festigkeit" bekommen.[12]

Die Volksbildung wurde mit Elan vom Bürgertum begonnen, erreichte jedoch nicht die breiten Schichten der Arbeiter, die sich in der Sozialdemokratie zusammengefunden hatten.

Das Erleben und Gestalten sollte in der Volksbildung in den Vordergrund gerückt werden, um mitzuhelfen, dass "der Mensch zur Persönlichkeit, die Masse zum Volk werde ".[13]

Nach dem ersten Weltkrieg nahm die Bewegung unter Einflüssen aus Dänemark und England die Gestalt einer Volkshochschulbewegung an. Die Volkshochschule wurde zum dem Platz der Erwachsenenbildung und ist sie noch heute. Als in den zwanziger Jahren die Wirtschaftskrise mit Sparmaßnahmen bekämpft wurde, betraf das auch die Volkshochschulen.

Ein Sprecher der Volksbildungsbewegung war Adolf Reichwein (1898 - 1944), der im Preußischen Ministerium für Erwachsenenbildung arbeitete und 1930 Professor an der Pädagogischen Akademie in Halle wurde.

Er trat nach der Wahl 1930 demonstrativ in die SPD ein, wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seines Amtes enthoben und an eine Dorfschule versetzt. Reichwein engagierte sich später im Widerstand des "Kreisenauer Kreises", wurde verraten und 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.[14]

2.3.5. Die Kunsterziehungsbewegung

Getragen von Persönlichkeiten wie: Julius Langbehn (1851 - 1907) mit seinem Buch "Rembrandt als Erzieher" (1889) und Alfred Lichtwark (1852 - 1914) mit seinen Veröffentlichungen wie z.B. "Die Kunst in der Schule" (1887) richteten sich ihre Anhänger vor allem gegen den Schematismus in Schule und Bildung und die Verdrängung von kreativen, schöpferischen Fähigkeiten.

Die Vertreter der Kunsterziehungsbewegung forderten:

- "Eine Erziehung hin zur Kunst"
- "Eine Erziehung durch die Kunst"
- "Eine Erziehung im Geiste der Kunst"

mit dem Ziel "der Bildung aus den produktiven Kräften."[15]

Durch Autoren wie Rudolf Hildebrand (1824 - 1894) und Heinrich Wolgast (1860 - 1920) wurden Forderungen nach neuen Inhalten und Methoden in Sprach- und Literaturunterricht übertragen. Für sie musste Pädagogik zu einer Kunst werden, um auf das wirkliche Leben unmittelbaren Einfluss zu gewinnen, um das Selbst des werdenden Menschen in seiner Tiefe erfassen und gestalten zu können.

2.3.6. Die Landerziehungsheimbewegung

Als Hermann Lietz (1868 - 1919) 1898 in Ilsenburg/Harz das erste "Deutsche-Land-Erziehungs-Heim" (DLEH) gründete, setzte er eine Bewegung in Gang, die bis zum heutigen Tage weltweit anhält.[16]

Landerziehungsheime sollten "die Zellen einer neuen Volksgemeinschaft" werden.[17] Sie beeinflussten maßgeblich die Internatserziehung und wirkten beispielhaft für viele kommende Schulreformen.

Solche Einrichtungen wurden schon bald von Schülern, bzw. Mitarbeitern von Lietz in vielen Gegenden eingerichtet. Hier einige Beispiele:

- Landschulheim Haubinda/Thüringen, gegründet 1901 von Hermann Lietz (1868 - 1919)
- "Freie Waldorfschule", gegründet von Rudolf Steiner (1861 - 1925)
- "Schloßschule Salem", gegründet von Kurt Hahn (1886 - 1974)
- "Freie Schulgemeinde Wickersdorf", gegründet von Gustav Wynecken (1875-1964) und Paul Geheeb (1870 - 1961)
- "Odenwaldschule", gegründet von Paul Geheeb (1870 - 1961)

Die beiden letztgenannten Schulen waren ausgesprochene Gegengründungen zu den Lietzschen Schulen, da sich die ehemaligen Schüler inzwischen von Lietz und seinen Ideen distanziert hatten.

