Vorhersehbarkeit ist nicht gleich Zwangsläufigkeit?

Der Einfluss der Selbstrelevanz und Kontrollierbarkeit eines negativen Ereignisausgangs auf den Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck im Kontext des Rückschaufehlers


Diplomarbeit, 2005

303 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

Zusammenfassung

1. Einleitung

2. Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Der Rückschaufehler: Konzept, Untersuchungsparadigmen und Operationalisierung
2.2 Der Rückschaufehler: Einheitliches Phänomen oder separate Komponenten?
2.2.1 Traditionelle Sichtweise
2.2.2 Primärer, sekundärer und tertiärer Rückschaufehler
2.2.3 Drei-Komponenten-Ansatz nach Blank
2.2.3.1 Entwicklung und Konzeption des Drei-Komponenten-Ansatzes
2.2.3.2 Empirische Befunde aus der Literatur
2.2.3.3 Empirische Studien der Blank-Gruppe
2.3 Erklärungsansätze des Rückschaufehlers
2.4 Empirische Befunde und theoretische Überlegungen: Der Einfluss negativer, selbstrelevanter Ausgänge
2.4.1 Selbstwertschutz durch Verringerung des Vorhersehbarkeitseindrucks
2.4.1.1 Hypothese und Befunde von Mark und Mellor
2.4.1.2 Ein früher widersprüchlicher Befund: Die Studie von Walster (1967)
2.4.1.3 Alternativerklärung der Befunde von Mark und Mellor:
Die Rolle der Involviertheit
2.4.1.4 Vermeintliche Bestätigung der Hypothese von Mark und Mellor
2.4.1.5 Bestätigung der Hypothese von Mark und Mellor: Orthogonale Manipulation der Valenz und Selbstrelevanz bei Mark et al. (2003)
2.4.1.6 Zusammenfassung und Diskussion
2.4.2 Retroaktiver Pessimismus: Enttäuschungslinderung
durch Erhöhung des Zwangsläufigkeitseindrucks
2.4.2.1 Hypothese und Befunde von Tykocinski und Mitarbeiter/innen
2.4.2.2 Weitere Befunde und Gegenbefunde zum retroaktiven Pessimismus: Vergewaltigungs-Szenarien
2.4.2.3 Zusammenfassung und Diskussion
2.4.3 Die Mediatorfunktion der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit
2.4.3.1 Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus auf kontrollierbare Ausgänge? Die Diskussion bei Mark et al. (2003)
2.4.3.2 Sind Schuldgefühle eine notwendige Voraussetzung für den selbstwertschützenden Mechanismus? Eine Studie von Pezzo (2003)
2.4.3.3 Die Rolle der Kontrollierbarkeit beim retroaktiven Pessimismus:
Die Studie von Tykocinski und Steinberg (2005)
2.4.3.4 Zusammenfassung und Diskussion
2.4.4 Explizite Erfassung von Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck
in einer Studie: Ergebnisse der Blank-Gruppe
2.4.5 Zusammenfassung und Diskussion
2.5 Fragestellung und Hypothesen
2.5.1 Einfluss der Selbstrelevanz und Kontrollierbarkeit
2.5.2 Einfluss der Ausgangsinformation und Kontrollierbarkeit
2.5.3 Dissoziation des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks
2.5.4 Weitere Untersuchungszwecke

3. Methode
3.1 Überblick
3.2 Voruntersuchungen
3.2.1 Voruntersuchung 1: Auswahl der Szenarien
3.2.2 Voruntersuchung 2: Überprüfung des Einzelitem-Ansatzes
3.3 Versuchsplanung
3.4 Untersuchungsmaterial
3.5 Versuchspersonen
3.6 Durchführung

4. Vorbereitende Datenanalyse und Auswertung
4.1 Vorbereitende Datenanalyse
4.1.1 Ausreißer-Analyse
4.1.2 Skalen-Konstruktion
4.1.2.1 Vorüberlegungen
4.1.2.2 Gesamt-Skalen-Ansatz
4.1.2.3 Ansatz-der-unspezifischen-Items
4.1.2.4 Fazit zur Skalenkonstruktion
4.1.3 Prüfung auf Normalverteilung
4.1.3.1 Gesamt-Skalen-Ansatz
4.1.3.2 Ansatz-der-unspezifischen-Items
4.1.4 Manipulations-Kontrolle
4.2 Auswertung

5. Ergebnisse
5.1 Einfluss der Selbstrelevanz und Kontrollierbarkeit
5.1.1 Gesamt-Skalen-Ansatz
5.1.1.1 Gesamt-Ergebnisse über alle Szenarien
5.1.1.2 Ergebnisse für das eBay-Szenario
5.1.1.3 Ergebnisse für das Notebook-Szenario
5.1.1.4 Ergebnisse für das Prüfungs-Szenario
5.1.2 Ansatz-der-unspezifischen-Items
5.1.2.1 Gesamt-Ergebnisse über alle Szenarien
5.1.2.2 Ergebnisse für das eBay-Szenario
5.1.2.3 Ergebnisse für das Notebook-Szenario
5.1.2.4 Ergebnisse für das Prüfungs-Szenario
5.1.3 Gegenüberstellung und Zusammenfassung
5.2 Einfluss der Ausgangsinformation und der Kontrollierbarkeit
5.3 Dissoziation des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks
5.3.1 Interaktion der Art der abhängigen Variable mit der Selbstrelevanz
5.3.2 Interaktion der Art der abhängigen Variable mit der Ausgangsinformation
5.4 Post-hoc-Analysen

6. Diskussion
6.1 Einfluss der Selbstrelevanz und Kontrollierbarkeit
6.2 Einfluss der Ausgangsinformation und der Kontrollierbarkeit
6.3 Dissoziation des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks
6.4 Fazit und Ausblick

7. Literatur

Anhang
A1. Exkurs: Sprachlich-logische Beziehung von „Vorhersehbarkeit“ und „Zwangsläufigkeit“
A2. Voruntersuchung 1: Auswahl der Szenarien
A2.1 Versuchsplanung
A2.2 Untersuchungsmaterial
A2.3 Versuchspersonen
A2.4 Durchführung
A2.5 Auswertung
A2.6 Ergebnisse und Diskussion
A2.6.1 Skalenbildung
A2.6.2 Szenarienauswahl
A2.6.3 Unterschiede der ausgewählten Szenarien
A3. Voruntersuchung 2: Überprüfung des Einzelitem-Ansatzes
A3.1 Versuchsplanung
A3.2 Untersuchungsmaterial
A3.3 Versuchspersonen
A3.4 Durchführung
A3.5 Auswertung
A3.6 Ergebnisse und Diskussion
A3.6.1 Autounfall-Szenario
A3.6.2 Münzwurf-Szenario
A3.7 Implikationen für die Hauptuntersuchung
A4. Szenarien der Hauptuntersuchung
A4.1 Szenario 3: eBay
A4.1.1 Akteur-Perspektive, hohe Kontrollierbarkeit
A4.1.2 Akteur-Perspektive, niedrige Kontrollierbarkeit
A4.1.3 Beobachter-Perspektive, hohe Kontrollierbarkeit
A4.2 Szenario 8: Notebook
A4.2.1 Akteur-Perspektive, hohe Kontrollierbarkeit
A4.2.2 Akteur-Perspektive, niedrige Kontrollierbarkeit
A4.3 Szenario 11: Prüfung
A4.3.1 Akteur-Perspektive, hohe Kontrollierbarkeit
A4.3.2 Akteur-Perspektive, niedrige Kontrollierbarkeit
A5. Ergebnis-Tabellen zum Einfluss der Ausgangsinformation und der Kontrollierbarkeit
A5.1 Gesamt-Skalen-Ansatz
A5.1.1 Gesamt-Ergebnisse über alle Szenarien
A5.1.2 Ergebnisse für das eBay-Szenario
A5.1.3 Ergebnisse für das Notebook-Szenario
A5.1.4 Ergebnisse für das Prüfungs-Szenario
A5.2 Ansatz-der-unspezifischen-Items
A5.2.1 Gesamt-Ergebnisse über alle Szenarien
A5.2.2 Ergebnisse für das eBay-Szenario
A5.2.3 Ergebnisse für das Notebook-Szenario
A5.2.4 Ergebnisse für das Prüfungs-Szenario
A6. Diagramme zur Dissoziation des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks
A6.1 Interaktion der Art der abhängigen Variable mit der Selbstrelevanz
A6.1.1 Gesamt-Skalen-Ansatz: Interaktionsdiagramme
A6.1.2 Ansatz-der-unspezifischen-Items: Interaktionsdiagramme
A6.2 Interaktion der Art der abhängigen Variable mit der Ausgangsinformation
A6.2.1 Gesamt-Skalen-Ansatz: Interaktionsdiagramme
A6.2.2 Ansatz-der-unspezifischen-Items: Interaktionsdiagramme
A7. CD-ROM-Inhaltsverzeichnis

Selbständigkeitserklärung

Zusammenfassung

In der Literatur finden sich widersprüchliche Befunde zum Rückschaufehler für negative, selbstrelevante Ereignisausgänge: Teilweise wird von einer Erhöhung, teilweise von einer Verringerung des Rückschaufehlers berichtet. Es soll versucht werden, diese Widersprüche aufzulösen, indem zwischen (a) unterschiedlich stark kontrollierbaren Ereignisausgängen und (b) verschiedenen Komponenten des Rückschaufehlers unterschieden wird. Es wird die Annahme überprüft, dass es bei kontrollierbaren Ereignisausgängen selbstwertschützend ist, den Vorhersehbarkeitseindruck für den Ausgang zu reduzieren, um sich von Schuldgefühlen zu entlasten (selbstwertschützender Mechanismus; Mark et al., 2003), während es bei unkontrollierbaren Ereignisausgängen die Enttäuschung lindert, den Zwangsläufigkeitseindruck zu erhöhen (retroaktiver Pessimismus; Tykocinski & Steinberg, 2005). Diese selbstdienlichen Prozesse sollten ausschließlich in selbstrelevanten Situationen auftreten. Daher versetzten sich die Vpn der Experimentalgruppe (n =90) als Akteure in drei vorgegebene Szenarien hinein und gaben retrospektiv Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitsurteile für deren negative Ausgänge an. Diese Urteile wurden mit zwei Kontrollgruppen (jeweils n =60) verglichen, für die (a) die Ausgänge keine Selbstrelevanz besaßen bzw. (b) die keine Ausgangsinformationen erhalten hatten. Als weiterer Faktor wurde innerhalb jeder Gruppe die Kontrollierbarkeit (hoch vs. niedrig) des Ausgangs variiert. Trotz recht uneinheitlicher Befunde zu den drei Szenarien konnte gezeigt werden, dass in der Experimentalgruppe bei kontrollierbaren Ausgängen primär die wahrgenommene Vorhersehbarkeit verringert wird. Es wird gefolgert, dass der selbstwertschützende Mechanismus ausschließlich für kontrollierbare Ereignisausgänge sowie spezifisch auf den Vorhersehbarkeitseindruck wirkt. Der retroaktive Pessimismus ließ sich in der erwarteten Form nicht nachweisen.

Schlagwörter: Rückschaufehler – retroaktiver Pessimismus – selbstwertschützender Mechanismus – Vorhersehbarkeit – Zwangsläufigkeit – Kontrollierbarkeit – Enttäuschung – Selbstvorwürfe

1. Einleitung

Eine wissenschaftliche Arbeit beginnt meist mit einer – möglichst kurzen – Definition des zu untersuchenden Phänomens. Das ist jedoch dann schwierig, wenn gerade – wie in der vorliegenden Arbeit – die bisher gebräuchlichen Definitionen des Phänomens zur Diskussion gestellt werden. Daher wird der Gegenstand der vorliegenden Arbeit hier anhand zweier beispielhafter Untersuchungen eingeführt und illustriert.

Erste Untersuchung. In einer Stadt entlässt einer der Hauptarbeitgeber der Region einen Großteil seiner Belegschaft. Einige Monate nach den Entlassungen werden (a) die Entlassenen, (b) die im Betrieb verbliebenen Mitarbeiter und (c) die Einwohner der Stadt, die nicht direkt mit dem Betrieb in Verbindung stehen oder standen, befragt, wie vorhersehbar diese Entlassungen waren. Das Ergebnis der Befragung ergibt, dass die direkt Betroffenen, d.h. die entlassenen Mitarbeiter, die Entlassungen als relativ unvorhersehbar einstufen. Die im Betrieb verbliebenen Mitarbeiter geben gegenüber diesen Entlassenen eine signifikant höhere Vorhersehbarkeit der Entlassungen an. Die unbeteiligten Einwohner schließlich messen den Entlassungen eine nochmals signifikant höhere Vorhersehbarkeit bei. – So zumindest fielen die Ergebnisse einer Feldstudie aus, die Mark und Mellor (1991) durchführten.[1]

Dabei interpretieren Mark und Mellor (1991) die Stufen Entlassene, im Betrieb Verbliebene und unbeteiligte Einwohner als Operationalisierung des Ausmaßes der Selbstrelevanz des negativen Ereignisses Entlassungen und folgern: Je höher die Selbstrelevanz eines negativen Ereignisses ist, desto geringer fällt der Eindruck aus, das Ereignis sei vorhersehbar gewesen. Verursacht werde dies durch einen selbst(wert)dienlichen Schutzmechanismus (self-serving bias), der verhindere, dass man sich Selbstvorwürfe machen muss, weil man den negativen Ausgang nicht abgewendet hat. Es resultiert eine Inhibierung (d.h. eine Verringerung oder sogar eine Eliminierung) des Rückschaufehlers. Für Mark und Mellor (1991) bedeutet Rückschaufehler (hindsight bias) dabei „the tendency, once the outcome of an event is known, to overestimate how predictable that outcome was in foresight“ (S.569).

Zweite Untersuchung. In Israel stand im Mai 1999 die Wahl des Premierministers unmittelbar bevor. Wenige Tage vor der Wahl wurden Studierende befragt, für welchen Kandidaten sie stimmen werden und wie wahrscheinlich sie den Wahlsieg der einzelnen Kandidaten einschätzen. Zwei bis drei Tage nach der Wahl, aus der Barak als Gewinner hervorging, wurden die Studierenden erneut befragt, wie hoch – rückblickend betrachtet – die Chancen für die einzelnen Kandidaten standen, die Wahl zu gewinnen. – Das Ergebnis dieser Studie von Tykocinski (2001, Studie 2) war: Vor allem die Personen, die nicht für Barak, sondern für den Gegenkandidaten Netanjahu gestimmt hatten, schätzten im Nachhinein die Chancen für Baraks Sieg signifikant höher ein als vor der Wahl.[2] Die Wähler Baraks zeigten hingegen nur eine marginale Zunahme in ihrer retrospektiven Wahrscheinlichkeitseinschätzung für den Sieg Baraks. Dabei war das Ausgangsniveau der Wahrscheinlichkeitseinschätzung für Baraks Sieg, also die Daten der Befragung vor der Wahl, bei den Wählern Baraks und denen Netanjahus annähernd identisch.

Folglich schätzten beide Wählergruppen (die Wähler Baraks und die Wähler Netanjahus) die Wahrscheinlichkeit, dass Barak gewinnen würde, rückblickend höher ein und zeigten zumindest tendenziell einen „klassischen“ Rückschaufehler. Allerdings waren es vor allem diejenigen Personen, die einen negativen selbstrelevanten Ausgang erfahren haben (nämlich dass der von ihnen favorisierte Kandidat Netanjahu verliert), die mit einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeitseinschätzung für den Sieg Baraks reagierten. Tykocinski (2001) erklärt dies mit dem Phänomen des re­troaktiven Pessimismus:

… the retroactive estimates of outcome probabilities may serve to render unwelcome outcomes more palatable. For people who voted for Netanyahu and were no doubt disappointed by the election results, the increase in the retroactive odds for Barak represents not just hindsight but probably an initial step toward coming to terms with the inevitable. (S.380)

Nach Blank und Nestler (in Druck, Ms. S.3) lassen sich die von Tykocinski (2001) verwendeten Wahrscheinlichkeitseinschätzungen als Operationalisierungen eines Zwangsläufigkeitseindrucks auffassen: Eine Einschätzung 100%iger Wahrscheinlichkeit bedeute demnach, dass der Ausgang zwangsläufig eintreten müsse.[3] Gemäß der üblichen Auffassung in der Rückschaufehler-Forschung würden beide Operationalisierungen – die Vorhersehbarkeitseinschätzungen bei Mark und Mellor (1991) sowie die Wahrscheinlichkeits- bzw. Zwangsläufigkeitseinschätzungen bei Tykocinski (2001) – als äquivalente, austauschbare Operationalisierungen des Rückschaufehlers aufgefasst werden (z.B. Blank & Nester, in Druck; Blank, von Collani & Fischer, 2004; vgl. auch Abschn. 2.2).

Vergleichen wir die beiden obigen Beispiele, so ist Folgendes festzuhalten: Die bisher gebräuchliche Praxis, nicht zwischen Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck zu unterscheiden, hat zur Folge, dass in der Studie von Mark und Mellor (1991) anscheinend der Rückschaufehler bei Eintreten eines negativen, selbstrelevanten Ausgangs verringert (bzw. eliminiert oder gar umgekehrt) wurde,[4] während in der Studie von Tykocinski (2001) der Rückschaufehler bei einem ebenfalls negativen, selbstrelevanten Ereignisausgang verstärkt wurde. Dieses auf den ersten Blick paradoxe Ergebnis erscheint weniger widersprüchlich, wenn man zwischen den verschiedenen Operationalisierungen des Rückschaufehlers differenziert: Dann verringert sich bei Mark und Mellor (1991) bei einem negativen, selbstrelevanten Ereignisausgang der Vorhersehbarkeitseindruck; bei Tykocinski (2001) hingegen erhöht sich unter ähnlichen Bedingungen der Wahrscheinlichkeits- respektive Zwangsläufigkeitseindruck. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist daher, zu untersuchen, ob sich diese beiden Operationalisierungen (oder Komponenten; vgl. Abschn. 2.2.3) des Rückschaufehlers bei Eintreten eines negativen, selbstrelevanten Ereignisausgangs systematisch voneinander unterscheiden, was implizieren würde, dass diese Operationalisierungen nicht – wie bisher üblich – als identisch anzusehen sind.

Die Studien von Mark und Mellor (1991) und Tykocinski (2001) unterscheiden sich allerdings nicht nur in der Operationalisierung des Rückschaufehlers, sondern auch in dem Ausmaß der persönlichen Kontrollierbarkeit des Ereignisausgangs. Der Umstand, entlassen zu werden oder nicht, unterliegt wohl zumindest zum Teil der persönlichen Kontrolle der befragten Person: Sofern die Entlassungen nicht nach einem reinen Losverfahren vorgenommen wurden, wird der Grund, warum eine Person entlassen wurde, ein Kollege oder eine Kollegin aber nicht, auch in kontrollier- bzw. veränderbaren Verhaltensaspekten dieser Person liegen, wie z.B. in deren Arbeitseinsatz. Hingegen ist im Falle einer politischen Wahl die Kontrollierbarkeit des Wahlausgangs durch eine einzelne Person auf die Abgabe der eigenen Stimme, die bei mehreren Millionen Stimmabgaben nur ein äußerst geringes Gewicht aufweist, begrenzt.

Die Annahme liegt nahe, dass, je nachdem, für wie kontrollierbar ein negativer, selbstrelevanter Ereignisausgang gehalten wird, unterschiedliche Prozesse ausgelöst werden: Bei einem negativen Ausgang, dessen Eintreten ich zumindest zu einem gewissen Grad kontrollieren konnte,[5] kann ich mich zurecht fragen, warum ich nichts unternommen habe, um diesen Ausgang zu verhindern. Um die daraus resultierenden Selbstvorwürfe zu vermeiden bzw. zumindest zu reduzieren, wäre eine mögliche Strategie, in der Rückschau den Vorhersehbarkeitseindruck zu verringern. So könnten sich im Falle der Studie von Mark und Mellor (1991) die Entlassenen, auch wenn sie tatsächlich die Entlassungen vorhergesehen haben sollten, im Nachhinein sagen, dass die Entlassungen wenig vorhersehbar waren. Damit schützen sie sich vor Selbstvorwürfen, warum sie nicht rechtzeitig etwas unternommen haben, um ihren Arbeitsplatz zu sichern.

