Die Bedeutung von Sinn für Individuum und Organisation - eine vergleichende Betrachtung von Logotherapie und Managementlehre


Diplomarbeit, 1999

87 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Bedeutung von Sinn
2.1 Warum Sinn für die Arbeitswelt eine Bedeutung hat
2.1.1 Wertewandel und Orientierungskrise
2.1.2 Die Frage nach dem Sinn der Motivation
2.2 Welche Bedeutung das Wort Sinn hat
2.2.1 Der Sinn−Begriff für das Individuum: die Logotherapie
2.2.2 Der Sinn−Begriff für die Organisation: der St. Galler Ansatz

3 Die Bedeutung von Sinn für das Individuum − Logotherapie
3.1 Charakteristika der Sinn−Kategorisierung
3.1.1 Leistung
3.1.2 Selbsttranszendenz
3.1.3 Selbstdistanzierung
3.2 Mitarbeiter, Vorgesetzter, Organisation
3.2.1 Das Zustandekommen des individuellen Sinn−Konzeptes: Mit− arbeiter
3.2.2 Die Konsequenzen für die Führung: Vorgesetzter
3.2.3 Die Organisation sinnvoller Arbeit: Organisation
3.3 Kritik am Konzept der Logotherapie

4 Die Bedeutung von Sinn für die Organisation − Management− lehre
4.1 Management als Sinnvermittlung
4.2 Kritik am Konzept der Sinnvermittlung

5 Vergleichende Betrachtung von Logotherapie und Manage− mentlehre

6 Zusammenfassung, Fazit, Ausblick

7 Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Aufbau der Arbeit

Abbildung 2: Frankls Karikatur der drei Wiener Schulen der Psychotherapie

Abbildung 3: Die Logotherapie Viktor Frankls

Abbildung 4: Dimensionalontologie

Abbildung 5: Der Mensch als offenes System

Abbildung 6: Systemarten und Problemebenen nach H. Ulrich

Abbildung 7: Kriterien für den Vergleich der beiden Konzepte aus Kapitel 2

Abbildung 8: Ex−sistenz des Menschen

Abbildung 9: Kriterien für den Vergleich der beiden Konzepte aus Kapitel 3

Abbildung 10: Kriterien für den Vergleich der beiden Konzepte aus Kapitel 4

Abbildung 11: Kriterienkatalog für die vergleichende Betrachtung

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Das Spannungsfeld von Kultur und Unternehmung

Tabelle 2: Zusammenfassung der vergleichenden Betrachtung

1 Einleitung

Ein in jüngster Zeit häufig diskutiertes Phänomen ist die innere Kündigung von Mitarbeitern in ihren Organisationen. Innere Kündigung "bezeichnet einen persönlichen Zustand, der durch ein innerliches Abrücken von der Arbeitsumgebung und eine Verweigerung der Eigeninitiative gekennzeich− net ist" (Krenz−Maes 1998, S. 48). Ein Erklärungsansatz für innere Kündi− gung ist Arbeitsunzufriedenheit, denn die "für die Arbeitszufriedenheit relevanten Bereiche Einkommen, eigene Entwicklung, Führungsstil der Vorgesetzten, Unternehmenskultur und eigenes Tätigkeitsspektrum gehen [...] negativ mit innerer Kündigung einher" (Krenz−Maes 1998, S. 49). Dies hat die Psychologin Krenz−Maes in einer Studie herausgefunden (vgl. a.a.O.). "Die Folgen für ein Unternehmen können beispielsweise eine ver− ringerte Innovationsbereitschaft sein, oder aber eine Erhöhung der Bearbei− tungszeiten, eine Verschlechterung der Qualität, eine geringe Beteiligung am Vorschlagswesen, eine Überschreitung der Pausenzeiten, ein Anstieg von Arbeitsunfällen, eine geringe Kundenorientierung sowie eine geringe Bereitschaft, Überstunden zu leisten" (Krenz−Maes 1998, S. 49). Diese Aufzählung macht die Notwendigkeit deutlich, einer solchen Entwicklung entgegenzutreten.

Innere Kündigung als Entfremdung von der Arbeit deutet letztlich auf eine "sinnlose Arbeit" (vgl. Böckmann 1999, S. 78) hin. Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Bedeutung von Sinn für Individuum und Organisation. Die hier diskutierten Konzepte werden daraufhin untersucht, ob sie durch ihre Beschäftigung mit dem Faktor ‘Sinn’ Lösungsansätze anbieten können, wie dem Phänomen ‘innere Kündigung’ und seinen Konsequenzen für die betriebliche Praxis begegnet werden kann. Es handelt sich dabei um eine interdisziplinäre Arbeit, die zwischen Psychologie und Organisationslehre angesiedelt ist. Aus dem ersten Wissenschaftszweig stammt die Logothera− pie, die eine sinnzentrierte Psychotherapierichtung ist. Zum Vergleich mit ihr wurde eine bestimmte Managementlehre ausgewählt: der St. Galler Ansatz. Da sich die Themenstellung an der Betrachtung von Individuum und Organisation orientiert, erschien der St. Galler Ansatz am besten geeignet, weil in St. Gallen ein (explizit auf den Faktor Sinn konzentriertes)

Organisation sverständnis entwickelt wurde. Es gibt zwar noch weitere Konzepte aus der Organisationslehre, die sich mit der Sinnproblematik in Organisationen beschäftigt haben, im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen steht aber eher ein Unternehmenskulturmodell und nicht die Entwicklung eines Organisationsverständnisses. Außerdem beziehen sich viele Veröffentli− chungen aus St. Gallen auf die Logotherapie. Aus diesen Gründen erscheint die Vergleichbarkeit des St. Galler Konzeptes mit der Logotherapie höher als bei den anderen Sinn−Konzepten. Im Laufe der Arbeit sollen die ver− schiedenen Verknüpfungspunkte zwischen beiden Konzepten herausgear− beitet werden.