Erziehungsgrundlagen der Deutschen Landerziehungsheime waren die Erziehung der Schüler zu:

- Treue und Zuverlässigkeit.
- Tapferkeit und Mut, neue Aufgaben zu meistern.
- Körperlicher Stärke und Reifheit.
- Unbefangenheit, Toleranz auf religiösem und politischem Gebiet.
- Offenheit, Reinheit, Keuschheit.

Mit Pädagogen wie Wynecken und Geheeb kam die damals sehr umstrittene Koedukation in die Landerziehungsheimbewegung.

Wichtig für die Väter der Bewegung war außerdem die Lage der Schulen, die in Mitten einer unverbrauchten Natur und dennoch nahe an kulturellen und wirtschaftlichen Metropolen liegen sollten.

Im Nationalsozialismus kam es zu Verstaatlichung oder Schließung vieler Landerziehungsheimen. Nach 1945 jedoch wurde die Bewegung wiederbelebt und erfreut sich bis zum heutigen Tage eines regen Zuspruchs.

2.4. Wissenschaftler und Pädagogen, die die Reformpädagogik beeinflussten

Internationale Wissenschaftler und Pädagogen griffen in die Diskussion über die Reformpädagogik ein und bereicherten sie durch ihre Veröffentlichungen. Im folgenden Abschnitt möchte ich einige herausragende Persönlichkeiten, die die Schule bis in die heutige Zeit beeinflussten, darstellen.

2.4.1. Ellen Key (1849 bis 1926)

Sie war eine schwedische Lehrerin und Schriftstellerin, engagiert in der Arbeiter- und Frauenbewegung. 1900 erschien ihr "Jahrhundert des Kindes". Diese Essaysammlung wurde zu einem Leitfaden der Reformpädagogik und erlebte bis in die zwanziger Jahre 36 Auflagen. In Anlehnung an Rousseau, Spencer und Darwin sprach sie von einer Pädagogik des "Wachsenlassens".[18]

In ihrem "Jahrhundert des Kindes" formte sie ein Zitat Fröbels, das sie verkürzt wie folgt wiedergab: "Laßt uns für die Kinder leben" um, zu ihrem Satz: "Laßt uns die Kinder leben lassen."[19]

Für Ellen Key waren Kindergarten und Schule "Fabriken", in denen das "Menschenmaterial" quasi industriell bearbeitet wird. Diese Schulen konnten ihrer Meinung nach nicht in Einzelreformen verbessert, sondern das Schulsystem müsste "zertrümmert und durch eine Revolution" zu einer "Schule der Zukunft" werden. Viele ihrer pädagogischen Thesen wurden allerdings damals als zu sehr das Individuelle fördernd kritisiert.

Ellen Key selbst sah das größte Problem für die Verwirklichung ihrer "geträumten Schule" im damals vorherrschenden Militarismus und dem damit gebundenen Kapital. "Erst wenn dieser (Militarismus, Anm. d. Verf.) überwunden ist, wird man es in der Entwicklung so weit gebracht haben, daß man einsieht, daß der teuerste Schulplan – der wohlfeilste ist".[20]

Ellen Keys"Träume" regten Pädagogen zu weiteren Veröffentlichungen an, wie z.B. C. Götze:"Das Kind als Künstler", J. Gläser: "Vom Kinde aus" oder

Th. Gläß:"Pädagogik vom Kinde aus".[21] Jene Lehrer, die später zum Kreise der "Hamburger Lehrer" gezählt wurden, waren begeistert, was Kinder erreichten, welche nach diesen Methoden unterrichtet wurden.

Die Pädagogen betonten mit ihrer Pädagogik "Vom Kinde aus" sehr stark die Kraft des Kindes, ließen aber den Kindern viel Raum für eine Opposition den Inhalten gegenüber. Problem dieser Methode war, dass das Formelle häufig über das Inhaltliche gestellt wurde.[22]

2.4.2. Berthold Otto (1859 bis 1933)

Schon während seines Studiums angeregt durch Sprach- und Völkerpsychologen und von Persönlichkeiten wie Herder und Steinthal inspiriert, wurde Otto später Privatlehrer in Herne. Danach arbeitete er als Redakteur in Hamburg und später als Schriftleiter beim Brockhaus-Verlag in Leipzig. 1902 wurde er vom Preußischen Kultusministerium nach Berlin berufen, um dort seine Hauslehrererfahrungen einzubringen und zu einem reformpädagogischen Konzept auszuarbeiten. Im gleichen Jahr wurde Otto Leiter einer Hauslehrerschule in Berlin-Lichterfelde.