Hingegen sollte es bei einem negativen Ereignisausgang, dessen Eintreten ein Individuum nur in einem sehr geringen Maße kontrollieren kann, Tykocinski (2001) zufolge erleichternd wirken, wenn die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit oder Zwangsläufigkeit dieses negativen Ereignisses in der Rückschau erhöht wird: Die Wahlniederlage des von mir bevorzugten Premierminister-Kandidaten werde ich dann als weniger enttäuschend empfinden, wenn ich mir – wenn auch nachträglich – verdeutliche, dass die Chancen für seinen Wahlsieg von Anfang an sehr schlecht standen und ein Sieg des Gegners geradezu unvermeidlich oder zwangsläufig war.

Daher wird als weiteres Ziel dieser Arbeit untersucht werden, welcher Einfluss der subjektiv wahrgenommenen Kontrollierbarkeit eines Ereignisausgangs zukommt: Moderiert die subjektiv wahrgenommene Kontrollierbarkeit eines Ereignisausgangs das Ausmaß, in dem sich der Vorhersehbarkeit- und Zwangsläufigkeitseindruck in einer retrospektiven vs. prospektiven Einschätzung verändern? Von Bedeutung ist an dieser Stelle, dass negative, selbstrelevante Ereignisausgänge dann primär Selbstvorwürfe auslösen, wenn sie eher kontrollierbar sind. Sind diese Ausgänge hingegen nur wenig kontrollierbar, lösen sie primär Enttäuschung aus (z.B. Tykocinski & Steinberg, 2005). Dies könnte die Ursache dafür sein, dass, je nachdem, ob ein negativer, selbstrelevanter Ausgang wenig oder hoch kontrollierbar war, unterschiedliche Prozesse initiiert werden, um entweder Selbstvorwürfe zu vermeiden oder Enttäuschung zu lindern.

Im folgenden Teil der Arbeit wird zunächst der theoretische und empirische Hintergrund (Kap. 2) dargestellt. Dabei wird ein Überblick gegeben, was allgemein unter dem Rückschaufehler-Phänomen verstanden wird und welche Untersuchungsparadigmen und Operationalisierungen verwendet werden (Abschn. 2.1). Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Sichtweise des Rückschaufehlers als einheitliches Konstrukt oder als separate Komponenten, wobei vor allem die empirischen Befunde zur Trennung des Zwangsläufigkeits- und Vorhersehbarkeitseindrucks diskutiert werden (Abschn. 2.2). Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen kognitiven Erklärungsansätzen des Rückschaufehlers ist sicherlich für ein Gesamtverständnis des Phänomens wesentlich, aber im Rahmen dieser Arbeit, die sich auf motivationale Aspekte konzentriert, entbehrlich (Abschn. 2.3). In Abschnitt 2.4 werden, mit Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit, die bisherigen Befunde und Erklärungen zum Einfluss von negativen, selbstrelevanten Ereignisausgängen auf den Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck gegenübergestellt, wobei die besondere Rolle der Kon­trol­lier­barkeit eines Ereignisausgangs berücksichtigt wird. Dieser Abschnitt mündet in der Entwicklung der Fragestellung und der Formulierung der Untersuchungshypothesen in Abschnitt 2.5.

Im empirischen Teil der Arbeit wird die Planung und Durchführung der eigenen Untersuchung dargestellt (Kap. 3). Im dritten Kapitel werden auch die beiden Voruntersuchungen (Abschn. 3.2) berichtet. Es folgt die vorbereitende Datenanalyse und Auswertung im vierten Kapitel sowie die Ergebnisdarstellung in Kapitel 5. Abschließend werden die Ergebnisse diskutiert (Kap. 6).

2. Theoretischer und empirischer Hintergrund

In diesem Kapitel wird zunächst dargestellt, was unter dem Rückschaufehler verstanden wird. Abschnitt 2.1 behandelt die verschiedenen Konzeptualisierungen des Rückschaufehlers sowie wesentliche Operationalisierungen und Untersuchungsparadigmen, die in der Rückschaufehlerforschung angewandt wurden.

Im Abschnitt 2.2 wird zunächst die sogenannte „traditionelle Sichtweise“ des Rückschaufehlers als „einheitliches Phänomen“ beschrieben (Abschn. 2.2.1). Damit ist die Annahme gemeint, dass die in Abschnitt 2.1 dargestellten Operationalisierungen und Konzeptualisierungen des Rückschaufehlers identisch bzw. austauschbar sind. Dieser Auffassung wird in den Abschnitten 2.2.2 und 2.2.3 widersprochen. In diesen Abschnitten wird die Ansicht zweier Forschergruppen dargestellt, wonach der Rückschaufehler in jeweils drei verschiedene Rückschaufehler- Formen bzw. - Komponenten trennbar sei und daher differenzierter betrachtet werden sollte.

Im Abschnitt 2.3 wird lediglich auf Arbeiten verwiesen, die eine breit angelegte Darstellung der Erklärungsansätze des Rückschaufehlers enthalten. Die für die vorliegende Arbeit relevanten motivationalen Erklärungsansätze werden im Abschnitt 2.4 dargestellt. Dort wird ebenfalls der aktuelle Stand der Forschung zum Thema der vorliegenden Arbeit berichtet. Im Speziellen geht es um den Einfluss, den negative, selbstrelevante Ereignisse auf den Vorhersehbarkeits- und den Zwangsläufigkeitseindruck haben. Die sich zum Teil widersprechenden Befunde verschiedener Autor/innen werden hier gegenübergestellt. Besonders berücksichtigt wird auch die mögliche Mediatorfunktion der subjektiven Kontrollierbarkeit eines Ereignisausgangs.

Aus dem Abschnitt 2.4 ergeben sich mehrere Fragestellungen. Diejenigen Fragestellungen, die Gegenstand dieser Arbeit sind, werden in Abschnitt 2.5 in Forschungshypothesen und schließlich in statistische Hypothesen überführt.

2.1 Der Rückschaufehler: Konzept, Untersuchungsparadigmen und Operationalisierung

Für den deutschen Begriff „Rückschaufehler“ (Pohl, 1992, 1993) gibt es im Englischen eine ganze Reihe von Entsprechungen: angefangen mit „Monday morning quarterback“-Effekt oder „second guessing“ (Walster, 1967), über „creeping determinism“ (Fischhoff, 1975, 1977), „knew-it-all-along effect“ (Fischhoff, 1977) und „hindsight distortion“ (Wood, 1978; Leary, 1981), bis hin zu dem wohl gebräuchlichsten Begriff „hindsight bias“ (Fischhoff, 1977; Slovic & Fischhoff, 1977). Noch vielfältiger als die Bezeichnungen sind die Definitionen des Rückschaufehlers. Eine recht umfassende Definition des Rückschaufehlers findet sich in einer Arbeit von Baruch Fischhoff (1982), der als Begründer der systematischen Rückschaufehlerforschung[6] betrachtet wird:

In hindsight, people consistently exaggerate what could have been anticipated in foresight. They not only tend to view what has happened as having been inevitable but also to view it as having appeared “relatively inevitable” before it happened. People believe that others should have been able to anticipate events much better than actually was the case. They even misremember their own predictions so as to exaggerate in hindsight what they knew in foresight (Fischhoff and Beyth, 1975). (S.341)

Diese Definition drückt unter anderem aus, dass es sich bei dem Rückschaufehler sowohl um eine Urteilsverzerrung (erster Teil der Definition, z.B. „tend to view what has happened as having been inevitable“; ebd.) als auch um eine Gedächtnisverzerrung („misremember their own predictions“; ebd.) handelt. Das hat Auswirkungen auf die Forschungsdesigns, bei denen grundlegend zwischen (a) einem hypothetischen Design und (b) einem Gedächtnisdesign unterschieden wird: (a) Im hypothetischen Design werden i.d.R. die Urteile von Versuchspersonen (Vpn) mit dem Wissen um einen (Ereignis-)Ausgang oder um einen Sachverhalt mit den Urteilen von Vpn ohne dieses zusätzliche Wissen verglichen (Zwischensubjekt-Vergleich). (b) Im Gedächtnisdesign findet i.d.R. ein Innersubjekt-Vergleich statt zwischen dem Urteil, das Vpn abgeben, bevor sie den (Ereignis-)Ausgang oder den Sachverhalt erfahren haben (Prämessung), und der Erinnerung der Vpn an dieses Urteil, nachdem sie zusätzliche Informationen erhalten haben (Postmessung).

Ferner gibt es Derivate des hypothetischen Designs und des Gedächtnisdesigns: Im „klassischen“ hypothetischen Design werden diejenigen Vpn, die über die zusätzlichen Informationen verfügen, gebeten, so zu antworten, als ob sie die zusätzlichen Informationen (noch) nicht kennten. Zum Teil wird aber diese Instruktion, sich rückblickend in eine Vorschauperspektive hineinzuversetzen, in der noch nicht über das zusätzliche Wissen verfügt wurde, weggelassen. Die Vpn sollen dann den (Ereignis-)Ausgang oder Sachverhalt aus ihrem jetzigen Wissensstand heraus einschätzen (z.B. Agans & Shaffer, 1994; Mark, Boburka, Eyssell, Cohen & Mellor, 2003; Pezzo, 2003, Studie 1; Reimers & Butler, 1992; Tykocinski, 2001, Studie 1). Dieses Untersuchungsparadigma könnte als After-Design bezeichnet werden, weil eine Gruppe ohne zusätzliche Information mit einer Gruppe, die nachträglich diese zusätzlichen Informationen erhalten hat, in ihren Urteilen verglichen wird. Eine ähnliche Abwandlung des Gedächtnisdesigns besteht dann, wenn die gleichen Vpn, die bereits ein Präurteil abgegeben haben, sich nicht an ihr ursprüngliches Urteil erinnern, sondern z.B. den (Ereignis-)Ausgang neu einschätzen sollen. Das resultiert in einem sogenannten Before-after-Design (für Beispiele siehe Bernstein, Atance, Loftus & Meltzoff, 2004, Studie 2; Blank & Nestler, in Druck; Blank et al., 2004; Bryant & Brockway, 1997; Tykocinski, 2001, Studie 2).

Bei diesen beiden Designderivaten sollte allerdings nicht mehr von Rückschau fehler
oder Urteils- bzw. Gedächtnis verzerrung, sondern vielmehr von einer Adaptation des Urteils gesprochen werden. Der eigentliche Rückschau fehler oder Bias besteht nämlich darin, dass Menschen nicht in der Lage sind, einen unbeeinflussten, unverzerrten Vorschauzustand wiederherzustellen, selbst wenn sie augenscheinlich motiviert sind, ein unbeeinflusstes Urteil abzugeben oder sich an ihr früheres Urteil zu erinnern. Sofern sie aber gar nicht versuchen (sollen), unverzerrte Urteile oder Erinnerungen zu nennen, zeigen die Vpn adaptives Lernen und keinen kognitiven „Fehler“.[7] Hawkins und Hastie merkten in ihrem einflussreichen
Übersichtsartikel von 1990 hierzu an:

It is important to note that the hindsight bias does not refer to all retrospective increases in the probabilities assigned to events. The hindsight bias is a projection of new knowledge into the past accompanied by a denial that the outcome information has influenced judgment. (S.311; Hervorhebungen im Original).

In diesem Zitat wird auch angesprochen, dass der Rückschaufehler ein unbewusstes und daher nicht willkürlich kontrollierbares Phänomen sei. Fischhoff (1977, Studie 2) beispielsweise gelang es nicht, den Rückschaufehler dadurch zu reduzieren, dass er die Vpn über diesen Effekt aufklärte und sie vor einer Verzerrung ihres Urteils warnte. Aufgrund dieser Unwillkürlichkeit des Rückschaufehlers denken Vpn in der Regel auch, dass andere Personen ohne die zusätzliche Information, über die sie selbst verfügen, genauso urteilen würden wie sie selbst („People believe that others should have been able to anticipate events much better than actually was the case“; Fischhoff, 1982, S.341).[8] Wenn Personen sich als generell unfähig erweisen, sich in eine unverzerrte Vorschauperspektive zu versetzen, d.h. einen vergangenen Wissenszustand oder eine Vorhersage zu rekonstruieren, dann ist es ihnen auch nicht möglich, sich in Personen hineinzuversetzen, die nicht über diese zusätzlichen Informationen verfügen (vgl. z.B. Kohnert, 1996).

Die obige Rückschaufehlerdefinition von Fischhoff (1982, S.341) bezieht sich vor allem auf Ereignisse. Dabei kann unterschieden werden zwischen

- realen Ereignissen, wie z.B. politischen Wahlen, Streiks, Entlassungen oder Kata­stro­phen (z.B. Blank & Fischer, 2000; Fischer & Budescu, 1995; Leary, 1982; Mark & Mellor, 1991; Pennington, 1981; Synodinos, 1986; Verplanken & Pieters, 1988), und
- fiktiven Ereignissen.
Die fiktiven Ereignisse lassen sich nochmals untergliedern in
- Simulationen, wie z.B. Börsensimulationen (Louie, 1999; Mark et al., 2003), und
- Fallgeschichten, beispielsweise aus der Medizin (z.B. Arkes, Faust, Guilmette & Hart, 1988; Arkes, Wortmann, Saville & Harkness, 1981), der Wirtschaft (z.B. Bukszar & Connolly, 1988), dem Rechtswesen (z.B. Caspar, Benedict & Kelly, 1988) oder der Psychologie (z.B. Stahlberg, Eller & Frey, 1993).

Eine Reihe von Rückschaufehleruntersuchungen verwendet allerdings Almanachfragen als Untersuchungsmaterial (z.B. Campbell & Tesser, 1983; Fischhoff, 1977; Hasher, Attig & Alba, 1981; vgl. für einen Überblick z.B. Guilbault, Bryant, Brockway & Posavac, 2004; Kohnert, 1996 oder Pohl, 1993). Dabei ergeben sich deutlich größere Rückschaufehler-Effektstärken für Almanachfragen als für reale oder fiktive Ereignisse (Christensen-Szalanski & Willham, 1991; Guilbault et al., 2004).

Eine sehr große Diversität besteht bei den abhängigen Variablen, mit denen der Rückschaufehler erfasst werden soll. Gebräuchlich sind Fragen nach (a) der Sicherheit, (b) der Wahrscheinlichkeit, (c) der Vorhersehbarkeit und der (d) Zwangsläufigkeit bezüglich der Richtigkeit eines abgegebenen Urteils oder des Eintritts eines Ereignisausgangs. Ferner gibt es (e) numerische Schätzurteile (z.B. wie hoch der Eiffelturm in Metern sei) sowie (f) Erinnerungsäußerungen zu einem vorherigen Urteil (vgl. z.B. Hoffrage & Pohl, 2003, S.330, sowie den Abschnitt 2.2.3 der vorliegenden Arbeit). Außerdem kommen Kombinationen dieser Urteile vor, wie beispielsweise in der Frage: Wie sicher sind Sie sich, dass der Ausgang vorhersehbar war? (vgl. z.B. Brown & Solomon, 1987).

Dieser Überblick sollte zeigen, dass unter dem Oberbegriff „Rückschaufehler“ durchaus sehr unterschiedliche Aspekte mit sehr unterschiedlichen Mitteln und unter verschiedenen konzeptuellen Annahmen untersucht wurden. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen:

- Eine Vp soll die Höhe des Eiffelturms einschätzen. Bevor sie die Lösung erfährt, schätzt sie die Höhe des Eiffelturms auf 150 Meter. Nach der Rückmeldung, dass der Eiffelturm tatsächlich 300 Meter hoch ist, soll sie sich an ihr ursprüngliches Urteil erinnern. Sie gibt an, sie habe vor der Rückmeldung den Eiffelturm auf 220 Meter geschätzt. – Die Verzerrung ihrer Erinnerung in Richtung auf das Feedback erfasst als abhängige Variable den Rückschaufehler.
- Eine kleine Küsten-Siedlung wird von einer Flutwelle heimgesucht und alle Wohnhäuser erleiden Schaden. Zu dem Zeitpunkt der Flutkatastrophe ist allerdings nur die Hälfte der Einwohner an ihrem Heimatort. Die andere Hälfte ist gerade verreist. Bevor die Verreisten etwas von dem Ereignis erfahren, werden sie befragt, wie vorhersehbar es sei, dass eine Flutwelle über ihren Heimatort hereinbreche. Auch die Einwohner, die die Katastrophe vor Ort mitbekommen haben, werden befragt, für wie vorhersehbar sie es gehalten hätten, dass eine Flutwelle die Siedlung heimsuche, wenn sie noch nicht wüssten, dass sich dies tatsächlich bereits ereignet hat. Letztere geben eine höhere Vorhersehbarkeit für eine Flutwelle an als die verreisten Einwohner. – Die größere wahrgenommene Vorhersehbarkeit in der Gruppe mit dem Wissen um die Flutkatastrophe im Vergleich zu der Gruppe ohne dieses Wissen dient als Maß für den Rückschaufehler.

Diese beiden Untersuchungsentwürfe unterscheiden sich zumindest in ihrem Design (Gedächtnisdesign vs. hypothetisches Design), der Operationalisierung (numerisches Schätzurteil vs. Vorhersehbarkeitseindruck), dem Material (Almanachfrage vs. reales Ereignis), der Selbstrelevanz für die Untersuchungsteilnehmer/innen (niedrig vs. hoch) und der Valenz (neutral vs. negativ). Würden diese beiden Studien – führte man sie durch – das gleiche Rückschaufehler-Phänomen beschreiben? Obwohl dies zweifelhaft erscheint, wird dieser Frage in der Rückschaufehlerforschung selten nachgegangen. Vielmehr wird oft implizit angenommen, dass es sich dabei zwar um verschiedene, aber äquivalente und austauschbare Manifestationen des gleichen Phänomens Rückschaufehler handele (vgl. Blank & Nestler, in Druck, Ms. S.2; auch bereits Hawkins & Hastie, 1990).

Am häufigsten finden sich in der Literatur noch Abgrenzungen zwischen den Designs (hypothetisches vs. Gedächtnisdesign) und beim Untersuchungsmaterial (vor allem Almanachfragen vs. Ereignisse; vgl. z.B. Hawkins & Hastie, 1990; Hoffrage & Pohl, 2003; Christensen-Szalanski & Willham, 1991). Die vielfältigen Operationalisierungen der abhängigen Variablen werden sehr selten differenziert. Dass solch eine undifferenzierte Betrachtungsweise aber problematisch erscheint, wurde in der Einleitung an zwei unterschiedlichen Operationalisierungen der abhängigen Variable verdeutlicht (Vorhersehbarkeitseindruck bei Mark & Mellor, 1991, vs. Wahrscheinlichkeitseinschätzungen bei Tykocinski, 2001).

Im folgenden Abschnitt 2.2 wird daher diskutiert, inwieweit es gerechtfertigt ist, die verschiedenen abhängigen Variablen, die zur Erfassung des Rückschaufehler genutzt werden, als äquivalente Operationalisierungen eines Rückschaufehlers aufzufassen, oder ob es adäquater wäre, anzunehmen, dass es sich dabei um verschiedene Aspekte oder Komponenten des Rückschaufehlerphänomens handelt. Um eine gewisse Übersichtlichkeit zu wahren, werden nur Untersuchungsansätze betrachtet, die reale oder fiktive Ereignisse verwenden. Einige Operationalisierungen lassen sich auch nur bei Ereignissen, nicht aber bei Almanachfragen verwirklichen: Die Frage „Wie zwangsläufig ist es, dass der Eiffelturm 300 Meter hoch ist?“ macht wenig Sinn. Zudem werden Ereignisse bzw. Szenarien der Gegenstand des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit sein.