Die Logotherapie geht vom Individuum aus und wurde als Führung skon− zept in die Arbeitswelt übertragen. Der St. Galler Ansatz ist ein bestimmtes Organisationsverständnis, auf dem ein Unternehmenskultur modell aufbaut. Von den oben genannten Bereichen, die für das Phänomen innere Kündi− gung relevant sind, werden diese beiden in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet.

Die Vorgehensweise in der vorliegenden Arbeit orientiert sich an der getrennten Betrachtung von Individuum und Organisation und damit auch von Führung und Unternehmenskultur.

Zunächst wird die Bedeutung von Sinn für die Arbeitswelt diskutiert, und der Begriff Sinn näher erläutert. Anschließend wird die Bedeutung von Sinn für das Individuum (anhand der Logotherapie) und die Bedeutung von Sinn für die Organisation (anhand der St. Galler Managementlehre) dargestellt und bewertet. Am Schluß steht die vergleichende Betrachtung der beiden Konzepte mittels ausgewählter Kriterien. Diese Kriterien sollen im Verlauf der Arbeit entwickelt werden und werden jeweils am Ende der einzelnen Kapitel aufgezählt.

Folgende Abbildung soll die Vorgehensweise verdeutlichen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Aufbau der Arbeit

Ziel der Arbeit ist es, aufzuzeigen, daß Sinn für die Arbeitswelt eine Bedeutung hat und welches Verständnis die beiden Ansätze von dem Wort ‘Sinn’ haben. Wenn es in den Kapiteln 3 und 4 um die Darstellung der bei− den Konzepte geht, soll überprüft werden, ob sie durch Einbeziehung des Faktors ‘Sinn’ geeignet sind, dem Phänomen ‘innere Kündigung’ zu begeg− nen. Im weiteren soll untersucht werden, inwiefern die theoretische Tren− nung der Betrachtungsebenen Individuum und Organisation aufgehoben werden kann, so daß die beiden Ansätze nebeneinander Verwendung finden können. Dazu muß geklärt werden, in welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen. Abschließend wird versucht, anhand der Logotherapie ein neues Modell in Bezug auf die Organisation zu skizzieren.

2 Die Bedeutung von Sinn

Um sich mit der Sinnproblematik für Individuum und Organisation aus− einandersetzen zu können, muß zunächst die Bedeutung von Sinn erläutert werden. Dabei geht es darum,

- warum Sinn für die Arbeitswelt eine Bedeutung hat (Kap. 2.1) und
- welche Bedeutung das Wort ‘Sinn’ im Kontext der dargestellten Ansätze hat (Kap. 2.2).

2.1 Warum Sinn für die Arbeitswelt eine Bedeutung hat

Um die Frage zu beantworten, warum Sinn für die Arbeitswelt eine Bedeu− tung hat, wird als erstes auf die Situation in der heutigen Gesellschaft ein− gegangen und in einem zweiten Schritt die Bedeutung des Sinns für das Problemfeld Motivation erläutert.

2.1.1 Wertewandel und Orientierungskrise

Zunächst geht es um die Orientierungskrise und ihre Entstehung: Im Ver− lauf dieses Jahrhunderts entstanden im Zuge der Modernisierungsprozesse in den staatlichen und wirtschaftlichen Organisationen der westlichen Gesellschaften immer komplexere und umfassendere Handlungssysteme. Waren diese anfangs noch einigermaßen überschaubar, so ist es heute unmöglich, sie rational zu durchdringen und in ihren Entwicklungen voll− ständig zu erfassen. Die Verarbeitungskapazitäten der Organisationsmit− glieder reichen bei weitem nicht mehr aus. Dies verursacht die Orientie− rungskrise.

Hinzu kommt ein Verfall der Werte und Traditionen in Staat und Gesell− schaft, der die Menschen zunehmend verunsichert. Eine Entwicklung, die Viktor Frankl früh in ihrer Bedeutung erkannt hat: "Weder sagt dem Men− schen wie dem Tier ein Instinkt, was er muß, noch sagen ihm heute die Traditionen,was er soll, und es ist zu fürchten, daß er eines Tages nicht mehr wissen wird, was er will" (Frankl 1996a, S. 139). Frankl sprach in diesem Zusammenhang von einem existentiellen Vakuum, das Erlebnis einer inneren Leere, dem Gefühl einer abgründigen Sinnlosigkeit (vgl. a.a.O).

Zur Vertiefung dieser Problematik sei z.B. auf Bußkamp (1995), Kroker & Dechamps (1990) und Zihlmann (1980) verwiesen, die sich intensiv mit den Problemen des Wertewandels und des Sinnverlustes in einer versachlichten Welt befaßt haben. Die vorigen Ausführungen sollten das Thema des Wer− tewandels und der Orientierungskrise nur skizzieren, damit deutlich wird, daß Sinn für die Arbeitswelt eine Bedeutung hat. In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage nach dem Sinn der Motivation.

2.1.2 Die Frage nach dem Sinn der Motivation

Sievers vertritt die These, daß "Motivation [...] erst dann zu einem Problem wurde, als der Sinn der Arbeit entweder verschwunden oder verloren gegangen war. Dieser Sinnverlust der Arbeit steht in unmittelbarem Zusam− menhang mit der Zunahme von Differenzierung und Fragmentie− rung" (1984, S. 1) der Arbeit.

Als Beispiel sinnvoller Tätigkeit sei hier ein Bauer genannt, der im letzten Jahrhundert seine Felder bestellt und Tiere hält, um seine Frau und die Kin− der, sowie seine Eltern ernähren zu können. Arbeitsteilung war kaum aus− geprägt, im Einklang mit der Natur und den Jahreszeiten mußte die ganze Familie für die unmittelbare, eigene Ernährung und das Wohl der Tiere sor− gen.