Er trat weiterhin für seine Reformen im Sinne eines gleichberechtigten "geistigen Verkehrs mit Kindern"[23] ein. So glaubte er durch "methodische Kniffe" die Faulheit und den "Trotz" der Schüler überwinden zu können.

Die geistige Entfaltung eines Kindes mußte, nach Ottos Vorstellungen, wie die körperliche Entwicklung nicht von außen aufgedrängt werden, sondern von innen aus eigenem Antrieb wachsen. Die Familie und der Umgang unter Geschwistern war für ihn das Vorbild für einen freien Unterricht, der den alten "gebundenen" Unterricht ersetzen sollte.[24]

Ottos "Gesamtunterricht"[25] sollte frei von jedem Zwang und jeder Qual sein, vom Forschungsgeist der Schüler getrieben und an den "echten" Bedürfnissen der Kinder orientiert. Sowohl die Trennung von Lehrenden und Lernenden, als auch die Trennung einzelner Fächer und Forschungsgebiete sollte in seinem Unterricht abgebaut werden.

Eine weitere Neuerung, die Otto entwickelte, war die "Altersmundart". Für ihn bedeutete die Sprache eines sechs- oder zehnjährigen Kindes keine Mangelsprache, sondern eine vollständige Mundart, die auch der Erzieher im Umgang mit den Kindern sprechen sollte, um ein leichteres und tieferes Verstehen zu ermöglichen.

2.4.3. Maria Montessori (1870 bis 1952)

Eine Ärztin und Erzieherin aus Italien, die aus ihrer Arbeit, der Betreuung schwachbegabter Kinder, ihre Pädagogik entwickelte. Sie fand zu eigenen Arbeitsformen und gestaltete Therapiematerialien, welche noch heute in vielen Schulen und Kindergärten Anwendung finden. 1907 gründete Maria Montessori in einem Arbeiterviertel in Rom ihr erstes Kinderhaus (San Lorenzo), welches gleichsam zum Stammhaus ihrer Ideen wurde. Von dort fanden die Konzepte Maria Montessoris weltweit rege Verbreitung. Im August 1929 gründete sie die "Association Montessori Internationale (AMI)"[26] als weltweite Dachorganisation zur Beaufsichtigung von Schulen und der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zu Montessoripädagogen. Hauptsitz dieses Instituts war Berlin. Im Jahre 1935 wurde das Institut auf Druck des Nationalsozialistischen Regimes nach Amsterdam verlegt.

In der Montessoripädagogik mussten Kinder als geheiligt respektiert werden. Es galt die Bemühungen und die spontanen Energien der Kinder zu erforschen. Nach Maria Montessori wenden sich Kinder nur Dingen mit voller Hingabe zu, die sie im Innersten berühren. Montessori entwickelte in Stufen gegliederte Materialien, die alle Sinne ansprechen. Die Arbeitsmittel sollten zur Aufgabenlösung beitragen und dem Prozess der optimalen selbständigen Entwicklung der Kindespersönlichkeit förderlich sein.[27]

Ihre Methoden, die vor allem in Europa von einigen Wissenschaftlern als zu unwissenschaftlich und phantasiehemmend kritisiert wurden, prägen dennoch bis heute besonders die Kindergarten- und Vorschulerziehung. Nicht zu übersehen ist, dass sich bei vielen strukturierten Erziehungsmodellen jeweils ein Lager von Anhängern und Kritikern bildet.

2.4.4. Georg Kerschensteiner (1854 bis 1932)

Er arbeitete erst als Gymnasiallehrer und war später Stadtschulrat in München. Zusammen mit Hugo Gaudig (1860 - 1923) war Kerschensteiner einer der herausragenden Vertreter der Arbeitsschulbewegung und Reformer der Fortbildungsschule. In seinen Büchern und Vorträgen stand stets ein sehr realistisches Zielbild im Mittelpunkt.