2.2 Der Rückschaufehler: Einheitliches Phänomen oder separate Komponenten?

Die meisten Arbeiten zum Rückschaufehler gehen mehr oder weniger implizit davon aus, dass verschiedene Operationalisierungen (vgl. Abschn. 2.1) des Rückschaufehlers das Gleiche messen: nämlich das Rückschaufehler-Phänomen. Diese Auffassung wird im Folgenden als „traditionelle Sichtweise“ bezeichnet (Abschn. 2.2.1). Gegen diese Sichtweise haben sich zunächst Kelman, Fallas und Folger (1998) gestellt, die drei Rückschaufehler-Formen unterscheiden (Abschn. 2.2.2). Etwas später postulierte die Gruppe um Hartmut Blank (z.B. Blank & Fischer, 2000; Blank et al., 2004), dass es (mindestens) drei Rückschaufehler-Komponenten gebe. Dieser letztere Drei-Komponenten-Ansatz wird auch der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt und daher ausführlicher dargestellt (Abschn. 2.2.3).

2.2.1 Traditionelle Sichtweise

Wie im vorhergehenden Abschnitt 2.1 zum Rückschaufehler bereits dargestellt, gibt es eine Vielzahl von Studien, die in ihrer Anlage und ihrer Auffassung vom Rückschaufehler sehr unterschiedlich ausfallen. Dabei wird diesen Unterschieden allerdings häufig wenig oder gar keine Beachtung geschenkt. Vielmehr wird offenbar implizit davon ausgegangen, dass diese Studien ungeachtet der verschiedenen Ansätze und Operationalisierungen das Gleiche, nämlich den Rückschaufehler – als einheitliches Phänomen – erfassen würden. Betrachten wir im Folgenden, welche Bestimmungsstücke des Rückschaufehlers sich in den Arbeiten von Fischhoff finden lassen. Fischhoffs Definitionen des Rückschaufehlers umfassen, dass
(a) Personen im Nach­hinein die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, überschätzen und (b) somit auch die wahrgenommene Unvermeidbarkeit oder Zwangsläufigkeit von Ereignissen übertreiben. Fischhoff und Beyth (1975) drücken das so aus:

…events reported to have happened tend to be assigned higher postdictive than predictive probabilities, i.e., reporting an event’s occurrence increases its perceived inevitability. This tendency was named “creeping determinism” … (S.2)

Ferner haben Personen (c) den Eindruck, den Ereignisausgang schon vorhergesehen zu haben („knew it all along“). Dabei dient als vermittelndes Bindeglied (d) die Unbewusstheit des Phänomens bzw. die Unterschätzung des Einflusses, den das Wissen um den Ereignisausgang auf die eigene Wahrnehmung oder das eigene Urteil hat:

… telling people that an event has occurred increases their subjective probability that it was going to happen and […] people underestimate the effect that hearing such reports has on their perceptions [Hervorhebung durch J.H.P.] . Thus, they believe that they knew all along [Hervorhebung durch J.H.P.] that the reported event was going to happen, even without the benefit of the report. (Fischhoff, 1977, S.349)

Da Personen diesem sogenannten „schleichenden Determinismus“ (creeping determinism) ausgeliefert und sich dessen Wirkung nicht bewusst sind, erfolgt schließlich (e) auch eine verzerrte Erinnerung an das, was sie in der Vorschau tatsächlich wussten oder geäußert haben:

Thus, undiagnosed creeping determinism not only biases people’s impressions of what they would have known without outcome knowledge, but also their impressions of what they themselves and others actually did know in foresight. (Fischhoff, 1975, S.297; Hervorhebung im Original)

Diese Verzerrungen durch den Rückschaufehler erstrecken sich (f) auch auf das Urteil über andere Personen: „People believe that others should have been able to anticipate events much better than actually was the case.“ (Fischhoff, 1982, S.341). Ein weiteres gebräuch­liches Bestimmungsstück des Rückschaufehlers, das Fischhoff hier nicht erwähnt, ist,
(g) dass Personen sich ihres eigenen Urteils sicherer sind, wenn sie den Ereignisausgang erfahren haben (für die Erfassung von Sicherheitsurteilen vgl. Bodenhausen, 1990; Campbell & Tesser, 1983; Creyer & Ross, 1993; Hasher, Attig & Alba, 1981; Hoch & Loewenstein, 1989; Hoffrage, Hertwig & Gigerenzer, 2000; Musch, 2003; Roese & Maniar, 1997; Sligo & Stirton, 1998).

Jedoch ist es weder bei Fischhoff noch in der sich an ihn anschließenden Forschung so, dass nur dann von einem Rückschaufehler gesprochen wird, wenn diese sieben Bestimmungsstücke zugleich erfüllt sind. Vielmehr wird in der Regel – pars pro toto – davon ausgegangen, dass bei Zutreffen eines dieser Bestimmungsstücke ein Rückschaufehler besteht. Das drückt sich bereits bei Fischhoff darin aus, dass die obigen Zitate verschiedenen Stellen entnommen wurden und sich meines Wissens bei ihm nie alle Bestimmungsstücke zur Beschreibung des Rückschaufehlers an einem Ort versammelt finden.

Auch ist zu beobachten, dass einige Autor/innen in der Einleitung ihres Artikels den Rückschaufehler nach einem der obigen Bestimmungsstücke definieren und im experimentellen Teil nach einem anderen Bestimmungsstück erfassen. Das kann als sehr deutlicher Hinweis dafür interpretiert werden, dass diese Autor/innen zumindest diese jeweiligen Bestimmungsstücke als austauschbar oder gar identisch betrachten (derartige Beispiele finden sich bei Campbell & Tesser, 1983; Dietrich & Olson, 1993; Fischer & Budescu, 1995; Louie, 1999; Louie, Curren & Harich, 2000; vgl. auch Abschn. 2.2.2).

Diese traditionelle Sichtweise des Rückschaufehlers ist so lange unproblematisch, wie es sich bei diesen verschiedenen Bestimmungsstücken tatsächlich nur um verschiedene, austauschbare Operationalisierungen eines einheitlichen Rückschaufehler-Phänomens handelt. Es liegen jedoch empirische Befunde vor, dass sich, unter bestimmten Randbedingungen,
innerhalb einer Studie bei der einen Operationalisierung ein Rückschaufehler zeigt (d.h. signifikant wird), bei einer anderen Operationalisierung allerdings nicht (z.B. Leary, 1982;
Synodinos, 1986). Diese Befunde könnten allerdings noch mit der Annahme, dass die verschiedenen Operationalisierungen unterschiedlich sensitiv sind, erklärt werden. Dann wäre bei einer bestimmten Operationalisierung des Rückschaufehlers der Stichprobenumfang einer Studie lediglich zu klein gewesen, damit der Rückschaufehler bei dieser Operationalisierung signifikant wird. Bei einer anderen, sensitiveren Operationalisierung könnte sich – auch in der gleichen Studie – aber ein signifikanter Rückschaufehler-Effekt ergeben.

Aufgrund theoretischer Überlegungen erscheint es jedoch zweifelhaft, dass sich alle diese Bestimmungsstücke unter allen Randbedingungen gleichartig verhalten (vgl. Abschn. 2.2.3 und Anhang A1). Da auch die Empirie, wie im Folgenden dargestellt wird, die Annahme stützt, von verschiedenen „Rückschaufehlern“ auszugehen (Abschn. 2.2.3), werden nun Ansätze (Decomposing-Ansätze) dargestellt, die den Rückschaufehler in „mehrere Rückschaufehler“ aufzutrennen versuchen.

Es finden sich lediglich zwei Forschergruppen, die der stillschweigenden Annahme, es gebe einen einheitlichen Rückschaufehler, kritische Aufmerksamkeit geschenkt haben. Zuerst publizierten Kelman, Fallas und Folger (1998) ihren Artikel mit dem Titel „Decomposing Hindsight Bias“. Dieser wenig rezipierte Artikel ist meines Wissens die einzige Arbeit dieser Gruppe, die sich mit verschiedenen Formen des Rückschaufehlers beschäftigt. Kurze Zeit später und unabhängig von dieser ersten Gruppe legte die Gruppe um Blank ihre ersten Arbeiten vor (Blank & Fischer, 2000; Blank, Fischer & Erdfelder, 2003; Blank & Nestler, in Druck; Blank et al., 2004). Die Überlegungen dieser beiden Gruppen werden nachfolgend erläutert.

2.2.2 Primärer, sekundärer und tertiärer Rückschaufehler

Kelman, Fallas und Folger (1998) unterscheiden zwischen einem primären, einem sekundären und einem tertiären Rückschaufehler („hindsight bias“). Sie berufen sich dabei auf Fischhoff, der diese Unterscheidung ihrer Ansicht nach bereits eingeführt habe. Diese drei Rückschaufehler-Formen charakterisieren sie wie folgt, wobei hier in Klammern immer die entsprechende Formulierung von Fischhoff ergänzt ist:[9]

- primärer Rückschaufehler: Personen weisen einem Ereignisausgang – nachdem bekannt ist, dass dieser Ausgang eingetreten ist – eine höhere A-priori-Wahr­schein­lich­keit zu als ohne Wissen um den Ereignisausgang („creeping determinism“ sensu Fischhoff, 1975).
- sekundärer Rückschaufehler: Personen glauben fehlerhafterweise, dass ihre (höheren) retrospektiven Wahrscheinlichkeitseinschätzungen für ein Ereignis, das eingetreten ist, mit den (niedrigeren) Wahrscheinlichkeitseinschätzungen aus der Vorschau identisch sind. Somit hätten sie „schon immer gewusst“, dass der tatsächliche Ausgang eintreten würde („knew-it-all-along“-Effekt sensu Fischhoff, 1975).
- tertiärer Rückschaufehler: Personen glauben, dass die A-priori-Wahrscheinlichkeits­ein­schätzungen anderer Personen, die nicht über diese Ausgangsinformation verfügen, unvernünftig niedrig ausfallen („… people underestimate the effect that hearing such reports has on their perceptions.“; Fischhoff, 1977, S.349; „People believe that others should have been able to anticipate events much better than actually was the case.”; Fischhoff, 1982, S.341).

Kelman et al. (1998) kritisieren, dass die drei von Fischhoff etablierten, unterschied­lichen empirischen Manifestationen des Rückschaufehlers in der Forschungsliteratur oft undifferenziert behandelt würden, als beschrieben sie das gleiche Phänomen:

… Fischhoff established three distinct empirical regularities that have been replicated repeatedly in the experimental literature. First, subjects assign a higher ex ante probability estimate to outcomes they learn have occurred. Second, once they have learned outcomes, they mistakenly believe they “knew all along” what would happen. Third, they believe that others lacking outcome information were unreasonable unless they made the same probability estimates that those with outcome information make. (Fischhoff 1975, Christensen-Szalanski [ sic ], 1991). The observed regularities are often unfortunately lumped together in the literature as demonstrating the same phenomenon [Hervorhebungen durch J.H.P.]. (Kelman et al., 1998, S.251; die Interpunktion der Literaturangaben entspricht dem Original)

In ihrer Endnote 2[10] zu dem obigen Zitat (Kelman et al., 1998, S.251) schreiben Kelman et al. (1998) ferner:

Thus, it is often quite difficult to ascertain which of three distinct forms of the “hindsight bias” a researcher believes he or she is reporting, (For examples, see Christensen-Szalanski [ sic ], 1991 at p. 147-48, Bodenhausen, 1990 at p. 1113; Leary, 1981 at p. 26; Kamin & Rachlinski, 1995 at p. 90; Anderson, Lowe & Reckers, 1993 at p. 711-12) In other cases, distinctions are made rather clearly, even if the researchers do not seem to recognize the possibility that the three biases are analytically distinct and may not coexist (For examples, see Casper, Benedict & Perry, 1989 at p. 293; Kagehiro, Taylor, Laufer & Harland, 1991 at 306). On other occasions, researchers assume that one form of the bias defines the bias completely, ignoring the extent to which the “bias” actually encompasses a wider range of separate behaviors than they acknowledge. (For examples, see Arkes, Faust, Guilmette & Hart, 1988 at 305; Creyer & Ross, 1993 at p. 61). (S.266; Hervorhebung im Original; die zum Teil ungewöhnliche Interpunktion und die heterogene Form der Seitenangaben bei den Literaturangaben entsprechen dem Original)

Es wird deutlich, dass Kelman et al. (1998) die Auffassung vertreten, in der bisherigen Rückschaufehlerliteratur würden diese drei Formen des Rückschaufehlers nicht ausreichend getrennt und die Autor/innen seien sich deren Verschiedenheit bzw. Eigenständigkeit nicht bewusst. Sie beschäftigen sich in ihrer Arbeit aber vor allem damit, inwieweit diese einzelnen Formen als Fehler bzw. Verzerrungen aufzufassen oder ob sie nicht z.T. auch rational sind.[11] Ihre eigene empirische Studie (Kelman et al., 1998) zeigt, dass der primäre Rückschaufehler nicht auftritt, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisausgangs (inklusive des Stichprobenfehlers, also quasi eines Konfidenzintervalls für die Wahrscheinlichkeitsschätzung) schon a priori einfach zu berechnen gewesen sei und die Abweichungen von dem Erwartungswert auf „Glück“ oder „Pech“, d.h. auf die Stichprobenvarianz, zurückgeführt werden konnten.

So interessant eine Auseinandersetzung mit der Rationalität vs. Irrationalität von Rückschauphänomenen auch sein mag, soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden, da diese Debatte nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Obwohl es bisher kaum Forschung gibt, die auf der Arbeit von Kelman et al. (1998) aufbaut (vgl. aber Hastie, Schkade & Payne, 1999, als Beispiel für eine Rezeption) und für die Aufgliederung des Rückschaufehlerphänomens relevant ist, kommt Kelman und Mitarbeiter/innen vermutlich das Verdienst zu, als Erste auf die übliche, undifferenzierte Sichtweise des Rückschaufehlers kritisch hingewiesen und mit Bezug auf Fischhoff eine Separierung in drei Rückschaufehler-Formen unternommen zu haben.

2.2.3 Drei-Komponenten-Ansatz nach Blank

Während von Kelman, Fallas und Folger lediglich der genannte Artikel aus dem Jahre 1998 zur Separierung der Rückschaufehler-Formen zu existieren scheint, beschäftig sich die Gruppe um Hartmut Blank seit mehreren Jahren mit dieser Thematik und hat mehrere Arbeiten dazu verfasst (Blank & Fischer, 2000; Blank et al., 2003; Blank & Nestler, in Druck; Blank et al., 2004). Daher soll zunächst die Entwicklungslinie dieser Forschung der Blank-Gruppe nachgezeichnet und die Konzeption des Drei-Komponenten-Ansatzes dargestellt werden (Abschn. 2.2.3.1), bevor der Korpus empirischer Befunde zu diesem Ansatz beschrieben wird (Abschn. 2.2.3.2 und 2.2.3.3).

Eine wesentliche Rolle spielt dabei – besonders im Rahmen dieser Arbeit – die Trennung zwischen Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck. Daher wurde vom Verfasser auch eine mehr philosophisch-sprachwissenschaftliche Betrachtung der Begriffe Vorhersehbarkeit und Zwangsläufigkeit sowie bedeutungsverwandter Konstrukte durchgeführt. Es sollte primär untersucht werden, inwieweit die beiden Komponenten des „Vorhersehbarkeitseindrucks“ und des „Zwangsläufigkeitseindrucks“ logisch-philosophisch und sprachlich trennbar sind. Bei dieser Arbeit wurde die vielschichtige Verquickung der beiden Begriffe evident. Die Darstellung dieser philosophisch-sprachwissenschaftlichen Betrachtung würde an dieser Stelle den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Der interessierte Leser bzw. die interessierte Leserin sei auf den Exkurs Sprachlich-logische Beziehung von „Vorhersehbarkeit“ und „Zwangsläufigkeit“ im Anhang A1 verwiesen.

2.2.3.1 Entwicklung und Konzeption des Drei-Komponenten-Ansatzes

Nur kurze Zeit nach Kelman et al. (1998) fiel der Gruppe um Blank bei der Auswertung der Versuchspersonenkommentare einer Wahlstudie, die 1998 durchgeführt wurde, auf, dass das „subjektive Rückschau-Erleben“ oft entweder durch den Eindruck der Vorhersehbarkeit des Wahlausgangs oder durch den Eindruck der (politisch-inhaltlichen bzw. historisch-moralischen) Notwendigkeit des Ausgangs geprägt war (Blank & Fischer, 2000). Während nach Blank und Fischer (2000) die einschlägige Literatur davon ausginge, dass die Vorwissensüberschätzung und der Zwangsläufigkeits- bzw. Notwendigkeitseindruck mit der Verzerrung der Erinnerung an das eigene Präurteil einhergeht, ließe sich auch eine andere Auffassung vertreten: „Unsere Beobachtungen lassen sich jedoch auch mit der Annahme vereinbaren, dass es sich bei diesen drei Komponenten Erinnerungsverzerrung, Vorwissensüberschätzung und Zwangsläufigkeitseindruck [Hervorhebungen durch J.H.P.] um voneinander relativ unabhängige Bestandteile eines globalen ‚Rückschau-Syndroms’ handelt.“ (Blank & Fischer, 2000, S.140).

Die Komponente „Vorwissensüberschätzung“ (Blank & Fischer, 2000) wird später auch als „Vorhersehbarkeitsillusion“ („foresight illusion“; Blank et al., 2003, S.492) oder „Vorhersehbarkeitseindruck“ („foreseeability impression“ bzw. „perceived foreseeability“; Blank & Nestler, in Druck, z.B. Ms. S.10; Blank et al., 2004, z.B. Ms. S.21) bezeichnet. Für den „Zwangsläufigkeitseindruck“ finden sich bei der Gruppe um Blank auch die englischen Bezeichnungen „impression of necessity“ und „perceived necessity“ (Blank et al., 2003; Blank & Nestler, in Druck; Blank et al., 2004). Die Komponente der „Erinnerungsverzerrung“ („memory distortion“; z.B. Blank et al., 2004; Blank & Nestler, in Druck) hingegen wird sehr einheitlich so benannt. Die drei Komponenten des Rückschaufehlers bei Blank werden hier den drei Rückschaufehler-Formen nach Kelman et al. (1998) gegenübergestellt:

- Die Zwangsläufigkeitseindrucks-Komponente nach Blank entspricht in ihrer Definition dem primären Rückschaufehler bei Kelman et al. (1998). Das wird dadurch gestützt, dass beide Autorengruppen sie mit dem „creeping determinism“ von Fischhoff (1975) gleichsetzen (vgl. z.B. Blank et al., 2003, S.492; Blank et al., 2004, Ms. S.3).
- Die Vorhersehbarkeitseindrucks-Komponente nach Blank wird gleichgesetzt mit dem „knew-it-all-along“-Effekt von Fischhoff (1975) und entspricht im Sinne dieser Rekurrierung sowie in der Definition dem sekundären Rückschaufehler, wie Kelman et al. (1998) ihn beschreiben.
- Die Erinnerungsverzerrungs-Komponente der Blank-Gruppe tritt bei Kelman et al. (1998) nicht als eigene Form des Rückschaufehlers auf, sondern wird unter den drei postulierten Rückschaufehler-Formen subsumiert. Die Erinnerungsverzerrungs-Kom­ponen­te beschreibt dabei das Phänomen, dass Personen, die vor der Kenntnisnahme einer bestimmten Information ein Urteil abgeben sollen und nach der Kenntnisnahme gebeten werden, sich an dieses Urteil zu erinnern, in der Regel eine Verzerrung ihrer Erinnerung in Richtung auf die Information zeigen. Bei Kelman et al. (1998), die sich allerdings in ihrer empirischen Erhebung auf ein Before-after-Design beschränken und somit gar keine Erinnerungsverzerrung, wie sie nur in einem Gedächtnisdesign auftreten kann, erfassen konnten, wäre die Erinnerungsverzerrung vermutlich eine Verzerrung, die in jeder der drei Rückschaufehler-Formen auftreten könnte und nur eine andere (von Kelman et al., 1998, vermutlich als äquivalent betrachtete) Art der Messung dieser drei Rückschaufehler darstellen würde.
- Hingegen hat der tertiäre Rückschaufehler sensu Kelman et al. (1998) in der Konzeption von Blank und Mitarbeitern keine direkte Entsprechung.[12]

Blank und Fischer weisen schon in ihrem Artikel aus dem Jahre 2000 darauf hin, dass verschiedene Prozesse sich unterschiedlich auf die drei Rückschaufehler-Komponenten auswirken sollten: So sollten auf die Vorwissensüberschätzung (Vorhersehbarkeitseindruck) vor allem metakognitive Annahmen über die eigenen Fähigkeiten wirken (im Sinne von „Normalerweise kann ich diese Dinge gut vorhersagen. Daher hätte/habe ich sie auch jetzt gut vorhergesagt.“). Hingegen könnte große Überraschung über einen Ereignisausgang eine Person veranlassen, anzunehmen, sie habe den Ausgang überhaupt nicht vorhergesehen. Der Vorhersehbarkeitseindruck kann aber auch motivational durch Selbstdarstellungsmotive und selbstwerterhöhende bzw. selbstwertschützende Motive beeinflusst sein. Bei Misserfolgswahrnehmung (man denke z.B. an einen Börsenmakler, der die „falschen“ Aktien gekauft hat) könne auch eine Verzerrung in Richtung stärkerer Nicht-Vorhersehbarkeit selbst(wert)dien­lich sein.