In einer solchen Situation war die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit wohl nicht in Frage gestellt. ‘Wir müssen doch etwas zu essen haben und die Tiere müs− sen versorgt werden’, könnte der Bauer auf die Frage nach dem ‘Warum’ seines Tuns geantwortet haben.

Heute ist die Situation anders: "Der einzelne handelt nicht mehr, um zu überleben, sondern er verrichtet eine pragmatisch sinnlose Tätigkeit, um vor allem über den Lohn− oder Gehaltsempfang diesen Aufwand gegen etwas Sinnvolles, z.B. in der Freizeit, einzutauschen.

Vordergründig betrachtet, tritt dann das Motivationsproblem [...] auf. Der Hebel der Beeinflussung des Leistungsverhaltens setzt dabei an verschiede− nen Faktoren an, ändert aber grundsätzlich an den bestehenden Bedingun− gen nichts" (Sander 1991, S. 3). Insofern ist die These von Sievers (1987) plausibel, daß das Motivationsproblem erst mit dem Verschwinden des Sinns in der Arbeit aufgetaucht ist.

Somit plädiert Sievers dafür, nicht die einzelnen Ansätze der Motivation zu diskutieren, sondern die Motivation selbst zu hinterfragen (1984, S. 1). Denn die Absicht, Mitarbeiter z.B. durch verschiedenste Belohnungssy− steme zu motivieren, beruht schlicht auf Mißtrauen (vgl. Wittenzellner 1994). Wer den Mitarbeiter zu mehr Leistung bringen will, unterstellt ihm ja, daß er nicht von sich aus die volle Leistung erbringt. Dabei hat er ja vielleicht genau dazu einen guten Grund (vgl. Romanos−Hofer 1994 bzw. Sprenger 1997). Er hat ‘keine Lust dazu’ bzw. er sieht keinen Sinn darin, mehr zu leisten. Im Gegensatz dazu konnte der Bauer leicht einen Sinnbe− zug in seiner Tätigkeit herstellen, zumal er ganzheitlich am Leistungsprozeß auf seinem Bauernhof, z.B. vom Füttern über das Melken bis zur Käseher− stellung, beteiligt ist. Das "umfassende Tätigkeitsspektrum" (Krenz−Maes 1998, S. 49) schützte ihn vor Arbeitsunzufriedenheit und damit vor der inneren Kündigung.

Die im weiteren zu diskutierenden Sinnansätze haben das Problem des Sinndefizits der Arbeit zur Grundlage und versuchen, das Motivationspro− blem bzw. das Problem der inneren Kündigung durch Ansetzen auf der Sinnebene zu beheben.

Sinnkonzepte sind also geeignet, dem Wertewandel und der Orientierungs− krise in der heutigen Gesellschaft entgegenzutreten; zuletzt wurde die Frage aufgeworfen, ob das in der Managementlehre häufig diskutierte Problem− feld der Motivation bzw. der inneren Kündigung ebenfalls mit Sinnkonzep− ten bearbeitet werden kann. Eine Antwort darauf soll in Kapitel 3 und 4 gefunden werden.

2.2 Welche Bedeutung das Wort Sinn hat

Das Wort ‘Sinn’ wird im alltäglichen Gespräch häufig verwendet. Man spricht von ‘sinnvollem Tun’, einem ‘sinnlosen Unterfangen’ oder ‘völli− gem Unsinn’. Für die weiteren Ausführungen im Rahmen dieser Arbeit ist es wichtig, den Begriff zu präzisieren.

Das ‘Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache’ (Duden) bezeichnet ‘Sinn’ als auf "Verstand und Wahrnehmung" bezogen und gibt die Grund− bedeutung "Gang, Reise, Weg" (Duden 1989, S. 675) an.

Im ‘Brockhaus’ (1998, S. 254−256) heißt es, ‘Sinn’ sei "ein durch zahlrei− che Bedeutungen gekennzeichneter Begriff". Es werden vier Verwendungs− weisen unterschieden:

1. Sinn "ist die Fähigkeit des Organismus, Reize der Außenwelt oder des Körperinnern wahrzunehmen" (a.a.O.).
2. Sinn "heißt [...] die Bedeutung, die Worten, Sätzen, Kunstwerken, Ereignissen und überhaupt Zeichen zukommt hinsichtlich ihres hinwei− senden Bezuges auf das Bezeichnete und dessen Interpretation" (a.a.O.).
3. Sinn "bezeichnet den Zweck, die Endabsicht, das Ziel" (a.a.O.).
4. Sinn "wird die Bedeutung und der Gehalt genannt, den eine Sache, eine Handlung, ein Erlebnis (etwa eine Begegnung) für einen Menschen in einer bestimmten Situation hat" (a.a.O.).

In den nächsten Kapiteln wird der Sinn−Begriff der Logotherapie und des St. Galler Ansatzes näher präzisiert, dabei soll überprüft werden, ob das jeweilige Verständnis einer der oben genannten Verwendungsweisen zuge− ordnet werden kann.

2.2.1 Der Sinn−Begriff für das Individuum: die Logo− therapie

In diesem Kapitel wird die Logotherapie vorgestellt. In den nächsten Absätzen geht es um den Begründer und die Entstehung der Logotherapie.

Begründer der Logotherapie ist Viktor Emil Frankl, ein Wiener Neurologe und Psychiater. Schon während seiner Gymnasialzeit Anfang diesen Jahr− hunderts korrespondierte er mit Sigmund Freud. Als Student der Medizin veröffentlichte er Artikel in der ‘Internationalen Zeitschrift für Psycho− analyse’ und der ‘Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie’.

Nachdem er mit dem Menschenbild Freuds immer unzufriedener wurde und sich von ihm getrennt hatte, löste er später auch seine Bindung an Alfred Adler, um seine eigene therapeutische Richtung zu begründen. Mit der Ver− öffentlichung seiner "Ärztlichen Seelsorge" im Jahre 1946 legte er der psy− chologischen Fachwelt die "Grundlagen der Logotherapie und Existenzana− lyse" (Frankl 1982), so der Untertitel des Werkes, vor.