Erziehung zur Persönlichkeit musste für Kerschensteiner staatsbürgerliche Erziehung sein, die nicht das gebildete Individuum, sondern eine solidarische Gemeinschaft aller zum Ziele hatte. "Darum ist die erste und notwendigste Forderung, die wir im Interesse der staatsbürgerlichen Erziehung an die Schule zu stellen haben: die Umwandlung dieser Schule aus einer Stätte individuellen Ehrgeizes in eine Stätte sozialer Hingabe, aus einer Stätte theoretischer intellektueller Einseitigkeit in eine Stätte praktisch-humaner Vielseitigkeit (...)"[28]

Die persönliche Kulturaufgabe eines jeden Menschen war für Kerschensteiner der Beruf. Dieser ist Mittelpunkt der Kerschensteinerschen Erziehungsideale. Konsequenterweise wird besonders auf Handarbeit von Jugendlichen in Schulen Wert gelegt. Seine Arbeitsschulen standen im Gegensatz zu den Lernschulen, die unkindlichen Schulen der Bücher und Hefte.[29]

Arbeit, käme dem Tätigkeitsdrang des Kindes entgegen, während die Konzentration auf theoretische und geistige Inhalte nicht den Ansprüchen der Kinder gerecht würde und, seiner Ansicht nach, ein wenig geeigneter Anschluss an die Spielschule der Kindheit sei.

So kann man Kerschensteiner als Begründer der modernen Berufsschule bezeichnen, wobei am Ende dieses Jahrhunderts in den meisten Berufen andere Qualifikationen gefordert sind. Handarbeit wird zunehmend durch moderne Technologien ersetzt.

[...]


[1] BLÄTTNER, 1951.

[2] Blättner, 1955, S. 200.

[3] vgl. BLÄTTNER, 1955, S. 203.

[4] BLÄTTNER, 1955, S. 203.

[5] RUSS, 1965, S. 117.

[6] Russ, 1965, S. 118.

[7] Russ, 1965, S. 119.

[8] BLÄTTNER, 1955, S. 214f.

[9] RUSS, 1965, S. 122.

[10] RUSS, 1965, S. 125.

[11] BLÄTTNER, 1955, S. 209.

[12] BLÄTTNER, 1955, S. 210.

[13] BLÄTTNER, 1955, S. 211.

[14] SCHEUERL, 1992, S. 357.

[15] RUSS, 1965, S. 127.

[16] SCHEUERL, 1992, S. 248.

[17] RUSS, 1965, S. 125.

[18] SCHEUERL, 1992, S. 231

[19] SCHEUERL, 1992, S. 233.

[20] SCHEUERL, 1992, S. 235.

[21] RUSS, 1965, S. 132.

[22] BLÄTTNER, 1955, S. 221.

[23] SCHEUERL, 1992, S. 239.

[24] RUSS, 1965, S. 137.

[25] BLÄTTNER, 1955, S. 221.

[26] KRAMER, 1976, S. 363.

[27] STANDING, 1959, S. 266.

[28] Kerschensteiner aus einem Aufsatz zur Reichschulkonferenz 1920, aus: FLITNER; KUDRITZKI, Bd. 1, 1961, S. 219.

[29] vgl. BLÄTTNER, 1955, S. 229 ff.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Erziehung und Schule im Nationalsozialismus - Nachgewiesen am Beispiel der Landerziehungsheime besonders der Odenwaldschule unter Berücksichtigung der Grund- und Hauptschule
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg  (Fachbereich Allgemeine Pädagogik)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1997
Seiten
108
Katalognummer
V4872
ISBN (eBook)
9783638129749
Dateigröße
754 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erziehung, Schule, Nationalsozialismus, Nachgewiesen, Beispiel, Landerziehungsheime, Odenwaldschule, Berücksichtigung, Grund-, Hauptschule
Arbeit zitieren
Thomas Weber (Autor:in), 1997, Erziehung und Schule im Nationalsozialismus - Nachgewiesen am Beispiel der Landerziehungsheime besonders der Odenwaldschule unter Berücksichtigung der Grund- und Hauptschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4872

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