Für den Zwangsläufigkeitseindruck hingegen würden Beziehungen zu Persönlichkeits­variablen wie Kontrollüberzeugungen (z.B. Fatalismus) und Dogmatismus oder Ambiguitätstoleranz nahe liegen. Auch beim Zwangsläufigkeitseindruck könnten selbst(wert)dien­liche Mechanismen wirken (Blank & Fischer, 2000, S.140-141).

Im Abschnitt 2.4 der vorliegenden Arbeit wird genauer auf solche möglichen Mechanismen, sofern sie für diese Arbeit relevant sind, eingegangen. In der Betrachtung solcher Mechanismen drückt sich eine Hauptmotivation, die sich durch die Arbeiten der Blank-Gruppe hindurch zieht, aus: Der Trennung des „Rückschaufehler-Syndroms“ in separate Komponenten liegt die Annahme zugrunde, dass verschiedene Erklärungsansätze je nach betrachteter Komponente des Rückschaufehlers unterschiedlich hohe Erklärungskraft aufweisen. Denn keiner der einschlägigen Erklärungsansätze sei in der Lage, alle drei Komponenten des Rückschaufehlers gleichermaßen gut zu erklären. Eine Unterscheidung der Komponenten soll dabei helfen, anscheinend bestehende Widersprüche zwischen Erklärungsansätzen aufzulösen und ein integratives Modell zu entwickeln, das durch die Zuordnung verschiedener Erklärungsansätze bzw. verschiedener Mechanismen und Funktionen auf unterschiedliche Rückschaufehler-Kom­po­nen­ten vollständigere Erklärungen liefern kann, als dies bisher möglich ist.

Die drei von Blank und Mitarbeitern postulierten Rückschaufehler-Komponenten sollen dabei wohl als vorläufige Kategorisierung dienen, deren Sinn es sei, eine differenziertere Sichtweise als bisher auf den Rückschaufehler zu ermöglichen und damit die Forschung auf diesem Gebiet zu befruchten. Es werde Blank et al. (2004) zufolge kein Alleinvertretungsanspruch dieser drei Komponenten angenommen, sondern die Möglichkeit eingeräumt, dass noch mehr sinnvoll differenzierbare „Komponenten“ existieren: „… there is no guarantee that a closer investigation of hindsight components will end up with only two or three of these, although the three featured here are firmly rooted in existing hindsight conceptions.“ (Ms. S.38).

Ein Indiz dafür, dass diese drei Komponenten tatsächlich nicht in der Lage sind, die vorhandene Menge an Rückschaufehler-Operationalisierungen erschöpfend zu beschreiben, ist, dass numerische Schätzurteile, die in einem hypothetischen Design erhoben werden, keiner der drei Komponenten zuzuordnen sind (für solch ein Beispiel siehe Schwarz, 2002, Studien 1 bis 3; vgl. Abschn. 2.4.1.4). Um das zu verdeutlichen: Im Rahmen eines hypothetischen Designs werden Vpn mit Lösungsinformation gefragt, für wie hoch sie den Eiffelturm gehalten hätten, kennten sie die wahre Höhe nicht. Diese Werte werden mit den Schätzungen einer Gruppe ohne Lösungsinformation verglichen. Bei dem Rückschaufehler, den man hier vermutlich findet, handelt es sich nicht um eine Erinnerungsverzerrung, da die Vpn sich ja nicht erinnern sollten bzw. gar kein Präurteil abgegeben haben, an das sie sich erinnern könnten. Man kann auch schlecht sagen, dass die Vpn mit Lösungsinformation einen höheren Vorhersehbarkeitseindruck zeigen, wenn sie dichter an der wahren Höhe liegen. Erst recht geben sie nicht an, dass es „zwangsläufiger“ sei, dass der Eiffelturm eine bestimmte Höhe habe. Diese Form des Rückschaufehlers kann also keiner der drei von Blank postulierten Rückschau­fehler-Kompo­nen­ten zugeordnet werden. Gleichwohl handelt es sich hierbei um eine offenbar legitime Erfassung des Rückschaufehlers.

Viel Mühe wird in den Arbeiten von Blank und Mitarbeitern darauf verwendet, zu zeigen, dass die von dieser Gruppe postulierten drei Rückschaufehler-Komponenten tatsächlich separate, dissoziierte Komponenten („separate components view“; Blank & Nestler, in Druck, Ms. S.2) sind und daher die traditionelle Sichtweise des Rückschaufehlers als einheitliches Phänomen („unitary phenomenon view“; Blank & Nestler, in Druck, Ms. S.2) nicht zutrifft. Es wird betont, dass es sich bei den drei postulierten Komponenten nicht lediglich um verschiedene Operationalisierungen eines einheitlichen Phänomens, sondern um konzeptuell verschiedene Komponenten handele: „It is important to see that these are more than just different operationalizations of hindsight bias“ (Blank et al., 2004, Ms. S.5).

Dass die Komponente der Erinnerungsverzerrung, die sich ja auch nur im Gedächtnis­design erfassen lässt, konzeptuell von den beiden anderen Komponenten verschieden ist, wird dabei als evident vorausgesetzt. Die konzeptuelle Trennung von Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck hingegen wird durch inhaltliche und sprachliche Unterscheidungen aus der Philosophie fundiert (z.B. Dilley, 1969; Goldman, 1968; O’Connor, 1957; vgl. Blank & Nestler, in Druck, Ms. S.3). Solche mehr sprachwissenschaftlichen oder philosophischen Untersuchungen, die sich entweder mit dem Gebrauch von Worten oder mit deren Intension und ihrem logischen Zusammenhang beschäftigen, sind in der Regel nicht Gegenstand der Psychologie. Da diesem Thema im Rahmen der vorliegenden Studie aber ein gewisses Interesse zukommt, wird im Anhang ein Exkurs zu diesem Thema dargestellt (Anhang A1: Exkurs: Sprachlich-logische Beziehung von „Vorhersehbarkeit“ und „Zwangsläufigkeit“).

Die Gruppe um Blank geht davon aus, dass die postulierten Rückschaufehler-Komponenten nicht unter allen Bedingungen dissoziiert sind. Vielmehr gäbe es Bedingungen, bei denen sich Konsistenzeffekte zwischen den Komponenten zeigen. Unter anderen Bedingungen würden jedoch Nullkorrelationen oder sogar negative Korrelationen zwischen den Komponenten auftreten (Blank et al., 2004; Blank & Nestler, in Druck).

Da die vorliegende Arbeit zu der Klärung der Dissoziation zwischen dem Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck beitragen möchte, soll auf die empirischen Befunde und theoretischen Überlegungen zur Trennung dieser beiden Rückschaufehler-Komponenten näher eingegangen werden. Die Separierung der Erinnerungsverzerrungs-Komponente wird nur gestreift (vgl. dazu ausführlicher Blank et al., 2004). Bei den empirischen Befunden zur Trennung des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks wird zwischen empirischen Befunden aus der Literatur (Abschn. 2.2.3.2) und Studien, die von der Blank-Gruppe speziell durchgeführt wurden, um die Dissoziation der Komponenten zu zeigen (Abschn. 2.2.3.3), unterschieden.

2.2.3.2 Empirische Befunde aus der Literatur

Welche empirischen Befunde finden sich in der Literatur dafür, dass Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck zwei voneinander getrennte Komponenten sind? Hier sind zunächst die Ergebnisse von Mark und Mellor (1991) und Tykocinski (2001), die bereits in der Einleitung erwähnt wurden, anzuführen. Diese Studien legen eine Trennung des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks nahe. Da diese sowie verwandte Befunde (z.B. Louie, 1999; Louie et al., 2000; Mark et al., 2003; Pezzo, 2003; Tykocinski, Pick & Kedmi, 2002; Tykocinski & Steinberg, 2005) im Abschnitt 2.4 ausführlicher diskutiert werden, soll darauf hier nicht näher eingegangen werden.

Ein weiteres Indiz zugunsten des Drei-Komponenten-Ansatzes findet sich bei Powell (1988), der politische Wahlen im Gedächtnisdesign untersuchte und einen ausgeprägten Rückschaufehler fand, wenn Sicherheitsurteile zu den eigenen Aussagen erfasst wurden,
aber keinen, wenn Wahrscheinlichkeitsurteile abgegeben oder Wahlvorhersagen (als Prozentanteil der Stimmen, die eine Partei erreichen werde) erinnert wurden. Fasst man wie Blank et al. (2004) Sicherheitsurteile als Operationalisierung des Vorhersehbarkeitseindrucks, Wahrscheinlichkeitsurteile als Messung des Zwangsläufigkeitseindruck und einen Rückschaufehler bei der Erinnerung an prognostizierte Stimmanteile als Operationalisierung der Erinnerungsverzerrung auf, zeigen sich unterschiedliche Effekte beim Vergleich von Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck sowie beim Vergleich des Vorhersehbarkeitseindrucks mit der Erinnerungsverzerrung (vgl. Blank et al., 2004, Ms. S.6).

Allerdings gibt es zu der Trennung von Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck auch Gegenbefunde: So erfassten Hastie et al. (1999) ebenfalls Wahrscheinlichkeits­urteile (Zwangsläufigkeitseindruck) sowie Sicherheitsurteile und explizit die Vorhersehbarkeit (beide wären im Sinne des Drei-Komponenten-Ansatzes als Vorhersehbarkeitseindruck aufzufassen) bei einem Szenario, bei dem die Vpn einen Eisenbahnunfall beurteilen sollen. Der Rückschaufehler trat unter allen drei Operationalisierungen in vergleichbarer Größe auf. Dieses Ergebnis steht jedoch nicht im Widerspruch zu Blank et al. (2004) sowie Blank und Nestler (in Druck), da diese Autoren eine Dissoziation von Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck, wie oben erwähnt, nur unter bestimmten Randbedingungen (z.B. bei hoher Selbstrelevanz eines Ereignisses) annehmen.

2.2.3.3 Empirische Studien der Blank-Gruppe

Die erste Studie der Blank-Gruppe (Blank et al., 2003), in der Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck explizit mit Einzelitems erhoben wurden, befasste sich mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 2000. In dieser Studie zeigten sich die beiden Komponenten als positiv miteinander korreliert (Korrelation nach Auspartialisierung des Vorschau-Rückschau-Gruppen-Effekts: r =.31, p =.014). Zur Komponente der Erinnerungsverzerrung waren der Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck allerdings unabhängig. Diese positive, aber relativ schwache Korrelation zwischen Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck wird aufgrund der geringen Reliabilität der Einzelitem-Maße von den Autoren als wenig aussagekräftig eingeschätzt (Blank et al., 2003, S.498; vgl. auch Blank et al., 2004, Ms. S.9).

Um dieser geringen Reliabilität zu begegnen, versuchte die Gruppe um Blank, Skalen für den Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck zu entwickeln. Diese Skalen wurden bei verschiedenen Wahlen eingesetzt (Bundestagswahl 2002, Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen 2003; vgl. Blank et al., 2004).[13] Allerdings erwies sich nur die Vorhersehbarkeitseindrucks-Skala als hinreichend intern konsistent (Cronbachs Alpha zwischen .65 und .83 bei den drei Wahlen). Die Zwangsläufigkeitsskala erwies sich als nicht reliabel (Blank et al., 2004). Somit war es in diesen Studien nicht möglich, eine Dissoziation des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks zu zeigen. Den Autoren zufolge fundieren die Ergebnisse dieser Wahlstudien allerdings eine Dissoziation von Vorhersehbarkeitseindruck und Erinnerungsverzerrung, was nicht nur durch Korrelationen zwischen den Komponenten, sondern auch durch die differentielle Wirkung des Behaltensintervalls auf den Vorhersehbarkeitseindruck und die Erinnerungsverzerrung belegt werde (Blank et al., 2004).

Ferner wurde ein Zusammenhang zwischen den Vorhersehbarkeits­eindrucks-Messun­gen bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen und der „objektiven Vorhersehbarkeit“ der Wahlergebnisse gefunden: Bei der Hessen-Wahl stimmte die Vorhersage durch die Meinungsforschungsinstitute exakter mit dem tatsächlichen Wahlausgang überein als bei der Niedersachsen-Wahl (das ist die „objektive Vorhersehbarkeit“). Dies spiegelte sich in absolut höheren Vorhersehbarkeitsurteilen der Probanden bei der Hessen- als bei der Niedersachsen-Wahl wider. Daraus folgern Blank et al. (2004), dass die Vorhersehbarkeitsskala, zumindest für politische Wahlen, extern valide ist: „Hence, we conclude that our foreseeability measure is valid in the sense that it reflects differences in actual foreseeability.“ (Ms. S.10).

In zwei weiteren, bisher unveröffentlichten Studien der Blank-Gruppe, die als Material (a) die Simulation eines Quiz und (b) die Fußball-Europa-Meisterschaft 2004 verwenden, waren Vorhersehbarkeitseindruck und Erinnerungsverzerrung unkorreliert bzw. schwach negativ korreliert. Auch hier traten Effekte verschiedener Moderatorvariablen (Selbstrelevanz sowie Abgabe von zwei vs. zehn Gründen für den Ereignisausgang) zum Teil in der einen, aber nicht in der anderen Komponente auf (Blank, 2004). Auch das wird von der Blank-Gruppe als Beleg für eine Dissoziation gewertet.

Die erste umfassende Studie, in der alle drei postulierten Komponenten gleichzeitig erfasst wurden, hatte die Bewerbung der Stadt Leipzig als Austragungsort für die Olympischen Spiele im Jahre 2012 zum Gegenstand (Blank & Nestler, in Druck). Am 18. Mai 2004 fiel die Entscheidung des International Olympic Committee (IOC), dass Leipzig nicht in der End­auswahl der Städte, die um die Austragung der Spiele im Jahre 2012 konkurrieren, verbleibt. Sowohl in der Vor- als auch in der Rückschau wurden Maße für alle drei Komponenten erhoben. Der Untersuchung lag ein Before-after-Design (vgl. Abschn. 2.1) bzgl. der Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucksmaße sowie ein Gedächtnisdesign bzgl. des Erinnerungsverzerrungsmaßes zugrunde. Von der Vorschau- zur Rückschauerhebung zeigten sich eine deutliche Abnahme des Vorhersehbarkeitseindrucks und eine deutliche Zunahme des Zwangsläufigkeitseindrucks. Dies kann als ein Hinweis auf eine Dissoziation der beiden Eindrucksmaße gewertet werden. Dabei waren Prä-Post-Zunahmen des Vorhersehbarkeitseindrucks schwach negativ mit Prä-Post-Zunahmen des Zwangsläufigkeitseindrucks korreliert (r =-.20, p =.046). Zum Maß der Erinnerungsverzerrung ergaben sich eine schwach positive Korrelation mit Zunahmen im Vorhersehbarkeitseindruck (r =.21, p =.04) und eine schwach negative Korrelation mit Zunahmen im Zwangsläufigkeitseindruck
(r =-.20, p =.045). Von Blank und Nestler (in Druck) werden diese schwachen Korrelationen zwischen den Komponenten als Beleg für deren Unabhängigkeit gedeutet.

Besondere Beachtung schenken Blank und Nestler (in Druck) der angenommenen Dissoziation zwischen dem Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck. Sie stellen fest, dass die Selbstrelevanz der Olympiakandidatur-Niederlage bzw. das Commitment der Vpn (operationalisiert unteranderem als Enttäuschung über die Niederlage und als Ausmaß der Unterstützung der Kandidatur Leipzigs) einen moderierenden Einfluss auf den Vorhersehbarkeits- und den Zwangsläufigkeitseindruck haben: Höhere Selbstrelevanz bzw. höheres Commitment führen zu einer geringeren Prä-Post-Zunahme des Vorhersehbarkeitseindrucks und einer höheren Prä-Post-Zunahme des Zwangsläufigkeitseindrucks. Diese Ergebnisse werden von Blank und Nestler (in Druck) nicht nur als Hinweis auf die Dissoziation der beiden Komponenten, sondern auch als konform zu den Befunden von Mark und Mellor (1991; Mark et al., 2003) sowie Louie (1999) und Tykocinski (2001; Tykocinski et al., 2002) bewertet (vgl. dazu Abschn. 2.4, speziell Abschn. 2.4.4).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Dissoziation der Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks-Komponente nicht unter allen Bedingungen zeigt. Es gibt aber deutliche Hinweise, dass diese Komponenten sich, zumindest in der Form der bei Blank und Mitarbeitern verwendeten Operationalisierung, unter verschiedenen Bedingungen entgegengesetzt verhalten und von Moderatoren in unterschiedlicher Weise beeinflusst werden können. Zur Dissoziation der Komponenten wurden bisher überwiegend reale Ereignisse im Feld untersucht. Dabei ist die Gefahr, dass unidentifizierte Störgrößen die interne Validität der Ergebnisse beeinträchtigt haben, sicherlich ausgeprägter als bei experimentellen Laborstudien – man denke an die Medienberichte, die solche realen Ereignisse begleiten und durch welche die Meinungen und Einstellungen der Vpn beeinflusst werden können. Daher hat die vorliegende Arbeit unter anderem zum Ziel, die bisherigen Befunde zur Dissoziation des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks auch unter experimentellen Laborbedingungen zu prüfen.

2.3 Erklärungsansätze des Rückschaufehlers

Es existieren inzwischen zahlreiche Ansätze, die versuchen, das Auftreten des Rückschaufehlers zu erklären. Diese Ansätze lassen sich (z.B. nach Schwarz, 2002) in gedächtnis­theoretische, urteilstheoretische und motivationale Erklärungsansätze einteilen. Eine andere gebräuchliche Einteilung fasst die urteilstheoretischen und gedächtnistheoretischen Ansätze als kognitive Erklärungsansätze zusammen (z.B. Kohnert, 1996). Einen guten einführenden Überblick in deutscher Sprache liefert Schwarz in seiner Dissertation von 2002 auf den Seiten 45 bis 84. Weitere aktuelle, aber weniger ausführliche Übersichten finden sich z.B. bei Hoffrage und Pohl (2003) oder Ludwig (2000). „Klassische“ Übersichtsartikel stammen von Christensen-Szalanski und Willham (1991) sowie Hawkins und Hastie (1990).

Da die kognitiven Erklärungsansätze für das Verständnis der vorliegenden Arbeit weder erforderlich noch relevant sind, wird hier auf eine Darstellung verzichtet. Die motivationalen Ansätze werden, soweit sie für die vorliegende Arbeit relevant sind, an geeigneter Stelle (vor allem im Abschn. 2.4) eingeführt. Der interessierte Leser bzw. die interessierte Leserin sei, sofern er bzw. sie nicht ohnehin über ein profundes Hintergrundwissen zum Rückschaufehler verfügt, auf die oben angegebene Literatur, vor allem auf Schwarz (2002), verwiesen.

2.4 Empirische Befunde und theoretische Überlegungen: Der Einfluss negativer, selbstrelevanter Ausgänge

Dieser Abschnitt behandelt die Auswirkung von negativen, selbstrelevanten Ereignisausgängen auf die Einschätzung des Vorhersehbarkeits- und des Zwangsläufigkeitseindrucks. Die Grundannahme ist, dass (a) der selbstwertschützende Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) zu einer Verringerung des Vorhersehbarkeitseindrucks führt, während (b) der retroaktive Pessimismus (im Sinne eines Coping-Mechanismus zur Enttäuschungslinderung) sensu Tykocinski (2001) zu einer Erhöhung des Zwangsläufigkeitseindrucks führt. Dabei wird zum Zwecke der Darstellung angenommen, dass es sich beim Vorhersehbarkeits- und Zwangs­läufigkeitseindruck um unterschiedliche Konstrukte handelt.