Die Logotherapie wird in amerikanischen Klassifizierungen häufig als dritte Wiener Schule der Psychotherapie nach der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Invididualpsychologie Alfred Adlers genannt. Die nachfolgende Karikatur hat Viktor Frankl im Alter von 91 Jahren gezeichnet. Sie ist in diese Arbeit aufgenommen worden, weil sie einen guten Einblick in die humorvolle Persönlichkeit Viktor Frankls gibt.

(die Grafik mußte leider der Möglichkeit zum Download zum Opfer fallen)

Abbildung 2: Frankls Karikatur der drei Wiener Schulen der Psycho− therapie (Frankl 1998, S. 324)

Sigmund Freud und Alfred Adler entwickelten aufgrund von Untersuchun− gen mit Neurotikern ihr Bild vom Menschen. Freud konstatierte einen ‘Willen zur Lust’ und Adler einen ‘Willen zur Macht’ als primäre Motiva− tion des Menschen. In beiden Vorstellungen handelte es sich um eine ‘geschlossene’ Sichtweise, die nur den Menschen und seine innerpsychi− schen Impulse betrachtete.

Frankl war der erste, der sich von der Beschäftigung mit kranken Menschen löste und nach Bedingungen fragte, die den Menschen gesund erhalten. Er entwickelte somit nicht nur eine Psychotherapierichtung, sondern auch ein Verständnis vom Menschen und seiner Beziehungen zur (Um−)Welt. Die Logotherapie umfaßt also neben der Motivationstheorie ein Menschenbild und ein Weltbild (vgl. Abb. 3). Für die vorliegenden Ausführungen über die Bedeutung von Sinn für Individuum und Organisation steht das Motivati− onskonzept im Mittelpunkt; es wird ergänzt durch die Philosophie und Anthropologie Frankls.

Dies wird auch anhand der folgenden Abbildung deutlich; sie weist zugleich auf die Reihenfolge hin, in der die Logotherapie in den folgenden Kapiteln vorgestellt wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Die Logotherapie Viktor Frankls (vgl. Lukas 1998, S. 18)

2.2.1.1 Das Menschenbild der Logotherapie

Bei der Beschäftigung mit dem gesunden Menschen entdeckte Frankl die geistige Dimension des Menschen. Zusammen mit der psychischen und somatischen Dimension bildet sie das ‘Konzept der Dimensionalontologie’.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4 : Dimensionalontologie (vgl. Lukas 1998, S. 21)

Anhand der Darstellung zeigt sich, daß Frankl sich nicht wie Freud (Über− Ich, Ich, Es) ein 3−Schichten−Modell vorgestellt hat, sondern daß sich die drei Ebenen des Mensch−Seins seiner Meinung nach vollständig durchdrin− gen.

Die somatische Dimension umfaßt die Leiblichkeit des Menschen, das Zell− geschehen und alle chemischen und physikalischen Prozesse.

Die psychische Dimension ist die Sphäre seiner Gefühle, Empfindungen und Instinkte. Hierzu gehören auch die sozialen Prägungen und erworbenen Verhaltensmuster.

Die geistige Ebene schließlich verkörpert das ‘Urmenschliche’. "Eigenstän− dige Willensentscheidungen (‘Intentionalität’), sachliches und künstleri− sches Interesse, schöpferisches Gestalten, Religiosität und ethisches Emp− finden (‘Gewissen’), Wertverständnis und Liebe sind in der Geistigkeit des Menschen anzusiedeln" (Lukas 1998, S. 20). In der geistigen Ebene erhebt sich der Mensch sozusagen über sich selber, er schwingt sich auf, in die Transzendenz seines Seins (siehe in der Abbildung ‘Menschliche Exi− stenz’). Hier erst kann der Mensch ganz er selbst werden.

Das Modell der Dimensionalontologie erfaßt neben dem Menschen auch alle anderen Lebewesen der Erde. Sie lassen sich nach ihrer Teilhaftigkeit an den verschiedenen Seinsdimensionen gliedern.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vgl. Lukas 1998, S. 21)

An anderer Stelle setzt Frankl sein Menschenbild in Bezug zu dem anderer humanwissenschaftlicher Richtungen: "Vielfach sind die Humanwissen− schaften an das eigentliche Humanum noch gar nicht herangekommen. Sie sind nicht humanistisch, sondern homunkulistisch. Sie handeln von einem Artefakt, einem Kunstprodukt. Was ihnen zugrundeliegt, ist nicht ein Bild vom wirklichen Menschen, [...] sondern [...] das Bild vom Menschen in einem geschlossenen System. Der Mensch wird hingestellt als ein Wesen, das entweder nur auf Reize reagiert (das behavoristische Modell) oder nur Triebe abreagiert (das psychodynamische Modell)" (Frankl 1980, S. 32).

Im Gegensatz dazu sieht Frankl den Menschen mit einer Freiheit des Wil− lens, die auf die Welt ausgerichtet ist. Dort trifft der Mensch auf den Sinn des Lebens, den Frankl seinem Weltbild zugrundelegt.

2.2.1.2 Das Weltbild der Logotherapie

Frankl hat sich also einem Bild vom Menschen als geschlossenes System verweigert und ihn stattdessen als in−Beziehung−zur−Welt−stehend aufge− faßt.

Die Welt ist für Frankl voller Sinn, jede Situation hat einen Aufforderungs− charakter, dem sich der Mensch stellen soll. Frankl sieht Menschsein als In− Frage−Stehen und Leben als Antwort−Sein. Auf jeden Menschen wartet jemand oder etwas in dieser Welt. Soll Leben "gelingen, so kommt es ganz darauf an, sich auf das, was auf einen wartet, einzulassen und erkennend und liebend ‘Antwort’ zu ‘sein’ " (Längle 1988, S. 10). Die Suche nach der Antwort ist für Frankl die Suche nach Sinn.

"Auf der Suche nach Sinn leitet den Menschen das Gewissen. Mit einem Wort das Gewissen ist ein Sinn−Organ. Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, Sinngestalten in konkreten Lebenssituationen zu perzipieren" (Frankl 1996a, S. 26).

In seiner Geisthaftigkeit kann er mit seinem "Sinn−Organ" die Aufforde− rung der Situation erspüren und damit den Sinn erkennen. Dies ist das logo− therapeutische Postulat von der ‘Sinnhaftigkeit des Lebens’ (vgl. Lukas 1998, S. 17). Lukas schließt ihre Ausführungen dazu mit der Folgerung: "Die Logotherapie ist eine positive Weltanschauung" (Lukas 1998, S. 17).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Der Mensch als offenes System

Auch in dieser Abbildung wird die Notwendigkeit der Dreidimensionalität deutlich. Betrachtet man den Menschen zweidimensional, schaut also nur auf Länge und Breite des Zylinders in der Abbildung, dann wird der Mensch wieder zu einem geschlossenen System, nämlich einem Recht− eck (vgl. Frankl 1996a, S. 154).

Der Sinnhaftigkeit des Lebens und jeder seiner Situationen wird der Mensch gerecht, indem er jeweils das Sinnvollste erspürt und verwirklicht. Diese Verwirklichung nennt die Logotherapie ‘individuelle Sinnerfüllung’. Böck− mann schreibt dazu: "Sinn ist [...] kein eindeutiger Begriff, sondern schließt

− als Werteverwirklichung in einer Situation − immer die Vielfalt der Mög− lichkeiten ein. Sinn ist somit individuelle Werteverwirklichung in einer konkreten Situation." (Böckmann 1980, S. 92) Hieraus wird deutlich, daß Sinn eigentlich nicht direkt definiert werden kann. Alles, was in einer kon− kreten Situation eines individuellen Menschen Werte verwirklicht, ist ‘sinn− voll’.

"Die Logotherapie begreift deshalb Sinn als eine situative Einschätzung, als eine vom Individuum nach seinem ganz persönlichen Sinn−Maßstab zu treffende, auf die jeweilige Situation bezogene Entscheidung" (Böckmann 1980, S. 85). Diese Definition deckt sich mit der vierten Verwendungsweise des Brockhaus (vgl. S. 254). Am Ende eines Lebens summieren sich die sinnvollen Momente zum ‘Sinn des Lebens’ für diesen Menschen.

2.2.1.3 Das Motivationskonzept der Logotherapie

Das primäre Motiv des Menschen ist also der ‘Wille zum Sinn’. Das ist es, was den Menschen zutiefst berührt und antreibt. Für Frankl ergeben sich drei Möglichkeiten, "dem Dasein Sinn zu geben: indem man schöpferische Werte verwirklicht − indem man Erlebniswerte verwirklicht − und indem man Einstellungswerte verwirklicht. Die Erfüllung und Verwirklichung solcher Sinn− und Wertmöglichkeiten ist es, was einem abverlangt und auf− getragen ist." (Frankl 1998, S.131)

Schöpferische Werte verwirklichen sich durch Kreativität und Tun, indem der Mensch einen bleibenden Wert schafft, so z.B. ein Bild malt, die Woh− nung renoviert oder − übertragen auf eine Arbeitssituation − eine Heizung montiert.

Erlebniswerte ergeben sich z.B. durch einen Konzertbesuch oder − am

Arbeitsplatz − durch Kollegialität und Solidarität zwischen Kollegen.

Die dritte Gruppe von Werten, die Einstellungswerte, bezeichnet Frankl als die wichtigsten überhaupt: die Einstellungswerte. Sieht sich der Mensch in einer Situation, in der er nicht mehr handeln kann, so kann er sich noch zu ihr einstellen. So z.B. ein Sterbender, der den nahenden Tod innerlich abwehren oder sich vertrauensvoll in ihn hineinbegeben kann. Daß auch diese Wertekategorie eine Bedeutung für die Arbeitswelt hat, soll im Kapi− tel über die Anwendung der Logotherapie auf das Individuum deutlich wer− den.

Die Logotherapie geht davon aus, daß der Mensch zwischen den einzelnen Wertekategorien kompensieren kann. Ist ihm die Verwirklichung von Wer− ten einer bestimmten Kategorie verwehrt, z.B. der Erlebniswerte, so heißt es nicht, daß der Mensch dadurch seelischen Schaden erleidet, er kann seinem Mensch−Sein genauso gerecht werden, in dem er auf die anderen beiden Kategorien ausweicht und dort Werte verwirklicht. "Kompensation heißt Ausgleich ohne Werteverlust" (Böckmann 1999, S. 85).

An dieser Stelle zeigt sich ein großer Unterschied der Franklschen Motiva− tionslehre gegenüber anderen Motivationstheorien. Besonders in der Mana− gementlehre wird noch oft die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow als Motivationstheorie proklamiert. Maslow ging mit seinem Regressionsprin− zip davon aus, daß der Mensch auf die Stufe der Bedürfnisse zurückfällt, die nicht befriedigt ist. Wer Hunger hat, verfolgt nicht eher wieder seine sozia− len Bedürfnisse, eher er satt ist. Nicht nur Ärzte und Helfer in Kastastro− phenfällen, die über 10 Stunden ununterbrochen Menschen versorgen und damit Leben retten, sind ein widerlegendes Beispiel. Maslow hat den ‘Wil− len zum Sinn’ als primäre Motivation später anerkannt (1966, S. 107).