Allerdings unterscheiden viele Studien nicht zwischen dem Vorhersehbarkeits- und dem Zwangsläufigkeitseindruck, was die Darstellung in diesem Abschnitt verkompliziert. So kommt es vor, dass z.B. eine Studie intendiert, die Hypothese von Mark und Mellor (1991), die den Vorhersehbarkeitseindruck erfasst haben, zu belegen und von den Autor/innen auch dahingehend interpretiert wurde, weil sie eine Verringerung des Rückschaufehlers beobachtet haben. Wenn die Autor/innen nun aber den Zwangsläufigkeitseindruck erfasst haben (wie z.B. Schwarz, 2002, Studie 4; vgl. Abschn. 2.4.2.2), ist das, was im Rahmen der traditionellen Sichtweise des Rückschaufehlers („einheitliches Phänomen“) als Stützung des selbstwertschützenden Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) gilt, im Kontext des Drei-Komponenten-Ansatzes kein Beleg für den selbstwertschützenden Mechanismus, sondern ein Gegenbefund zu den Ergebnissen von Tykocinski (z.B. Tykocinski, 2001).

Zunächst (Abschn. 2.4.1) werden Studien vorgestellt, die den selbstwertschützenden Mechanismus (Vorhersehbarkeitseindrucks-Verringerung) sensu Mark und Mellor (1991) bestätigen oder widerlegen bzw. von den Autor/innen im Sinne einer Bestätigung oder Widerlegung interpretiert wurden (es sind dies die Arbeiten von Louie, 1999; Louie et al., 2000; Mark et al., 2003; Schwarz, 2002; Walster, 1967). Dabei wird sich herausstellen, dass die meisten Arbeiten (nämlich Louie, 1999; Louie et al., 2000; Schwarz, 2002) nicht – zumindest nicht eindeutig – den Vorhersehbarkeitseindruck erfasst haben.

Es folgt in Abschnitt 2.4.2 eine Darstellung der Befunde und Gegenbefunde zum retroaktiven Pessimismus nach Tykocinski (2001). In Abschnitt 2.4.3 wird diskutiert, welche Rolle der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit (oder Verantwortlichkeit) und der Herausbildung von Schuldgefühlen bei der Auslösung des selbstwertschützenden Mechanismus bzw. des retroaktiven Pessimismus möglicherweise zukommt. Anschließend (Abschn. 2.4.4) wird die bisher wohl einzige Studie referiert, die im Rahmen negativer, selbstrelevanter Ausgänge sowohl den Vorhersehbarkeits- als auch den Zwangsläufigkeitseindruck parallel erfasst hat. Die wichtigsten Erkenntnisse und Befunde werden schließlich kurz zusammengefasst und diskutiert (Abschn. 2.4.5).

2.4.1 Selbstwertschutz durch Verringerung des Vorhersehbarkeitseindrucks

In diesem Abschnitt wird zunächst die Hypothese von Mark und Mellor (1991) vorgestellt (Abschn. 2.4.1.1). Mark und Mellor postulierten, dass bei selbstwertbedrohlichen Ereignisausgängen die Vorhersehbarkeit des Ausgangs retrospektiv verringert wird, um den eigenen Selbstwert zu schützen. Obwohl die Studie von Mark und Mellor (1991) für diese Hypothese spricht, gibt es auch einen Gegenbefund von Walster (1967; Abschn. 2.4.1.2).

Wie Louie (1999) hervorhebt, lassen sich die Befunde von Mark und Mellor (1991) alternativ auch damit erklären, dass die Selbstwertbedrohung bei Mark und Mellor mit der Involviertheit der Untersuchungsteilnehmer/innen konfundiert war (Abschn. 2.4.1.3). Folglich könnte die höhere Involviertheit – unabhängig davon, ob der Ausgang selbstwertbedrohlich ist – für eine Reduzierung oder auch Eliminierung des Rückschaufehlers verantwortlich zeichnen. Um eine Entscheidung zwischen diesen Erklärungsansätzen herbeizuführen, führte Louie (1999) ein Experiment durch (Abschn. 2.4.1.4). Dieses Experiment bestätigt laut Louie (1999) den Erklärungsansatz von Mark und Mellor (1991) – nach Auffassung des Verfassers kann dem allerdings nur bedingt zugestimmt werden, da die Operationalisierungen des Rückschaufehlers in den beiden Studien unterschiedlich und daher nicht direkt vergleichbar sind. Weitere vermeintliche Belege (Abschn. 2.4.1.4) für die Hypothese von Mark und Mellor (1991) finden sich bei Louie et al. (2000) sowie Schwarz (2002, Studien 1 bis 3). Wie allerdings dargelegt werden wird, lassen sich diese Studien aufgrund ihrer Operationalisierung nicht eindeutig als Befunde zur Vorhersehbarkeitseindrucks-Verringerung unter Selbstwertbedrohung werten. Eine tatsächliche Bestätigung der These von Mark und Mellor (1991) findet sich schließlich bei Mark et al. (2003; Abschn. 2.4.1.5). Mark et al. (2003)
variierten zudem die Selbstrelevanz und die Valenz des Ereignisausgangs experimentell und überwanden somit die Probleme der Feldstudie von Mark und Mellor (1991). Der Abschnitt 2.4.1 schließt mit einer Diskussion der Befunde (Abschn. 2.4.1.6).

2.4.1.1 Hypothese und Befunde von Mark und Mellor

Wie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit berichtet, untersuchten Mark und Mellor (1991) in einer Feldstudie den Einfluss der Selbstrelevanz eines negativen Ereignisses auf den Vorhersehbarkeitseindruck.[14] Dabei ist nochmals zu betonen (vgl. Kap. 1), dass Mark und Mellor (1991) den Rückschaufehler stets im Sinne einer Vorhersehbarkeits veränderung auffassen und auch an den Stellen, an denen sie allgemein von „hindsight bias“ sprechen, sich wohl implizit auf Vorhersehbarkeitseindrücke beziehen:

The hindsight bias refers to the tendency, once the outcome of an event is known, to overestimate how predictable that outcome was in foresight. This “Monday morning quarterback” or “knew-it-all-along” effect has been demonstrated in a number of
studies. (S.569; Hervorhebung durch J.H.P.)

Sie fanden bei höherer Selbstrelevanz (d.h. bei den Personen, die selbst von den Entlassungen betroffen waren) einen geringer ausgeprägten Vorhersehbarkeitseindruck als bei Personen, für die das Ereignis geringere Selbstrelevanz besaß (d.h. bei unbeteiligten Einwohnern der Region, denen man einen Beobachterstatus zuschreiben könnte bzw. bei nicht entlassenen Mitarbeitern des Betriebs).[15] Mark und Mellor (1991) interpretieren dies als selbstwertschützenden Mechanismus: Würden die Entlassenen sich, wie aufgrund des klassischen „knew-it-all-along“-Effektes zu erwarten, eingestehen, dass die Entlassungen vorhersehbar waren, ohne dass sie etwas dagegen unternommen haben, müssten sie an ihren Fähigkeiten zweifeln und sich Selbstvorwürfe machen. Um diese Selbstvorwürfe zu vermeiden, verringerten sie die wahrgenommene Vorhersehbarkeit der Entlassungen. Somit könnten sie vor sich selbst argumentieren, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten, da die Entlassungen nicht vorhersehbar waren.

2.4.1.2 Ein früher widersprüchlicher Befund: Die Studie von Walster (1967)

Das von Mark und Mellor (1991) berichtete Resultat steht, wie diese selbst einräumen, im Widerspruch zu den Ergebnissen von Walster (1967). Walster ging davon aus, dass Menschen ein Bedürfnis haben, die Welt als vorhersehbar und kontrollierbar wahrzunehmen. Dieses Bedürfnis sollte umso größer sein, je bedeutsamer die persönlichen Konsequenzen eines Ereignisausgangs sind.

Tatsächlich findet Walster (1967) einen größeren Rückschaufehler (erfasst als Sicherheitsurteil bezüglich des Vorhersehbarkeits­eindrucks) bei Vpn, denen besonders schwerwiegende Konsequenzen mitgeteilt wurden. Nach der Hypothese von Mark und Mellor (1991) wäre ein genau entgegengesetzter Effekt zu erwarten gewesen.

2.4.1.3 Alternativerklärung der Befunde von Mark und Mellor: Die Rolle der Involviertheit

Louie (1999) liefert eine Alternativerklärung für die Befunde von Mark und Mellor (1991): Der reduzierte Vorhersehbarkeitseindruck der Entlassenen in der Studie von Mark und Mellor (1991) könne auch darauf zurückgeführt werden, dass die höhere Involviertheit der Entlassenen (gegenüber den unbeteiligten Einwohnern der Region und gegenüber den im Betrieb verbliebenen Mitarbeitern) diese dazu veranlasst haben mag, sich besondere Mühe („extra effort“; Louie, 1999, S.30) bei der Abgabe der Rückschauurteile zu geben. Durch diese besondere Anstrengung könnte es den am stärksten involvierten Studienteilnehmer/in­nen gelungen sein, besonders exakte, unverzerrte Rückschauurteile abzugeben.

Diese Interpretation steht im Einklang mit den Befunden von Brown und Solomon (1987; vgl. auch Creyer & Ross, 1993), die zeigten, dass höhere Involviertheit den Rückschaufehler (erfasst als Sicherheitsurteil) reduziert.[16] Daher ist es möglich, dass Personen, die um Urteile bezüglich selbstrelevanter Ereignisausgänge gebeten werden, sich besser als weniger involvierte Personen an ihre Vorschauperspektive erinnern können bzw. besser in der Lage sind, diese unverzerrt zu rekonstruieren (wenn sie, wie bei Mark & Mellor, 1991, keine expliziten Vorschauurteile abgeben mussten).

2.4.1.4 Vermeintliche Bestätigung der Hypothese von Mark und Mellor

Im Folgenden werden Studien beschrieben, die in der Literatur oft als Belege für die Hypothese von Mark und Mellor (1991) herangezogen werden. Wie deutlich werden wird, handelt es sich dabei nach Auffassung des Verfassers jedoch nur um vermeintliche Belege, die einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Anders als bei Mark und Mellor (1991; sowie Mark et al., 2003) wird in den hier berichteten Studien nämlich nicht stets der Vorhersehbarkeitseindruck erfasst. Da diesen Studien aufgrund ihrer Rezeption allerdings einige Bedeutung zukommt, soll hier gezeigt werden, warum sie nach Auffassung des Verfassers den selbstwertschützenden Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) nicht stützen können – zumindest dann nicht, wenn man den Drei-Komponenten-Ansatz zugrunde legt und anerkennt, dass Mark und Mellor (1991) sich auf den Vorhersehbarkeitseindruck beziehen (vgl. Fußnote 14 sowie Abschn. 2.4.1.1).

1. Die Studie von Louie (1999)

Um zu entscheiden, ob der oben berichteten, kognitiven Sichtweise der höheren Involviertheit sensu Brown und Solomon (1987; vgl. Abschn. 2.4.1.3) oder dem motivationalen Ansatz der selbstwertschützenden Funktion der Vorhersehbarkeitseindrucks-Verringerung[17] sensu Mark und Mellor (1991) der Vorzug zu geben sei, um die Reduzierung (respektive
Elimination bzw. Umkehrung) des Rückschaufehlers zu erklären, führte Louie (1999) eine Studie durch. Sie untersuchte bei Personen, die selbst eine Entscheidung getroffen haben, ob es unterschiedliche Auswirkungen auf den Rückschaufehler hat, wenn der Ereignisausgang positiv (und daher selbstwertdienlich) oder negativ (und daher selbstwertbedrohlich) ausfällt.

Nach Brown und Solomon (1987) macht es keinen Unterschied, ob die Vpn selbstwertdienliche oder selbstwertbedrohliche Ereignisausgänge erfahren: Wenn sie persönlich stark involviert sind, sollte der Rückschaufehler – operationalisiert als Sicherheitsurteil – unter beiden Bedingungen gering ausfallen bzw. eliminiert[18] werden (vgl. aber z.B. Baumeister, Bratslavsky, Finkenauer & Vohs, 2001, für die oft asymmetrische Wirkung positiver und negativer Informationen, sowie die Metaanalyse von Guilbault et al., 2004, für die größeren Effektstärken bei negativen als bei positiven Ausgängen). Dem gegenüber sollten nach Mark und Mellor (1991) Personen mit selbstwertdienlichem (oder neutralem) Ereignisausgang einen klassischen Rückschaufehler, Personen mit selbstwertbedrohlichem Ausgang hingegen einen reduzierten – bzw. eliminierten oder umgekehrten – Rückschaufehler aufweisen (vgl. auch Pezzo, 2003, S.422).[19]

Louie (1999) gestaltete ihre Untersuchung als „Börsensimulation“: Sie bat Wirtschafts­studierende, anzugeben, ob sie eine bestimmte Aktie kaufen würden oder nicht. In dem hypothetischen Design ihrer Studie erhielten die Vpn dann (a) keine Rückmeldung (Kontrollgruppe ohne Ausgangsinformation), (b) die Rückmeldung, dass die Aktie nach einem Jahr im Wert gestiegen sei (Experimentalgruppe mit positiver Ausgangsinformation) oder
(c) die Rückmeldung, dass die Aktie nach einem Jahr im Wert gesunken sei (Experimentalgruppe mit negativer Ausgangsinformation). Anschließend gaben die Vpn Rückschauurteile ab:

- Die Kontrollgruppe ohne Ausgangsinformation wurde gefragt, wie sich der Aktienkurs entwickeln wird: „[The participants; J.H.P.] were asked what they thought would happen to the value of the shares after one year. They responded on a scale of 1 (the value will definitely decrease) to 15 (the value will definitely increase)“ (Louie, 1999, S.31; Hervorhebungen im Original).
- Die beiden Experimentalgruppen mit Ausgangsinformation (positive bzw. negative Valenz) sollten hingegen Vorhersehbarkeitseindrucks­urteile abgeben, da sie gefragt wurden, was sie vorhergesagt hätten, wie sich die Aktien entwickeln werden: „They responded on a scale of 1 (I would have predicted that the value would definitely decrease) to 15 (I would have predicted that the value would definitely increase)“ (Louie, 1999, S.32; Hervorhebungen im Original).

Die Operationalisierung in den Experimentalgruppen kann eindeutig als Vorhersehbarkeitsurteil angesehen werden. Die Vpn werden hier gebeten, eine Aussage darüber zu machen, was sie selbst vorhergesagt hätten: „I would have predicted“ (Louie, 1999, S.32). Es handelt sich also um ein Urteil über die eigene Person, was impliziert, dass die Vpn sich danach fragen, was sie hätten wissen oder vorhersagen können.

In der Kontrollgruppe wurden die Vpn zwar auch nach einem Urteil gefragt, aber dieses Urteil betraf nicht die eigene Person und den eigenen Erkenntniszustand, sondern die objektive Umwelt. Die Vpn gaben an, was ihrer Meinung nach mit den Aktienkursen passieren wird. Sie machten Aussagen im Sinne von „(ich glaube) der Wert der Aktien wird (definitiv/ganz bestimmt) steigen bzw. fallen“ statt „ich sehe vorher, dass der Wert der Aktien steigen bzw. fallen wird“. Nach Meinung des Verfassers ist es möglich, die Operationalisierung der Kontrollgruppe im Sinne eines Zwangsläufigkeitseindrucks aufzufassen, zumindest was die Extreme der Skala betrifft: „The value will definitely increase/decrease” impliziert, dass die Richtung der Wertentwicklung feststeht und in gewisser Weise „zwangsläufig“ ist. Selbst wenn man die Operationalisierung der Kontrollgruppe nicht als Zwangsläufigkeitseindruck auffassen möchte, weil nicht explizit gefragt wird, ob die jeweilige Wertentwicklung zwangsläufig, unausweichlich, vorherbestimmt oder ähnliches sei, so ist es nach Meinung des Verfassers zumindest sehr zweifelhaft, dass in der Kontrollgruppe tatsächlich ein Vorhersehbarkeitseindruck erfasst wird.

Als selbstwertdienlich galten Rückmeldungen bei Louie (1999), wenn die Person sich entschieden hatte, die Aktie zu kaufen und die Aktie gestiegen war bzw. wenn die Person sich entschieden hatte, die Aktie nicht zu kaufen und die Aktie gesunken war. Eine selbstwertbedrohliche Rückmeldung lag hingegen vor, wenn die Person sich entschieden hatte, die Aktie zu kaufen und die Aktie gesunken war bzw. wenn die Person sich entschieden hatte, die Aktie nicht zu kaufen und die Aktie gestiegen war.

Das Ergebnis der Studie war, dass sich bei selbstwertdienlichen Rückmeldungen ein klassischer Rückschaufehler in Richtung des Ereignisausgangs zeigte, im Falle selbstwertbedrohlicher Rückmeldungen allerdings kein Rückschaufehler auftrat. Daraus folgert Louie (1999), in Übereinstimmung mit Mark und Mellor (1991), dass motivationale Mechanismen den Rückschaufehler in folgender Weise beeinflussen: (a) Bei selbstwertdienlichen Rückmeldungen beanspruchen Personen „die Lorbeeren für sich“, d.h. sie zeigen einen klassischen Rückschaufehler bzgl. des Vorhersehbarkeitseindrucks (im Sinne von „Ich habe schon immer gewusst, dass meine Entscheidung richtig war.“). (b) Bei selbstwertbedrohlichen Rückmeldungen hingegen wird der Tadel oder die eigene Schuldzuschreibung vermieden, indem die Personen keinen Rückschaufehler (bzw. einen umgekehrten Rückschaufehler) bzgl. der Vorhersehbarkeit zeigen (im Sinne von „Es war unmöglich, vorherzusehen, dass die Aktien sich so entwickeln würden – daher war es nicht mein Fehler, dass meine Entscheidung sich als ungünstig erwiesen hat.“). Insofern würde die Studie von Louie (1999) den selbstwertschützenden Mechanismus belegen.

Die Aussagekraft der Studie von Louie (1999) ist im Kontext des Drei-Komponenten-Ansatzes nach Auffassung des Verfassers jedoch eingeschränkt, da die Operationalisierung in der Kontrollgruppe und in den beiden Experimentalgruppen zumindest so unterschiedlich war, dass man nicht davon ausgehen kann, dass beide dieselbe Rückschaufehler-Komponente (d.h. den Vorhersehbarkeitseindruck) gemessen haben: Die Kontrollgruppe stellt dann gegenüber den Experimentalgruppen nicht nur eine Variation der Ausgangs­information dar, sondern auch eine Variation der erfassten Komponente oder zumindest der Operationalisierung dieser Komponente. Das lässt die Validität eines Vergleichs zwischen den Experimentalgruppen und der Kontrollgruppe zweifelhaft erscheinen.

Brauchbar ist die Kontrollgruppe streng genommen nur unter der Zusatzannahme, dass sich die beiden Operationalisierungen (a) „Ich würde vorhersagen, dass der Wert definitiv steigen/sinken wird.“ und (b) „Der Wert wird definitiv steigen/sinken.“ (letzteres ist die tatsächlich in der Kontrollgruppe verwendete Operationalisierung) in der Kontrollgruppe in ihrer absoluten Höhe auf der 15-Punkte Skala nicht unterscheiden würden. Dass diese Zusatzannahme zutrifft, ist allerdings nicht belegt und nach Meinung des Verfassers auch nicht plausibel. Geht man hingegen davon aus, dass in der Kontrollgruppe Urteile der Form „Ich würde vorhersagen, dass X passieren wird“ etwas extremer (ein bzw. zwei Skalenpunkte in der indizierten Richtung) ausfallen würden als Urteile der Form „X wird passieren“, könnte sich in allen Versuchsbedingungen ein gleich großer Rückschaufehler zeigen oder das Ergebnismuster könnte sich sogar umkehren (auch für die Bedingung positiver Rückmeldung).