Wichtig erscheint es, noch einmal darauf hinzuweisen, daß Sinnerfüllung für Viktor Frankl individuelle Sinnerfüllung bedeutet. Für jeden Menschen, in jeder Situation ergibt sich ein anderer Sinn. Zwei verschiedene Menschen können sich in der gleichen Situation verschieden verhalten und trotzdem das je sinnvollste tun. Frankl führt hier als Beispiel seine eigene Situation als Arzt mit einem zu behandelnden Patienten an. Beide befinden sich in einem Raum zur gleichen Zeit. Für den Patienten liegt der Sinnanruf der Situation darin, sein Leiden zu beschreiben, dann kann ihm geholfen wer− den, für ihn als Arzt ist es Sinnerfüllung, zuzuhören, dann kann er helfen (vgl. Frankl 1998).

"Bei der Sinnerfüllung treffen zwei Entsprechungen aufeinander: ein ‘inne− rer’ Anteil, eben dieses Streben und Sehnen des Menschen, sowie ein ‘äußerer Anteil’, das Sinnangebot der Situation" (Lukas 1998, S. 17). Die− ser ‘innere’ Anteil ist bei jedem Menschen aufgrund der individuellen Bio− graphie verschieden.

2.2.1.4 Übertragung auf die Arbeitswelt

Das Konzept der Logotherapie wird seit ca. 30 Jahren von verschiedenen Autoren auf die Arbeitswelt übertragen und vielfach in der Praxis verwertet. In diesem Kapitel sollen verschiedene Ansätze und Umsetzungen vorgestellt werden.

Renommiertester Vertreter der Logotherapie für die Arbeitswelt ist Walter Böckmann. Er hat die Franklschen Wertekategorien für die Arbeitswelt umbenannt, eine Kategorie untergliedert und einen Faktor hinzugefügt. Somit kommt er auf fünf in der Praxis für sinnerfülltes Arbeiten wichtige Wertekategorien (Böckmann 1999, S. 123); in Klammern stehen jeweils die ursprünglichen Kategorien von Frankl:

- innovative und/oder (re)produktive Werte (kreative Werte)
- sozial gebundene Erlebniswerte, die nur mit anderen zusammen ver− wirklicht werden können (Erlebniswerte)
- sozial ungebundene Erlebniswerte, die man für sich allein verwirklichen kann (Erlebniswerte)
- ideelle Werte (Einstellungswerte)
- Werte der Persönlichkeitsentwicklung; unter der Voraussetzung akzepta− bler materieller, ergonomischer sowie arbeitsökologischer Bedingungen

Böckmann hat auch einen Sinnerfüllungs− und −erwartungstest entwickelt. Seine Veröffentlichungen beziehen sich vornehmlich auf industrielle Arbeit. Böckmann hat seinen Ausführungen ein Systemverständnis zugrundegelegt und damit nicht nur über die Situation des Individuums geschrieben, son− dern für dessen Betrachtung einen Hintergrund geschaffen. Dabei ist zu beachten, daß es sich lediglich um einen Hintergrund handelt, Böckmann hat keinen eigenständigen Organisationsansatz geschaffen, wie es der St. Galler Ansatz darstellt. Seine Ausführungen zur Organisation sollen näher erläutert werden, wenn es in Kapitel 5 um den Vergleich mit der Manage− mentlehre geht.

Anfang der 70er Jahre betreute Viktor Frankl selbst eine Doktorarbeit, als er an der United States International University in San Diego eine Professur innehatte: "Motivation and Meaning: Frankl‘s Logotherapy in the work situation" von George Andrew Sargent. "The problem of this study is whe− ther work motivation can be seen as one manifestation of man‘s ‘will to meaning’ as defined in Viktor Frankl’s logotherapy" (Sargent 1973, S. 1). Mit seiner Magisterarbeit zwei Jahre zuvor war er der Erste, der einen "explicit test of Dr. Viktor Frankl’s will to meaning theory in the work situation" (Sargent 1971, S. I) durchführte. Sargent konstatierte einen Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit und Frankls Willen zum Sinn und stellte zwei Hypothesen auf: Zum einen vermutete er einen direk− ten, signifikanten Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit und Sin− nerfüllung (purpose in life) und zum anderen, daß steigendes Engagement in der Arbeit (job involvement) die Korrelation von Arbeitszufriedenheit und Sinnerfüllung erhöhen würde (vgl. Sargent 1971, S. 46). Zentrales Ergebnis der durchgeführten Tests war, daß Arbeiter mit ‘high purpose in life orientation’ eine allgemein hohe Arbeitszufriedenheit angaben und ihre Arbeit als sehr wichtigen Teil ihres Lebens betrachteten. Umgekehrtes galt für Arbeiter ohne einen hohen Grad an Sinnorientierung. In der Promotion verfolgte Sargent ähnliche Fragestellungen, die hier nicht weiter von Inter− esse sind. Wichtig für diese Arbeit ist vielmehr, aufzuzeigen, daß Frankls Konzept in der Arbeitswelt Beachtung findet und seine Aussagen über den Menschen auch in der Arbeitssituation Bestätigung finden.

Eine Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts− und Verwaltungsführung sowie Wirtschaftspädagogik in Wien hat sich mit Anwendungen der Logo− therapie auf das Management beschäftigt. Die Ergebnisse der Arbeit werden in Kapitel 4 und 5 noch erläutert.

Romanos−Hofer bezieht das Weltbild der Logotherapie auf die Arbeitswelt, indem er schreibt: "Wer einen Beruf hat, so heißt es, wird von seinem Leben zu einer Aufgabe berufen" (1994, S. 28).

Am Managementzentrum St. Gallen arbeitet Fredmund Malik mit der Logotherapie. Er hält die "Theorie Frankls für das Beste, was je über Moti− vation gesagt wurde" (Malik 1997, S. 36).

Probst (1987) vom Institut für Betriebswirtschaft an der Hochschule St. Gallen bezieht sich in seinem Konzept zur "Selbst−Organisation" ebenfalls auf Viktor Frankl. Er betrachtet "Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht" und geht dabei auch auf den Faktor ‘Sinn’ ein. In seinen Ausführungen zum symbolischen Organisieren geht er auch auf die Frage der Sinnfindung bzw. Sinnvermittlung ein, wie sie von Viktor Frankl und dem weiter unten diskutierten Ansatz von Dyllick diskutiert wurden (vgl. S. 108−112).

Auch Hartfelder (1989) und Sander (1991) haben sich in ihren Dissertatio− nen an der Hochschule St. Gallen mit den Gedanken Frankls auseinander− gesetzt.

Es gibt also zahlreiche Verbindungen zwischen der Logotherapie und der St. Galler Managementlehre.

In der Zeitschrift ManagerSeminare (1998) zeigt Susanne Motamedi die Bedeutung der Logotherapie für Manager anhand der paradoxen Intention auf. Diese Technik der Logotherapie dient dem humorvollen Umgang mit Ängsten: "Im Management−Training kann die Logotherapie in allen Situa− tionen hilfreich eingesetzt werden, in denen jemand in einem bestimmten Kontext − zum Beispiel bei einer Rede vor Publikum − Angst verspürt" (Motamedi 1998, S. 29). Ein weiterer Kontext zur Angstbewältigung wird in Kapitel 3.2.3 anhand eines Beispiels diskutiert.

2.2.2 Der Sinn−Begriff für die Organisation: der St. Galler Ansatz

Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln der Sinnbegriff für die Anwen− dung auf das Individuum erläutert wurde, geht es hier um den Sinnbegriff für die Organisation. Damit wechselt die Betrachtungsebene, das Erkennt− nisziel für dieses Kapitel ist ein Organisationsverständnis, dessen Kennzei− chen das Kriterium ‘Sinn’ ist.

Grundlage der Ausführungen über die Organisation ist die St. Galler Mana− gementlehre. Sie ist aus der Systemorientierten Managementlehre hervor− gegangen, die von Hans Ulrich an der Hochschule St. Gallen entwickelt wurde. Der St. Galler Ansatz wurde ausgewählt, weil er sich von seinem Ansatz her und in seinen bisherigen Veröffentlichungen, intensiv mit der Sinnfrage auseinandergesetzt hat.

Zu der Bezeichnung ‘St. Galler Ansatz’ sei darauf hingewiesen, daß sich das Institut für Betriebswirtschaft an der Hochschule St. Gallen seit Jahr− zehnten mit Organisationskonzepten beschäftigt. Dabei wurden die jeweils entwickelten Ansätze stets bewußt offen konzipiert. Neben Hans Ulrich haben noch andere Professoren Ansätze zum Verständnis der Organisation entwickelt, die ebenfalls unter dem Namen ‘St. Galler Ansatz’ diskutiert werden. Um ein Organisationsverständnis zu entwickeln, wird der Begriff ‘St. Galler Ansatz’ für den Ansatz von Hans Ulrich verwendet.

In den nächsten Unterkapiteln geht es um den Objekt− und Problembereich sowie die Auseinandersetzung mit der Humanebene sozialer Systeme.

2.2.2.1 Objekt− und Problembereich des St. Galler Ansatzes

Die St. Galler Managementlehre fußt auf der systemorientierten Manage− mentlehre, die die "betrieblichen Erkenntnisobjekte als Systeme" (Gabler 1997, S. 3699) interpretiert. Diese kurze Definition soll genügen; für die weitere Betrachtung des St. Galler Ansatzes sind vor allem der Objektbe− reich, die zu managenden Objekte, und der Problembereich wichtig.

Der Objektbereich wird bewußt weit gefaßt: Er umfaßt "alle zweckgerich− teten Institutionen der menschlichen Gesellschaft" (Ulrich 1984a, S.1). In diesem Sinne ist auch der Begriff Organisation zu verstehen, wie er hier verwendet wird. Im Gegensatz zur Unternehmung muß die Organisation nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein; eine Zweckgerichtetheit reicht aus.

Der Problembereich der Systemorientierten Managementlehre ist das "Gestalten, Lenken und Entwickeln gesellschaftlicher Instititutionen" (Ulrich 1984a, S. 5).

Gestalten meint dabei, daß die Institution überhaupt erst geschaffen werden muß und als zweckgerichtete, handlungsfähige Ganzheit aufrechterhalten bleibt. Dies weist daraufhin, daß soziale Systeme von sich aus in der Natur nicht vorkommen.

Unter Lenken wird das "Bestimmen von Zielen und das Festlegen, Auslösen und Kontrollieren zielgerichteter Aktivitäten des Systems, bzw. seiner Komponenten und Elemente" (Ulrich 1984a, S. 8) verstanden.

"Entwickeln schließlich bedeutet, die gestalterischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich selbstlenkende, zweckorientierte soziale Systeme weiter entwickeln können und damit in die Lage versetzt werden, sich ver− ändernden Umweltbedingungen [...] anzupassen" (Hartfelder 1989, S. 54).

Somit sind Lenken, Gestalten und Entwickeln Teilfunktionen des Manage− ments, "die sich in erster Linie durch eine unterschiedliche zeitliche und inhaltliche Reichweite der damit beabsichtigten Wirkungen unterscheiden" (Ulrich 1984a, S. 15).

2.2.2.2 Mehrebenenbetrachtung sozialer Systeme − die Auseinandersetzung mit der Humanebene

Eine Organisation soll hier als soziales System aufgefaßt werden, also eine Gruppe von Menschen, die in der zweckgerichteten Institution zusammen leben und bzw. oder arbeiten. Dies kann eine Familie sein, ein Sportverein oder eine Unternehmung. Letztere ist für diese Arbeit am meisten von Bedeutung.