Da ungeklärt ist, ob die Zusatzannahme zutrifft, dass die beiden hier besprochenen Operationalisierungen tatsächlich austauschbar sind und zu identischen Antworten der Vpn führen, soll die Studie von Louie (1999) hier nicht als Bestätigung für die Vorhersehbarkeits­verringerung bei negativen, selbstrelevanten Ausgängen gewertet werden. Da diese Studie jedoch oft als Stützung der Befunde von Mark und Mellor (1991) angesehen wird (z.B. Blank et al., 2004; Blank & Nestler, in Druck), wurde sie hier vorgestellt.

2. Die Studie von Louie, Curren und Harich (2000)

Die Studie von Louie, Curren und Harich (2000) wird manchmal als Replikation der Ergebnisse von Louie (1999) im Kontext von Gruppenentscheidungen aufgefasst (z.B. Pezzo, 2003, S.422; vgl. aber auch Blank & Nestler, in Druck, Ms. S.11). Im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes sind die Ergebnisse der Studie von Louie et al. (2000) aber nicht mit den Resultaten der Untersuchung von Louie (1999) vergleichbar: Nicht nur, dass Louie et al. (2000) Wahrscheinlichkeitsmaße erheben („participants predicted the likelihood“; Louie et al., 2000, S.267), die im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes am ehesten als Zwangsläufigkeitsurteile aufzufassen sind, sie messen diese zudem in einem Gedächtnisdesign. Daher sind die Zwangsläufigkeitsurteile untrennbar mit der Erinnerungsverzerrung konfundiert. Eine Gleich­setzung dieses Maßes mit der Operationalisierung von Louie (1999) oder gar mit der Erfassung von Vorhersehbarkeitsurteilen erscheint nicht angebracht.

Lässt man diese unterschiedliche Operationalisierung einmal außer Acht, scheint das Ergebnis von Louie et al. (2000) konform mit den Befunden von Louie (1999) und Mark und Mellor (1991) zu sein. Louie et al. (2000) finden für die Rückmeldung von fallenden Aktienkursen folgendes Ergebnismuster: (a) Ein klassischer Rückschaufehler, d.h. in diesem Falle eine Veränderung der Wahrscheinlichkeitsurteile in Richtung größerer Zwangsläufigkeit für das eingetretene Ereignis, findet sich nur bei der Gruppe, für welche die fallenden Aktienkurse einen positiven, selbstrelevanten Ausgang darstellen. Im Falle der Studie von Louie et al. (2000) ist dies die Gruppe der Beobachter, für die der negative Ausgang der anderen, konkurrierenden Teams eine positive Valenz besitzt und für die – aufgrund der Interdependenz der relativen Team­ergebnisse – der Ausgang der anderen Teams selbstrelevant ist.
(b) Die Gruppe der Akteure, für die der gleiche Ausgang negativ und selbstrelevant[20] ist, zeigt keinen Rückschaufehler.[21]

In der Bedingung steigender Aktienkurse findet sich: (a) Die Akteure zeigen – ebenfalls konsistent mit den Ergebnissen von Louie (1999) – eine deutliche Zunahme der Zwangs­läufigkeitseinschätzung des eingetretenen Ereignisses bei selbstrelevanter, positiver Rückmeldung. (b) Die Beobachter weisen im Falle positiver Rückmeldungen für die gegnerischen Teams bei Louie et al. (2000) keine Veränderung zwischen ihren Vor- und Rückschau­urteilen auf, wobei hier wieder zu beachten ist, dass eine positive Rückmeldung für die Gegner von den Beobachtern selbst als negativ und durchaus selbstrelevant wahrgenommen werden sollte.

Ein in der Regel wenig beachteter Unterschied zwischen den Akteuren und den Beobachtern besteht bei Louie et al. (2000) übrigens in der Kontrollierbarkeit des Ereignisausgangs: Die Akteure treffen ihre Entscheidung für oder gegen den Aktienkauf selbst und bestimmen somit mittelbar die Valenz des Ausgangs (wenngleich sie, aufgrund der experimentellen Manipulation durch die Versuchsleitung, nur vermeintlich Kontrolle über den Ausgang besitzen). Die Beobachter besitzen hingegen keinerlei Kontrolle über den Erfolg bzw. Misserfolg der anderen Teams. Auf den Aspekt der Kontrolle wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen.

Festzuhalten bleibt, dass Louie et al. (2000) ihre Ergebnisse als Stützung des von Mark und Mellor (1991) postulierten selbstwertschützenden Mechanismus sehen: Bei selbstrelevanten Ereignisausgängen unterliegen Personen (a) bei Ausgängen, die für sie selbst positiv sind, einem klassischen Rückschaufehler, aber (b) bei für sie negativen Ausgängen keinem Rückschaufehler. Dieses Muster zeigte sich in dieser Studie unabhängig davon, ob eine Vp über den Ereignisausgang Kontrolle besaß oder nicht.

Wie erwähnt, beachten Louie et al. (2000) dabei nicht, dass Mark und Mellor (1991) nach der Vorhersehbarkeit, sie selbst aber nach der Erinnerung an die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit von Ereignisausgängen gefragt haben. Vor dem Hintergrund der traditionellen Sichtweise des Rückschaufehlers als einheitliches Phänomen ist dies unproblematisch. Im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes sollte die Arbeit von Louie et al. (2000) allerdings nicht als Bestätigung der Hypothese von Mark und Mellor (1991) gewertet werden.

3. Die Studien von Schwarz (2002, Studien 1 bis 3)

Auch Schwarz (2002) sieht die Ergebnisse der ersten drei Experimente seiner Dissertation zur „selbstwertdienlichen Verarbeitung von persönlich relevanten Informationen“ (so der Untertitel der Dissertation) als Bestätigung der Befunde von Mark und Mellor (1991) sowie Louie (1999). Schwarz (2002) geht davon aus, dass Personen „bei negativer (selbstwert­bedrohlicher) Ergebnisinformation versuchen, ihr Selbstwertgefühl zu schüt­zen, indem sie angeben, daß sie diesen Ereignisausgang nicht vorhergesehen hätten (kein Hindsight Bias oder Reversed Hindsight Bias)“ (S. 85).

Dies entspricht exakt der Interpretation, die Mark und Mellor (1991) und in deren Folge Louie (1999) und Mark et al. (2003) zur Erklärung ihrer Befunde heranziehen. Ferner schreibt Schwarz (2002, S.87) explizit, dass sein erstes Experiment die Ergebnisse der Feldstudie von Mark und Mellor (1991) in einem experimentellen Ansatz replizieren sollte. Das zweite und dritte Experiment sollten neben einer Bestätigung des selbstwertschützenden Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) bei negativem Feedback auch einen selbstwert­ erhöhenden Mechanismus, d.h. eine Zunahme des Vorhersehbarkeitseindrucks bei positivem Feedback, nachweisen (das erste und zweite Experiment von Schwarz, 2002, wird auch bei Stahlberg & Schwarz, 1999, berichtet; das dritte Experiment von Schwarz, 2002, findet sich auch bei Schwarz & Stahlberg, 2002).

Die ersten drei Experimente von Schwarz (2002) nutzten simulierte Bewerbungsgespräche, an denen die Versuchsteilnehmer/innen als Interviewte (Bedingung hoher Selbstrelevanz) bzw. Beobachter[22] (Bedingung niedriger Selbstrelevanz) teilnahmen. Den Studien lag ein hypothetisches Design zugrunde. Die Vpn erhielten entweder ein (fingiertes) Feedback darüber, wie der Interviewer den Interviewten eingeschätzt hat (Experimentalgruppen) oder kein Feedback über die Einschätzung des Interviewten durch den Interviewer (Kontrollgruppen). Zur Erfassung der abhängigen Variable sollten die Vpn in den Kontrollgruppen angeben, wie ihrer Meinung nach der Interviewer die Fähigkeiten des Bewerbers eingeschätzt hat (bzw. in den Experimentalgruppen, was sie geantwortet hätten, wenn sie die Einschätzung des Interviewers nicht kennten). Die Negativität des Ausgangs wurde dadurch hergestellt, dass die (fingierte) Einschätzung des Bewerbers durch den Interviewer deutlich unterdurchschnittlich ausfiel. Diese Experimente von Schwarz (2002) schließen übrigens an die Arbeit von Stahlberg, Eller, Romahn und Frey (1993) an, in der den Vpn fiktive, z.T. recht niedrige Intelligenztestwerte rückgemeldet wurden.

Betrachten wir die Operationalisierung in diesen Studien etwas genauer: Schwarz (2002, Studien 1 bis 3) hat als abhängige Variable erhoben, wie der Bewerber bzw. der Beobachter einschätzen, dass der Interviewer den Bewerber beurteilt habe. Die Beurteilung bezog sich dabei auf bewerbungsrelevante Dimensionen (im ersten Experiment auf die soziale Kompetenz, im zweiten Experiment auf die Führungskompetenz und im dritten Experiment auf die Fähigkeit zum innovativen Denken). Diese bewerbungsrelevanten Dimensionen wurden mit mehreren Items auf Skalen von 0 bis 100 erfasst (z.B. Kommunikationsfähigkeit von gering ausgeprägt [0] bis hoch ausgeprägt [100]).

Die abhängige Variable ist somit ein numerisches Schätzurteil darüber, wie eine andere Person (der Interviewer) etwas eingeschätzt hat. Gemessen wurde bei Schwarz (2002, Studien 1 bis 3) die objektive Abweichung der Einschätzung der Vpn von der (fingierten) Einschätzung des Interviewers: Wenn die Gruppe mit Rückmeldung über das (fingierte) Interviewerurteil dichter an dieser Rückmeldung liegt als die Gruppe ohne Rückmeldung, zeigt sich ein Rückschaufehler. Im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes wäre es allerdings nicht gerechtfertigt, dieses Maß mit einem direkten, subjektiven Vorhersehbarkeitseindruck, wie er z.B. bei Mark und Mellor (1991) erfasst wurde, gleichzusetzen. Vielmehr lässt sich diese Operationalisierung keiner der drei Rückschaufehler-Kompo­nen­ten des Drei-Kom­po­nen­ten-Ansatzes zuordnen.

Schwarz (2002) meint, in seinen ersten drei Experimenten das Ergebnismuster von Mark und Mellor insgesamt zu bestätigen: (a) Bei selbstrelevanten, negativen Rückmeldungen wird der Rückschaufehler eliminiert (dies gilt für alle drei Experimente). (b) Bei weniger selbstrelevanten, negativen Ausgängen tritt ein normaler Rückschaufehler auf (dies gilt für Experiment 1 und 3; in Experiment 2 besteht lediglich ein nicht signifikanter Trend in die erwartete Richtung).

Betrachtet man die verschiedenen Operationalisierungen des Rückschaufehlers von Schwarz (2002) einerseits und von Mark und Mellor (1991) andererseits als äquivalent, wie es die Sichtweise des Rückschaufehlers als einheitliches Phänomen nahe legt, so ist dieser Schlussfolgerung von Schwarz zuzustimmen. Wird hingegen der Drei-Komponenten-Ansatz zugrunde gelegt, haben Mark und Mellor ihren Rückschaufehler eindeutig als Vorhersehbarkeitseindruck operationalisiert. Die Operationalisierung von Schwarz kann hingegen nicht als Maß des Vorhersehbarkeitseindrucks aufgefasst werden. Aus der Sichtweise des Drei-Komponenten-Ansatzes sollten die Befunde von Schwarz (2002) folglich nicht als Beleg für die Hypothese des selbstwertschützenden Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991)
herangezogen werden.

2.4.1.5 Bestätigung der Hypothese von Mark und Mellor: Orthogonale Manipulation der Valenz und Selbstrelevanz bei Mark et al. (2003)

Ein Problem der Feldstudie von Mark und Mellor (1991) ist, dass die Valenz mit der Selbstrelevanz des Ereignisausgangs konfundiert ist: Für die Entlassenen, für die der Ausgang stärker selbstrelevant ist als für die anderen Untersuchungsteilnehmer, ist der Ausgang offensichtlich auch negativer – schließlich wurden nur erstere entlassen. Dieses Problem könnte durch eine unabhängige Manipulation der Valenz und der Selbstrelevanz gelöst werden. Zwar führt Schwarz (2002, Studien 1 bis 3) eine orthogonale Manipulation der Selbstrelevanz (hoch vs. niedrig) und der Valenz (positiv vs. negativ) durch, allerdings erfassen seine Studien nicht den Vorhersehbarkeitseindruck (vgl. Abschn. 2.4.1.4).

Eine Variation beider Variablen, d.h. der Selbstrelevanz und der Valenz einer Rückmeldung, nehmen auch Mark, Boburka, Eyssell, Cohen und Mellor (2003) vor: Sie führen eine recht komplexe Börsensimulation in Gruppen von jeweils drei Vpn durch. Eine dieser Vpn fungiert dabei jeweils als Beobachter, die anderen beiden treten als Gegner („Spieler 1“ und „Spieler 2“) gegeneinander an. Die beiden Spieler müssen sich im Laufe der Simulation für bzw. gegen den Kauf bestimmter Aktien entscheiden. Als Ereignisausgang wird jeweils einem der Spieler eine sehr positive oder sehr negative Entwicklung seiner Aktien mitgeteilt, während die Kurse der Aktien des anderen Spielers neutral verlaufen. Eine Gruppe ohne Wissen um den Ereignisausgang, also eine Kontrollgruppe, wie sie zum Nachweis eines Rückschau fehlers benötig wird, gibt es (wie auch bei Mark & Mellor, 1991) nicht. Daher sind nur Aussagen über den Vorhersehbarkeitseindruck in Abhängigkeit von der Selbstrelevanz und der Valenz eines Ereignisausgangs möglich.

Für den jeweiligen Spieler, der den Gewinn bzw. Verlust erfährt, wird plausiblerweise die höchste Selbstrelevanz des Ereignisausgangs angenommen. Für den Gegner sollte dieser Ereignisausgang eine geringere Selbstrelevanz (bei umgekehrter Valenz) und für den Beobachter keine Selbstrelevanz besitzen. Der Vorhersehbarkeitseindruck wurde von den Autor/innen mit einer aus drei Items bestehenden Vorhersehbarkeitseindrucks-Skala erfasst (vgl. Mark et al., 2003, S.448).

Die für uns wesentlichen Ergebnisse der Studie sind: (a) Wird den Personen ein negativer Ereignisausgang mitgeteilt, verringern diejenigen Personen, für die der Ereignisausgang selbstrelevant (d.h. selbstwertbedrohlich) ist, ihren Vorhersehbarkeitseindruck signifikant stärker als die Personen, die keine Selbstrelevanz erleben (letztere sind hier die Beobachter). (b) Bei den Personen, die einen positiven Ereignisausgang erfahren, unterscheiden sich die Vorhersehbarkeitseindrücke der Betroffenen und der Beobachter nicht signifikant.

Das heißt, selbstrelevante, negative Ereignisausgänge führen, in Übereinstimmung mit dem selbstwertschützenden Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991), zu einer (stärkeren) Verringerung des Vorhersehbarkeitseindrucks als nicht selbstrelevante, negative Ereignisausgänge. Hingegen führen selbstrelevante, positive Ereignisausgänge nicht zu einer (stärkeren) Erhöhung des Vorhersehbarkeitseindrucks als nicht selbstrelevante, positive Ereignisausgänge. Die Asymmetrie der Effekte selbstwertbedrohlicher vs. selbstwertdienlicher Rückmeldungen erklären Mark et al. (2003) mit dem von Baumeister et al. (2001) berichteten allgemeinen Befund, dass negative Informationen generell eine größere Wirkung entfalten als positive.

Die Ergebnisse von Louie (1999) sind zwar nicht direkt mit den Befunden von Mark et al. (2003) vergleichbar, da es bei Louie (1999) nicht um den Vergleich mit Beobachtern geht, für die der Ereignisausgang weniger Selbstrelevanz besitzt, sondern um einen klassischen Rückschaufehler-Vergleich mit einer Gruppe ohne Ausgangsinformation. Zumindest sind die Resultate von Louie (1999) aber nicht inkonsistent zu denen von Mark et al. (2003).[23]

Bei der Bewertung der Studie von Mark et al. (2003) ist zu beachten, dass die Vpn in der selbstrelevanten Bedingung, wie übrigens auch bei Louie (1999), ein gewisses Ausmaß an (vermeintlicher) Kontrolle über den Ereignisausgang hatten, da sie sich selbst für bzw. gegen den Kauf bestimmter Aktien entschieden. Die Beobachter hingegen besaßen keinerlei Kontrollgefühl über den Ausgang. Der Unterschied zwischen der Gruppe der Akteure (der Spieler) und der Gruppe der Beobachter besteht also nicht nur in der Selbstrelevanz des Ereignisausgangs, sondern auch in der (vermeintlichen) Kontrolle über diesen. Aufgrund dieser Konfundierung der Selbstrelevanz mit dem Gefühl der Kontrolle bleibt bei der Interpretation der Ergebnisse von Mark et al. (2003) unklar, ob ein Gefühl der Kontrolle über den Ereignisausgang notwendig ist, um den Vorhersehbarkeitseindruck zu verringern.

Es existiert eine Studie von Pezzo (2003), die unter anderem den Einfluss der Kontrollierbarkeit auf den Vorhersehbarkeitseindruck untersuchen wollte. Da diese Arbeit jedoch statt des Vorhersehbarkeits- den Zwangsläufigkeitseindruck erhoben hat, wird sie an späterer Stelle (Abschn. 2.4.3.2) dargestellt.

2.4.1.6 Zusammenfassung und Diskussion

Der von Mark und Mellor (1991) gefundene Effekt der Vorhersehbarkeitseindrucks-Ver­rin­ge­rung bei Selbstwertbedrohung wird in der Literatur oft als inzwischen gut bestätigt angesehen. Fasst man den Rückschaufehler als einheitliches Phänomen auf, ist dieser Ansicht zuzustimmen. Eine hier vorgenommene, genauere Betrachtung der üblicherweise zum Beleg herangezogenen Studien offenbarte jedoch, dass viele dieser Arbeiten – im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes – nicht als Stützung der Hypothese von Mark und Mellor (1991) angesehen werden sollten.

Der Grund dafür ist, dass in der Regel nicht zwischen Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck unterschieden wird. Bei einer sorgfältigeren Trennung zwischen Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck bleiben nur die Feldstudie von Mark und Mellor (1991) und die Arbeit von Mark et al. (2003) als (im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes) eindeutig stützende Befunde übrig. Je nachdem, ob man Sicherheitsurteile bezüglich der Vorhersehbarkeit als Vorhersehbarkeitseindrucks-Urteile auffasst oder nicht, gibt es im ersteren Fall einen Gegenbefund von Walster (1967). Die experimentelle Befundlage ist insgesamt also weniger umfangreich, als gemeinhin angenommen wird, und Befunde für die These von Mark und Mellor (1991) finden sich vor allem in den beiden Arbeiten der Gruppe um Melvin M. Mark.

2.4.2 Retroaktiver Pessimismus: Enttäuschungslinderung durch Erhöhung des Zwangsläufigkeitseindrucks

In diesem Abschnitt werden Studien behandelt, welche die Zwangsläufigkeitseindrucks-Komponente (operationalisiert i.d.R. als Wahrscheinlichkeitsurteil) bei negativen, selbstrelevanten Ereignisausgängen erfasst haben. Zunächst erfolgt eine Darstellung der Arbeiten zum retroaktiven Pessimismus, die in der Gruppe um Tykocinski, von welcher der Begriff retroaktiver Pessimismus stammt, entstanden sind (Abschn. 2.4.2.1). Es schließen sich Studien an, die selbstrelevante, negative Ausgänge im Rahmen von Vergewaltigungs-Szenarien herbeigeführt haben (Abschn. 2.4.2.2). Letztere Studien liefern teils stützende, teils widersprüchliche Befunde zu dem retroaktiven Pessimismus sensu Tykocinski. Abschließend werden die Ergebnisse des vorliegenden Abschnittes zusammenfassend diskutiert (Abschn. 2.4.2.3).