Für die Betrachtung von Systemen ist es wichtig, daß sie in ihrer Komple− xität und ihren Verhaltensmöglichkeiten vollständig erfaßt werden. Häufig werden sie auf zu niedrigem Niveau untersucht und damit in ihrem Wesen nicht verstanden (vgl. Boulding 1984; zit. n. Hartfelder 1989, S. 55). Dies gilt gerade auch für das Management sozialer Systeme und deren Probleme. Lange standen regel− und steuerungstechnische Überlegungen im Vorder− grund der Organisationsforschung und Unternehmensführung. Die St. Gal− ler Managementlehre versucht, diesen Mangel mit ihrem Ansatz zu behe− ben.

Die folgende Abbildung stellt die Systemarten und Problemebenen nach Hans Ulrich vor, auf dessen Grundlage soziale Systeme betrachtet werden sollen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Systemarten und Problemebenen nach H. Ulrich (1984b)1

Das Regelkreismodell der Kybernetik aus der Physik (siehe linken Block in der Abbildung) reicht aus, um ‘Tote Systeme’ zu erfassen (z.B. eine Hei− zungsanlage). Zur Erfassung biologischer Systeme (mittlerer Block) wurden Gedanken aus dem Bereich der Biologie zu Evolution und Lebensphasen hinzugenommen, so daß auch Phänomene wie Wachstum und Sterben bei den ‘Lebendigen Systemen’ erklärt werden konnten (z.B. der Organismus Mensch). Vor allem unter dem Titel ‘evolutionäres Management’ wurde versucht, diese Eigenschaften von lebendigen Systemen auf humane Systeme zu übertragen.

Zur Erfassung ‘Humaner Systeme’ (rechter Block) reicht dies jedoch nicht aus. Zwar sind lebendige und humane Systeme zielbewußte Systeme, d.h. der Organismus und die Organisation sind auf ein Ziel ausgerichtet (z.B. Überleben), jedoch nur die Organisation enthält zielbewußte Ele− mente. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Der Organismus Mensch enthält z.B. Herz und Nieren, die beide eine Aufgabe erfüllen. In der industriellen Organisation arbeiten der Personalchef und der Mechaniker, die auch beide eine Aufgabe erfüllen. Das Herz und die Nieren im Organismus ‘wissen’ nichts von der Existenz des anderen und könnten auch ihre Funktionen nicht tauschen (wollen). In der Organisation, im Beispiel der Personalchef und der Mechaniker, hingegen, wissen sehr wohl um die Existenz, die Aufgaben und Fähigkeiten des anderen. "In einem Organismus kann nur das Ganze einen Willen zeigen, aber keines seiner Teile" (Ackhoff & Emery 1975, S. 231). Soziale Systeme weisen eine teleologische Struktur auf, d.h. in ihnen kommen Absichten, Motive und Ziele bewußt handelnder Menschen vor. Dieser Tatbestand wird mit der herkömmlichen Sichtweise nicht hinrei− chend erfaßt.

Für die weitere Betrachtung ist es wichtig, das spezifisch Humane in sozia− len Systemen zu erfassen (vgl. den rechten Block in Abbildung 6).

2.2.2.3 Sinn als Charakteristikum der Humanebene

Was ist das spezifisch Humane in sozialen Systemen? Im obigen Kapitel wurde deutlich, daß sich soziale Systeme durch zielbewußte Elemente von anderen Systemen unterscheiden. Diese zielbewußten Elemente sind Men− schen. Was kennzeichnet den Menschen?

Dieter Hartfelder, damals ein Assistent von Hans Ulrich an der Hochschule St. Gallen, versucht in seinem Aufsatz ‘Management als Sinnvermittlung?’ darauf aus der Anthropologie, Psychologie und Soziologie eine Antwort zu finden. Interessanterweise kommt er dazu, Viktor Frankl zu zitieren: "Viel− fach sind die Humanwissenschaften an das eigentliche Humanum noch gar nicht herangekommen. Sie sind nicht humanistisch, sondern homunkuli− stisch. Sie handeln von einem Artefakt, einem Kunstprodukt." (Frankl 1980; zit. n. Hartfelder 1984, S. 376). Er kommt zu dem Schluß, daß "dem Ansatz Frankls zugestanden werden [muß], dass er von einem Menschenbild aus− geht, das der Realität sicher eher entspricht, als die von ihm kritisierten Ansätze. Zudem scheint seine Argumentation zumindest plausibel, wenn man an jene Menschen denkt, die bereit waren oder sind, für politische oder religiöse Ideen ihre biologische Existenz zu riskieren" (Hartfelder 1984, S. 377). Dies trifft auch für Gruppen von Menschen zu, wie z.B. Kreuzzüge belegen. Hartfelder resümiert: "Sinn tritt also nicht nur als individuelles Phänomen in Erscheinung, sondern erklärt auch das Verhalten von Kollek− tivitäten (sic!), von sozialen Systemen" (1984, S. 377). Hartfelder überträgt also seine aus der Logotherapie übernommene Argumentation auf das soziale System.

[...]


1 Eine genauere Darstellung findet sich bei Probst & Ulrich (1988).

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung von Sinn für Individuum und Organisation - eine vergleichende Betrachtung von Logotherapie und Managementlehre
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Psychologie sozialer Prozesse)
Note
1.3
Autor
Jahr
1999
Seiten
87
Katalognummer
V487
ISBN (eBook)
9783638103466
Dateigröße
768 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ausgezeichnet mit dem Wissenschaftspreis zur Förderung von Wirtschaftethik, Kommunikation und Beziehungskompetenz der Plansecur-Stiftung, Kassel, 2001
Schlagworte
Personal- und Organisationsentwicklung, Wirtschaftsethik, Personalführung, Kulturmanagement
Arbeit zitieren
Markus Classen (Autor:in), 1999, Die Bedeutung von Sinn für Individuum und Organisation - eine vergleichende Betrachtung von Logotherapie und Managementlehre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/487

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