2.4.2.1 Hypothese und Befunde von Tykocinski und Mitarbeiter/innen

Die wesentlichen Arbeiten der Gruppe um Tykocinski werden hier vorgestellt. Dabei wird zunächst dargestellt, was Tykocinski unter dem retroaktiven Pessimismus versteht. Es folgen empirische Befunde zu dem Phänomen. Besondere Beachtung wird dabei dem Kontroll­bedürfnis als Moderator geschenkt.

Erste Arbeit zum retroaktiven Pessimismus: Tykocinski (2001)

Tykocinski (2001) hat den Begriff retroaktiver Pessimismus (retroactive pessimism) in die Rückschaufehlerforschung eingeführt und beschreibt den Effekt wie folgt:

… to render a disappointing reality more palatable, people sometimes change the perceived probabilities of relevant events post facto so that the disappointing reality appears almost inevitable and the more positive alternatives now seem highly unlikely. (S.376).

Laut Tykocinski finden Menschen, nachdem sie einen negativen, selbstrelevanten Ereignisausgang erlebt haben, Trost und Erleichterung, wenn sie im Nachhinein die Wahrscheinlichkeiten für einen negativen Ausgang erhöhen (bzw. für einen positiven Ausgang verringern) und ihn somit zwangsläufiger erscheinen lassen (z.B. Tykocinski, 2001). Retroaktiver Pessimismus, d.h. die A-posteriori-Erhöhung der Zwangläufigkeit, mit der ein negativer Ereignisausgang eintreten musste, ist somit eine Coping-Strategie, um Enttäuschung zu lindern.[24] Diese Interpretation der Zunahme der wahrgenommenen Zwangsläufigkeit nach negativen, selbstrelevanten Ereignissen stützt Tykocinski (2001), indem sie sich auf die Forschung zum kontrafaktischen Denken bezieht (z.B. Gleicher et al., 1990; Johnson, 1986; Kahneman & Miller, 1986; Kahneman & Tversky, 1982; Landman, 1987, 1995; Medvec, Madey & Gilovich, 1995; Miller, Turnbull & McFarland, 1990; Roese, 1997). Diese Literatur zeige, dass es Personen emotional stärker belaste, wenn ein günstigerer Ereignisausgang nur knapp verpasst wurde, als wenn dieser von Anfang an geradezu unerreichbar schien bzw. das Ziel weit verfehlt wurde. Auch sei in Alltagssituationen zu beobachten, dass es eine gebräuchliche Coping-Strategie ist, sich klar zu machen, wie gering die eigenen Chancen für den gewünschten Ausgang von Anfang an standen:

… a student who failed to be accepted into a prestigious graduate program could remind himself or herself that the program only takes 2 students each year out of 400 applicants. Similarly, reminding yourself of a journal’s rejection statistics may come in particularly handy when that journal’s editor had just failed to recognize the merits of your work. (Tykocinski, 2001, S.376f.)[25]

In der Einleitung wurde bereits das zweite Experiment des Artikels von Tykocinski (2001) berichtet: Bei der Knesset-Wahl im Jahre 1999 zeigten die Anhänger des Wahlverlierers eine stärkere Zunahme in ihrer A-posteriori-Wahrscheinlichkeitseinschätzung dafür, dass der Wahlsieger die Wahl gewinnen werde, als dies die Anhänger des Wahlgewinners
taten. Das Ergebnis dieser Feldstudie geht also konform mit der Annahme, dass nur die enttäuschten Vpn (d.h. die Anhänger des Wahlverlierers) mit dem enttäuschungslindernden Mechanismus des retroaktiven Pessimismus reagieren und daher die wahrgenommene Zwangsläufigkeit eines Wahlgewinns des Gegners retrospektiv erhöhen.[26]

In dem ersten Experiment ihres Artikels von 2001 lässt Tykocinski ihre Vpn ein Szenario lesen. In dieser Geschichte, in welche die Vp sich in die handelnde Person hineinversetzen soll (Akteur-Perspektive), erfährt der Akteur[27], dass ein Geschäft in einer nahe gelegenen Stadt das spezielle Modell einer Swatchuhr, das sich die Person schon lange wünsche, aber das nur schwer aufzutreiben sei, zu einem reduzierten Preis (je nach Versuchsbedingung eine kleine bzw. eine große Preisreduktion) anbiete. Das Sonderangebot ende aber am heutigen Tage. Der Akteur macht sich also auf, um noch rechtzeitig vor Ladenschluss das Geschäft zu erreichen. Die Vp bekommt je nach der ihr zugewiesenen Bedingung mitgeteilt, dass (a) der Akteur das Geschäft noch rechtzeitig erreicht und die Uhr erstehen kann (Erfolgsbedingung), (b) das Geschäft schon geschlossen hat (Misserfolgsbedingung) bzw.
(c) die Vp bekommt keinen Ereignisausgang mitgeteilt (Kontrollgruppe ohne Ausgangs­information).

In diesem Experiment zeigte sich, dass die enttäuschten Vpn (d.h. die Personen in der Misserfolgsbedingung) in der Rückschau ihre Chance, den Laden rechtzeitig zu erreichen, geringer einschätzten als die Kontrollgruppe ohne Ereignisausgang, also einen erhöhten Zwangsläufigkeitseindruck für den Misserfolg zeigten. Dieser Zwangsläufigkeitseindruck war in der Bedingung (Misserfolg, große Preisreduktion) am ausgeprägtesten, in der die Enttäuschung aufgrund der großen Preisreduktion, die einem entgangen ist, am stärksten sein sollte. Die Vpn in der Erfolgsbedingung zeigten hingegen gegenüber der Kontrollgruppe ohne Wissen um den Ereignisausgang keine signifikante Veränderung in ihrer Wahrscheinlichkeitseinschätzung, also auch keinen klassischen Rückschaufehler. Dies kann als Bestätigung der Hypothese von Tykocinski (2001) zur Enttäuschungslinderung gewertet werden.

Retroaktiver Pessimismus und Kontrollbedürfnis

Ferner erhob Tykocinski (2001, Studie 1) in dem eben beschriebenen Experiment das Kontrollbedürfnis (mittels der „Desire for Control-Scale“ von Burger & Cooper, 1979) und untersuchte, ob sich bei den Wahrscheinlichkeitseinschätzungen differentielle Effekte zwischen Personen mit hohem und niedrigem Kontrollbedürfnis ergeben. Dabei stellte Tykocinski (2001, S.377) folgende These auf: „… if people indeed shift their likelihood estimates in an attempt to control and regulate their mood, persons high in the desire for control may be more likely to show this effect.“

Gegen diese These kann eingewandt werden, dass der Wunsch nach Kontrolle sich auf zwei Weisen ausdrücken kann: (a) Zum einen können die Menschen (wie Tykocinski, 2001, S.377, es annimmt) ein Kontrollbedürfnis über ihren Stimmungszustand besitzen und daher versuchen, durch retroaktiven Pessimismus ihre Stimmung aufzuhellen, indem sie die Zwangsläufigkeitswahrnehmung für den negativen Ausgang erhöhen und somit ihre Enttäuschung lindern. (b) Zum anderen kann das Kontrollbedürfnis aber auch bewirken – und dieser Aspekt scheint von der „Desire for Control-Scale“ von Burger und Cooper (1979) eher erfasst zu werden –, dass Personen das Gefühl der Kontrolle über ihre Umwelt und über das Eintreten von persönlich relevanten Ereignissen besitzen wollen. Dann wäre es jedoch
kontraproduktiv, anzunehmen, dass Ereignisse unausweichlich oder zwangsläufig sind. Vielmehr sollten in diesem Falle Personen mit höherem Kontrollbedürfnis geringere Zwangsläufigkeitseindrücke zeigen.

Es stellte sich, konform zu den Annahmen von Tykocinski (2001), heraus, dass Personen mit hohem Kontrollbedürfnis im Falle großer Enttäuschung (bzw. bei einem positiven Ereignisausgang auch im Falle großer Freude) ihre A-posteriori-Wahrscheinlichkeits­ein­schät­zun­gen stärker an den Ereignisausgang anpassen, d.h. in der Misserfolgsbedingung eine wesentlich höhere Zwangsläufigkeitseinschätzung für den negativen Ausgang angeben. Im Erfolgsfall erhöhen Personen mit hohem Kontrollbedürfnis auch stärker ihre Wahrscheinlichkeitseinschätzung für den positiven Ereignisausgang.[28] Bei geringer Enttäuschung bzw. geringer Freude (kleine Preisreduktion) unterschieden sich die Personen mit hohem Kontrollbedürfnis nicht signifikant von der Gruppe ohne Wissen um den Ereignisausgang. Tykocinski (2001) schließt daraus: „Individuals with high desire for control could be thought of as people who take more liberties in manipulating perceived events in a way that is con­ducive to a positive sense of self.“ (S.379).

Weitere stützende Befunde zum retroaktiven Pessimismus: Tykocinski et al. (2002)

Tykocinski et al. (2002, Studie 1) zeigten mit einem Before-after-Design in einer Feldstudie, dass nach einem Fußballspiel die enttäuschten Fans der Verlierermannschaft im Nachhinein ihre Wahrscheinlichkeitsurteile für den Spielausgang stärker dem aktuellen Ausgang anpassten als die, natürlich nicht enttäuschten, Anhänger der Siegermannschaft. Obwohl es auch Alternativerklärungen für diesen Befund gibt (z.B. Deckeneffekte, ursprünglich unrealistischere Präurteile der Fans des Verliererteams oder eine generelle Asymmetrie bzgl. negativer und positiver Ereignisse), deuten Tykocinski et al. (2002) ihn doch als Bestätigung des retroaktiven Pessimismus. Dies wird dadurch unterstützt, dass innerhalb der Gruppe der Verlierer-Fans eine signifikante Korrelation (r =.37) zwischen der erlebten Enttäuschung und der Veränderung der Wahrscheinlichkeitsurteile vom Prä- zum Post-Mess­zeit­punkt bestand, in dem Sinne, dass stärker enttäuschte Fans dazu neigten, nach dem Spiel den negativen Ausgang als zwangsläufiger anzusehen.

In dem zweiten Experiment dieses Artikels zeigten die Autorinnen (Tykocinski et al., 2002) an einem sehr ähnlichen Szenario wie bei Tykocinski (2001, Studie 1), auch wenn es diesmal darum ging, dass ein Student bzw. eine Studentin versucht, noch rechtzeitig einen Stipendienantrag einzureichen, dass eine größere Enttäuschung (hoher Geldwert des Stipendiums) dazu führt, dass die Vpn einen negativen Ereignisausgang als zwangsläufiger wahrnehmen als bei geringerer Enttäuschung (geringer Geldwert des Stipendiums). Dabei gab es in diesem Experiment neben einer Kontrollgruppe ohne Ereignisausgang auch eine Kontrollgruppe, die das Ereignis aus der Beobachter-Perspektive beurteilen sollte. In der Beobachter-Perspektive sollte die Vp sich vorstellen, dass ein Freund, der diese Ereignisse erlebt habe, ihr davon berichte. Tykocinski et al. (2002, S.581) formulieren die Bedingungen der
Akteur- und der Beobachter-Perspektive wie folgt: „The scenario was presented as either happening to the self (the participants were asked to imagine themselves in this situation) or happening to a close other (these events had happened to a friend).“ Für diese Beobachtergruppe wäre, laut Tykocinski et al. (2002), zu erwarten gewesen, dass für sie – anders als für die Experimentalgruppe (Akteur-Perspektive) – keine Selbstrelevanz des Ereignisausgangs besteht.[29] Wenn der retroaktive Pessimismus ein motivationaler Mechanismus zur persön­lichen Enttäuschungslinderung ist, sollte die Manipulation der Negativität (großes vs. kleines Stipendium, das jemandem entgeht) in der Beobachter-Perspektive keinen Effekt aufweisen, da in der Beobachter-Perspektive keine Selbstrelevanz bestehen sollte. Ferner wäre zu erwarten gewesen, dass die Vpn in der Beobachter-Perspektive eine insgesamt geringer ausgeprägte Zwangsläufigkeitseinschätzung für den negativen Ereignisausgang vornehmen als die Vpn der Akteur-Gruppe, bei welcher der Effekt des retroaktiven Pessimismus den „normalen“ Rückschaufehler in Richtung auf den Ereignisausgang noch verstärken sollte.

Die zu erwartende Relation „Zwangsläufigkeitseindruck in der Akteur-Perspektive > Zwangsläufigkeitseindruck in der Beobachter-Perspektive > Zwangsläufigkeitseindruck in der Kon­troll­gruppe“ konnte vom Trend her (d.h. ohne signifikant zu werden) allerdings nur für die Vpn in der Bedingung, in der es um ein großes Stipendium ging, gefunden werden. In der Bedingung des kleinen Stipendiums war der Trend zwischen der Akteur- und der Beobachter-Perspektive sogar umgekehrt (wie auch bei Tykocinski et al., 2002, Studie 3), auch wenn der Unterschied zwischen der Akteur- und der Beobachter-Perspektive in beiden Stipendien-Bedingungen nicht signifikant wurde.[30] Für Tykocinski et al. (2002) ist der Befund, dass es in der Akteur-Perspektive einen moderierenden Einfluss der Größe des Verlustes (und damit der Größe der Enttäuschung, wie die Autorinnen folgern; vgl. auch Bell, 1985) auf die Wahrscheinlichkeitseinschätzung gab, in der Beobachter-Perspektive jedoch nicht, Anlass genug, anzunehmen, dass ein emotionaler Coping-Mechanismus bestehe, der bei selbstrelevanten, stark negativen bzw. enttäuschenden Ereignissen dazu führe, dass der Ereignisausgang als relativ zwangsläufig wahrgenommen werde. Bei geringer Enttäuschung aber wirke dieser Mechanismus noch nicht.[31]

Tykocinski et al. (2002) stützen in ihrem dritten Experiment, das ebenfalls die Stipendien-Geschichte aus dem zweiten Experiment nutzt, die These der motivationalen Beteiligung, indem sie die Enttäuschung bei einem Teil der Vpn dadurch lindern, dass diese – nachdem sie denken, dass das Stipendium schon verloren sei – erfahren, dass sie ihren Antrag doch noch am nächsten Tag einreichen könnten, das Stipendium also noch nicht verloren ist. Hier zeigt sich nur in der Gruppe, in der die Enttäuschung nicht gelindert wird, ein Effekt des Stipendienwertes auf die Zwangsläufigkeitseinschätzung. Tykocinski et al. (2002) sehen darin die motivationale Funktion des retroaktiven Pessimismus bestätigt: Wenn die Enttäuschung ohnehin schon gelindert wurde, braucht kein weiterer enttäuschungslindernder Mechanismus in Kraft zu treten. Nur wenn noch hohe Enttäuschung bestehe, versuchten Menschen, diese abzuschwächen – und zwar unter anderem mittels des retroaktiven Pessimismus.

2.4.2.2 Weitere Befunde und Gegenbefunde zum retroaktiven Pessimismus: Vergewaltigungs-Szenarien

Schwarz (2002, Studie 4) wollte eigentlich die Hypothese von Mark und Mellor (1991) be­stä­ti­gen. Er hat jedoch nicht den Vorhersehbarkeitseindruck, sondern (anders als Mark & Mellor, 1991) die Wahrscheinlichkeit für einen Ausgang erfasst. Somit ist seine abhängige Variable im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes als Operationalisierung des Zwangsläufigkeitseindrucks aufzufassen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, können seine Ergebnisse, sowie die Resultate einer sehr ähnlich angelegten Studie von Stahlberg, Sczesny und Schwarz (1999), als Widerspruch zum retroaktiven Pessimismus sensu Tykocinski betrachtet werden.

Andererseits liefern drei Arbeiten von Janoff-Bulman, Timko und Carli (1985), Carli und Leonard (1989) und Carli (1999), die ebenfalls sehr ähnlich angelegt waren wie die Studien von Schwarz (2002, Studie 4) und Stahlberg et al. (1999), Ergebnisse, welche die Hypothese von Tykocinski bestätigen. Da diese fünf Arbeiten, die alle mit Vergewaltigungs-Szenarien als Untersuchungsmaterial arbeiten, im Aufbau sehr ähnlich sind, werden sie im Folgenden gemeinsam vorgestellt.

Wie oben erwähnt, versuchte Stefan Schwarz (2002) die Hypothese des selbstwertschützenden Mechanismus von Mark und Mellor (1991) zu bestätigen. Dazu wollte er in seinem vierten Experiment zeigen, dass bei sehr hoher Selbstwertbedrohung sogar ein umgekehrter Rückschaufehler, bei mittlerer Selbstwertbedrohung kein Rückschaufehler und bei geringer Selbstwertbedrohung ein normaler Rückschaufehler auftritt. Mit diesem vierten Experiment bezieht sich Schwarz (2002) auf die Tradition der Arbeiten von Janoff-Bulman et al. (1985), Carli und Leonard (1989) und Carli (1999), sowie in deren Folge Stahlberg et al. (1999). In all diesen Studien werden Vpn mit Vergewaltigungs-Szenarien konfrontiert und nach Wahrscheinlichkeitsurteilen über den Ausgang bzw. nach ihrer Erinnerung an ihre zuvor abgegebenen Wahrscheinlichkeitsurteile (letzteres war bei Carli, 1999, der Fall) gefragt. Diese Studien erfassen folglich zwei Komponenten (Zwangs­läufig­keits­ein­druck und Erinnerungsverzerrung), die keineswegs mit dem bei Mark und Mellor (1991) oder Mark et al. (2003) erfassten Vorhersehbarkeitseindruck gleichzusetzen sind.

Auch wurde in den Studien, die sich an Janoff-Bulman et al. (1985) orientieren, die Selbstrelevanz auf eine spezielle Weise induziert: Bei Janoff-Bulman et al. (1985), Carli und Leonoard (1989), Carli (1999), sowie Stahlberg et al. (1999) wird davon ausgegangen, dass die Bedeutsamkeit eines Vergewaltigungs-Szenarios auch in der „Beobachter-Perspektive“ ausreicht, um Selbstrelevanz zu erzeugen. Die – gegenüber Männern – noch stärkere retrospektive Wahrscheinlichkeitserhöhung für den Vergewaltigungsausgang bei weiblichen Vpn im ersten Experiment von Carli (1999) deutet diese als Hinweis für den Erfolg der Selbst­relevanzinduktion.[32]

Zum Vergleich sei hier die Art der Selbstrelevanzinduktion der anderen in Abschnitt 2.4 vorgestellten Arbeiten aufgezählt: Bei Mark und Mellor (1991) bestehen reale Auswirkungen für die Entlassenen. Bei Louie (1999; Louie et al., 2000) bzw. Mark et al. (2003) sollen die Ausgänge der Börsensimulation für das eigene Selbstkonzept relevant sein. Bei Tykocinski und Mitarbeiter/innen (Tykocinski, 2001; Tykocinski et al., 2002; Tykocinski & Steinberg, 2005) wird die Selbstrelevanz entweder durch die Ausgänge von für die Vpn relevanten Sportwettkämpfen (auch Pezzo, 2003, Studie 1) oder von politischen Wahlen ausgelöst, oder durch das Hineinversetzen (Akteur-Perspektive) in Szenarien erzeugt. Im letzteren Fall dienen dann die Vpn in der Beobachter-Perspektive als Kontrollgruppe ohne[33] Selbst­relevanz des Ausgangs. – Hier wird der Gegensatz zu den Arbeiten, die Vergewaltigungs-Szenarien nutzen, deutlich: Einmal steht die Beobachter-Perspektive für eine Bedingung mit geringer Selbstrelevanz (in den Arbeiten von Tykocinski), das andere Mal für die Bedingung mit hoher Selbstrelevanz (in den Studien mit Vergewaltigungs-Szenarien).

Beachtenswert und nicht hinreichend erklärt ist (vgl. für Erklärungsversuche aber Schwarz, 2002, S.39 und Stahlberg et al., 1999, S.27), dass Janoff-Bulman et al. (1985), Carli und Leonard (1989) und Carli (1999) bei hoher Selbstwertbedrohung einen normalen Rückschaufehler finden, hingegen Stahlberg et al. (1999) sowie Schwarz (2002, Studie 4) einen umgekehrten Rückschaufehler.[34] Ferner ist erwähnenswert, dass bei Stahlberg et al. (1999) der Vergewaltigungsausgang in der Kontrollgruppe ohne Ausgangsinformation mit einer Wahrscheinlichkeit von 34% (Stahlberg et al., 1999, S.14) als recht wahrscheinlich eingeschätzt wurde. Somit greift die übliche Erklärung für einen umgekehrten Rückschaufehler, wie Ofir und Mazursky (1997; Mazursky & Ofir, 1990) sie für sehr überraschende, d.h. in der Vorschau als unwahrscheinlich eingeschätzte Ausgänge formuliert haben, hier nicht.

Schwarz (2002, Studie 4) gelang es, verschiedene Stufen der Selbstwertbedrohlichkeit des Vergewaltigungs-Szenarios herzustellen, indem er die Ähnlichkeit mit dem Opfer experimentell variierte und, als Organismusvariable, die Vergewaltigungsmythen-Akzeptanz erhob. Entsprechend seiner daraus resultierenden Einteilung in Versuchsteilnehmerinnen mit hoher, mittlerer und geringer Selbstwertbedrohung durch das Vergewaltigungs-Szenario, fand er hypothesenkonform, dass (a) bei hoher Selbstwertbedrohung ein umgekehrter Rückschaufehler auftrat, (b) bei mittlerer Selbstwertbedrohung der Rückschaufehler eliminiert wurde und es (c) bei geringer Selbstwertbedrohung einen normalen Rückschaufehler gab.

Schwarz (2002, S.38) deutet die Ergebnisse von Stahlberg et al. (1999) und Schwarz (2002, Studie 4) als in Einklang mit Mark und Mellor (1991), Louie (1999) und Louie et al. (2000) stehend, hingegen Janoff-Bulman et al. (1985) und Carli und Leonard (1989) als im Widerspruch dazu stehend. Beachtenswert ist aber, dass Mark und Mellor (1991) – und mit Einschränkung auch Louie (1999) – den Vorhersehbarkeitseindruck erfasst haben, Janoff-Bulman et al. (1985), Carli und Leonard (1989), Carli (1999), Stahlberg et al. (1999) und Schwarz (2002, Studie 4) hingegen den Zwangsläufigkeitseindruck. Insofern ist es, aus der Perspektive des Drei-Komponenten-Ansatzes heraus, nicht möglich, Stahlberg et al. (1999) oder Schwarz (2002) als stützende Befunde für Mark und Mellor (1991) zu werten. Vielmehr könnten diese beiden Studien (Stahlberg et al., 1999; Schwarz, 2002 Studie 4), da sie den Zwangsläufigkeitseindruck erhoben haben und die Vpn keine Kontrolle über den Ausgang hatten (schließlich befanden sie sich in einer Beobachter-Perspektive), als widersprüchliche Befunde zu Tykocinski gewertet werden.

Nach Tykocinski (2001; Tykocinski et al., 2002; Tykocinski & Steinberg, 2005) sollte der Zwangsläufigkeitseindruck (als Wahrscheinlichkeitsurteil erhoben) bei selbstrelevanten, negativen Ausgängen, über welche die Vp keine oder nur eine geringe Kontrolle hat, nämlich erhöht – und nicht wie bei Stahlberg et al. (1999) oder Schwarz (2002) verringert bzw. umgekehrt – werden. Hingegen befinden sich die Ergebnisse von Janoff-Bulman et al. (1985), Carli und Leonard (1989) und Carli (1999), die bei negativen, selbstrelevanten, unkontrollierbaren Ereignissen eine Zunahme der Wahrscheinlichkeitseinschätzung für den eingetretenen Ausgang beobachtet haben, im Einklang mit dem retroaktiven Pessimismus sensu Tykocinski.

2.4.2.3 Zusammenfassung und Diskussion

Das grundlegende Rational von Tykocinski und Mitarbeiter/innen ist, dass eine rein kognitive Betrachtung des Rückschaufehlers nicht erklären kann, warum die Wahrscheinlichkeitseinschätzung eines negativen, selbstrelevanten Ereignisausgangs (unter sonst gleichen Bedingungen) von dem Ausmaß der Enttäuschung der Person abhängt. Sie folgern daher, dass noch ein motivationaler Faktor wirken müsse. Diesen motivationalen Faktor meinen Tykocinski und Mitarbeiter/innen im retroaktiven Pessimismus, einem Mechanismus zur Enttäuschungslinderung, gefunden zu haben. Sowohl das Rational als auch die Schlussfolgerung sind plausibel und scheinen sich empirisch zu bestätigen (vgl. die Arbeiten von Musch, 2005[35] ; Pezzo, 2003; Tykocinski, 2001; Tykocinski et al., 2002; Tykocinski & Steinberg, 2005). Gleichwohl gibt es auch Gegenbefunde (Stahlberg et al., 1999; Schwarz, 2002; vgl. Abschn. 2.4.2.2).

Die Zwangsläufigkeitserhöhung für das eingetretene, negative Ereignis sei dazu da, die eigene Enttäuschung zu lindern. Dass dieser Mechanismus von Personen, die, laut Tykocinski (2001), ein besonderes Bedürfnis haben, Kontrolle über ihren Stimmungszustand zu besitzen, nämlich von Personen mit hohem Kontrollbedürfnis, besonders ausgeprägt eingesetzt werde, sei ein weiterer Beleg für seine motivationale Verankerung im Emotions-Coping (Tykocinski, 2001).

Obwohl die Erhöhung des Zwangsläufigkeitseindrucks (operationalisiert als Wahrschein­lichkeitsurteil) in der erwarteten Richtung eines „klassischen“ Rückschaufehlers liegt, sei der Effekt nicht durch einen bloßen – damit ist gemeint: kognitiven – Rückschaufehler zu erklären. Vielmehr wirke eine darüber hinausgehende, motivational bedingte Zwangsläufigkeitseindrucks-Erhöhung: „One characteristic of the disappointment driven probability shifts that sets them apart from mere hindsight is the fact that their magnitude reflects the magnitude of the disappointment that triggered them.“ (Tykocinski & Steinberg, 2005, Ms. S.3). Da der retroaktive Pessimismus ein selbstdienlicher Mechanismus ist, um den eigenen Stimmungszustand zu verbessern, wirke er auch nur in selbstrelevanten Situationen: „Evidence for retroactive pessimism was found in situations involving the self, but not when the unfortunate outcomes befall a friend.“ (ebd., Ms. S.4).

Ferner deute das völlige Fehlen des Effektes bei Personen mit hohem Kontrollbedürfnis, wenn der Verlust nur gering ausfällt, darauf hin, dass eine bestimmte Schwelle der Enttäuschung überschritten werden muss, damit der Coping-Mechanismus des retroaktiven Pessimismus ausgelöst wird. Erst oberhalb dieser Schwelle gelte, dass stärkere Enttäuschung auch zu einem stärkeren Zwangsläufigkeitseindruck führe. Dies wird auch durch eine spätere Studie von Tykocinski und Steinberg (2005, Studie 1) bestätigt (vgl. Abschn. 2.4.3.3). Die Autor/innen schlussfolgern: „As long as the disappointment was not overwhelming, participants’ judgments of their chances reflected the objective distance from the goal.“ (Ms. S.10).

Zu den Studien von Tykocinski und Mitarbeiter/innen ist noch anzumerken, dass Tykocinski die Vpn (ähnlich wie bei Blank & Nestler, in Druck) nicht, wie in der Rückschaufehlerforschung üblich (vgl. Abschn. 2.1), instruiert, ihre Rückschauurteile so abzugeben, als kennten sie den Ereignisausgang noch nicht. Vielmehr bittet sie ihre Vpn, Rückschauurteile im Lichte des tatsächlichen Ausgangs darüber abzugeben, wie die Chancen für einen bestimmten Ereignisausgang standen. Zum Beispiel beschreibt Tykocinski im zweiten Experiment ihres Artikels von 2001, also in der Studie zur Knesset-Wahl von 1999, die Versuchs­personeninstruktion wie folgt: „Finally, participants were asked to reassess retroactively, and in view of the actual election results, what the chances of winning the election were for each of the three original candidates.“ (S.380). Diese vom üblichen Vorgehen abweichende Operationalisierung könnte dazu führen, dass die Befunde von Tykocinski anders ausfallen als die Ergebnisse anderer Autor/innen, welche die in der Rückschaufehlerforschung gebräuchliche Instruktion verwenden.

2.4.3 Die Mediatorfunktion der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit

In den beiden vorhergehenden Abschnitten wurde, dem Drei-Komponenten-Ansatz gemäß, zwischen dem Vorhersehbarkeitseindruck (z.B. bei Mark & Mellor, 1991; Mark et al., 2003) und dem Zwangsläufigkeitseindruck (z.B. bei Tykocinski, 2001; Tykocinski et al., 2002) getrennt. Eine solche Unterscheidung hat sich in der Literatur allerdings noch keineswegsetabliert. Erfolgt diese Unterscheidung nicht, so ergeben sich evidente Widersprüche zwischen den Studien von Mark und Mitarbeiter/innen einerseits und denen von Tykocinski und Mitarbeiter/innen andererseits: Bei den ersteren führen dann negative, selbstrelevante Ereignisausgänge zu einer Verringerung, bei den letzteren zu einer Erhöhung des Rückschaufehlers.[36]

Mark et al. (2003) haben auf diesen Widerspruch zwischen den Arbeiten beider Gruppen hingewiesen und versuchen, ihn durch eine Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus aufzulösen: Der selbstwertschützende Mechanismus würde nur bei Ereignisausgängen auftreten, für welche die Vp Verantwortlichkeit oder Schuldgefühle – vermittelt über die wahrgenommene Kontrolle über den Ausgang – empfinde. Bei den Experimenten von Tykocinski (2001) hätten, so Mark et al. (2003), die Vpn jedoch keine Kontrolle über den Ausgang besessen. Mark et al. (2003) setzen dabei die Operationalisierungen des Rückschaufehlers bei Tykocinski (2001) und bei Mark et al. (2003) gleich und betrachten beide als Messung des Vorhersehbarkeitseindrucks. Diese Sichtweise, welche die Ergebnisse von Tykocinski als Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus auf kontrollierbare Ausgänge erscheinen lässt, wird zunächst referiert (Abschn. 2.4.3.1).

Auch Pezzo (2003) hat die Frage gestellt, ob Schuldgefühle (bzw. Gefühle der Verantwortlichkeit – diese Begriffe scheinen mehr oder weniger synonym verwendet zu werden) eine notwendige Voraussetzung sind, damit der selbstwertschützende Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) ausgelöst werde. Pezzo (2003, Studie 1) führte dazu eine empirische Untersuchung durch (Abschn. 2.4.3.2). Allerdings unterscheidet auch Pezzo (2003) nicht zwischen dem Vorhersehbarkeitseindruck bei Mark und Mellor (1991), auf den er sich in seinen theoretischen Abhandlungen bezieht, und seiner Operationalisierung des Rückschaufehlers mittels Wahrscheinlichkeitsurteilen (=Zwangsläufigkeitseindrucks-Kompo­nen­te), die der Operationalisierung bei Tykocinski (2001) entspricht.

Erst kürzlich führten Tykocinski und Steinberg (2005) eine Studie durch, die demon­strie­ren sollte, dass der retroaktive Pessimismus auf wenig kontrollierbare Ereignisausgänge beschränkt ist (Abschn. 2.4.3.3). Abschließend wird zusammenfassend diskutiert, welche Rolle die Kontrollierbarkeit des Ausgangs als möglicher Mediator für die Auslösung des selbstwertschützenden Mechanismus bzw. des retroaktiven Pessimismus spielt (Abschn. 2.4.3.4).

2.4.3.1 Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus auf kontrollierbare Ausgänge? Die Diskussion bei Mark et al. (2003)

Im Rahmen der Befunde zur Bestätigung des selbstwertschützenden Mechanismus wurde bereits die Arbeit von Mark et al. (2003) erwähnt. In ihrer Diskussion (S.452) führen Mark et al. (2003) auch die Befunde von Tykocinski (2001) an: Tykocinski (2001, Studie 2) habe gefunden, dass Personen ein negatives, selbstrelevantes Ereignis im Nachhinein als „vorhersehbarer“[37] einschätzten als vor dem Ausgang. Dieser offensichtliche Widerspruch zu den Ergebnissen von Mark et al. (2003) könnte laut diesen darauf zurückgehen, dass für eine Verringerung des „Vorhersehbarkeitseindrucks“[38] ein negatives Ereignis nicht nur selbstrelevant, sondern zudem geeignet sein müsse, bei der Person Schuldgefühle auszulösen. Bei der Wahlstudie von Tykocinski (2001, Studie 2) hätten die Personen sich aber vermutlich nicht für die Niederlage des von ihnen bevorzugten Kandidaten verantwortlich gefühlt.

Das Gefühl der Verantwortlichkeit sei aber eine notwendige Voraussetzung, um bei einem negativen Ereignisausgang auch Schuldgefühle zu entwickeln. Nur das Bestehen von Schuldgefühlen sollte – im Sinne eines Mediators – den selbstwertschützenden Mechanismus, den Vorhersehbarkeitseindruck eines Ereignisausgangs herabzusetzen, auslösen (Mark et al., 2003). Da die Vpn von Tykocinski (2001, Studie 2) sich ohnehin nicht schuldig gefühlt hätten, habe es für sie auch keinen Grund gegeben, den „Vorhersehbarkeitseindruck“[39] zu verringern, wie Mark et al. (2003) schreiben:

… it may well be that negative self-relevant outcomes will attenuate hindsight […] only when the person feels some sense of personal responsibility for the outcome (culpability). This distinction may explain why Tykocinsky [ sic ] (2001) found that people saw a negative event as more likely in retrospect—they probably did not see themselves as culpable. (S.452)

Hier sollen zwei Punkte unterschieden werden: (a) Zwar ist der Ansicht von Mark et al. (2003) zuzustimmen, dass die Vpn in ihrem eigenen Experiment ein gewisses Ausmaß an (vermeintlicher) Kontrolle über den Ereignisausgang besaßen (schließlich war es die Entscheidung der Vp, welche Aktie sie gekauft hat), hingegen bei Tykocinski (2001, Studie 2) keine (oder nur eine sehr geringe) Kontrolle der Vpn über den Wahlausgang gegeben war (vgl. auch Kap. 0). Auch ihre Schlussfolgerung, dass sich nur durch diese subjektive Kontrollwahrnehmung Gefühle der Verantwortlichkeit bzw. Schuldgefühle ausbilden können, scheint plausibel. (b) Mark et al. (2003) haben jedoch einen anderen Umstand vernachlässigt: Bei Tykocinski (2001, Studie 2) werden die Vpn nach der Wahrscheinlichkeit des Ausgangs gefragt, bei Mark et al. (2003) nach der Vorhersehbarkeit. Im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes ließe sich, wie bereits weiter oben erklärt, ersteres als Operationalisierung des Zwangsläufigkeitseindrucks, letzteres als Operationalisierung des Vorhersehbarkeitseindrucks auffassen.

Im Rahmen des Drei-Komponenten-Ansatzes lässt sich aus dem Vergleich dieser beiden Studien (Mark et al., 2003; Tykocinski, 2001) somit nicht ableiten, ob die unterschiedlichen Effekte auf das Vorhandensein von Schuldgefühlen – ausgelöst durch das Gefühl der Kontrolle über einen negativen Ereignisausgang – oder auf die Erfassung der unterschiedlichen Rückschaufehler-Komponenten zurückzuführen sind. Eine empirische Untersuchung dazu findet sich bei Mark et al. (2003) nicht. Eine Einschränkung des selbstwertschützenden Mecha­nismus auf kontrollierbare Ausgänge würde zudem nicht erklären, warum Tykocinski et al. (2002, Studie 2) sogar eine Zunahme des Zwangsläufigkeitseindrucks in der Akteur- gegenüber der Beobachtergruppe fanden.

2.4.3.2 Sind Schuldgefühle eine notwendige Voraussetzung für den selbstwertschützenden Mechanismus? Eine Studie von Pezzo (2003)

Auch Pezzo (2003) weist darauf hin, dass bisher nie explizit untersucht wurde, inwiefern Schuldgefühle (bzw. Verantwortlichkeit) eine notwendige Voraussetzung für den selbstwertschützenden Mechanismus der Vorhersehbarkeitseindrucks-Erhöhung sind:[40]

An interesting question for the defensive-processing hypothesis is whether a sense of culpability or responsibility for the negative outcome is necessary to produce the effect. Such a requirement is implied by the work of Mark and Mellor and others (e.g., Louie et al., 2000; Markman & Tetlock, 2000), but has never been directly tested. (S.422)

Pezzo (2003) versucht, der Frage, ob „defensive processing occur[s; J.H.P.] for upsetting outcomes for which one is not responsible“ (S.426), in mehreren Studien, von denen aber nur die erste hier relevant ist, explizit nachzugehen.[41] Seine Grundüberlegung ist, dass bei einem negativen Ereignisausgang, der aber keine Schuldgefühle auslöst, der selbstwertschützende Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) nicht auftreten sollte. In seiner ersten Studie befragte Pezzo (2003), ähnlich wie Tykocinski et al. (2002, Studie 1), Fans vor und nach dem Ausgang von Basketballspielen nach ihren Wahrscheinlichkeitseinschätzungen, welche Mannschaft das Spiel gewinnen würde.[42] Zwar spricht Pezzo (2003) i.d.R. von der „Vorhersehbarkeit“ von Ausgängen und betont vor allem die Verbindung zu den Studien von Mark und Mellor (1991) sowie Louie (1999). Anders als diese[43] erfasst Pezzo (2003, Studie 1) jedoch Zwangsläufigkeitsurteile, wie sie auch Tykocinski und Mitarbeiter/innen mittels Wahrscheinlichkeitseinschätzungen erfassen.

In seiner Untersuchung findet Pezzo (2003, Studie 1), dass die Fans der Verlierermannschaft in der Rückschauperspektive für den Gewinn der gegnerischen Mannschaft eine marginal signifikante (p =.07) größere Wahrscheinlichkeit als in der Vorschau angeben, während die Fans der Gewinnermannschaft keinen Rückschaufehler zeigen.[44] Das entspricht den Ergebnissen von Tykocinski et al. (2002, Studie 1), auch wenn diese einen deutlicheren (d.h. signifikanten) Effekt finden als Pezzo (2003, Studie 1). Da Pezzo (2003) seine Erfassung von Wahrscheinlichkeitsurteilen (Zwangsläufigkeitseindruck) allerdings im Sinne eines Vorhersehbarkeitseindrucks interpretiert[45] (im Sinne der Studien von Mark und Mitarbeiter/innen), fasst er seine Resultate als Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus auf: Neben der Selbstrelevanz eines negativen Ausgangs sei auch die Auslösung von Schuldgefühlen eine notwendige Bedingung für das Inkrafttreten des selbstwertschützenden Mechanismus. Pezzo (2003) drückt dies so aus:

This may present a limitation for the defensive-processing hypothesis. That is, a sense of culpability for a negative outcome, rather than just self-relevance, may be necessary for the defensive-processing mechanism to be activated. (S.428)

Folgt man der Unterscheidung zwischen Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck nach dem Modell des Drei-Komponenten-Ansatzes, kann das Experiment von Pezzo (2003, Studie 1) weder als Bestätigung noch als Widerlegung für die Verringerung des Vorhersehbarkeitseindrucks aufgrund selbstwertschützender Mechanismen sensu Mark und Mellor (1991) aufgefasst werden. Pezzo (2003, Studie 1) hat nämlich – entgegen seiner eigenen Interpretation – den Zwangsläufigkeitseindruck erfasst. Somit geben seine Resultate lediglich Aufschluss über die Wirkung negativer, selbstrelevanter, unkontrollierbarer Ausgänge auf den Zwangsläufigkeitseindruck und stützen die Befunde zum retroaktiven Pessimismus im Sinne von Tykocinski (2001; Tykocinski et al., 2002). Die Basketballfans in der Studie von Pezzo (2003), deren Mannschaften verloren haben, finden, sensu Tykocinski, Trost oder Erleichterung im Umgang mit ihrer Enttäuschung über die Niederlage, wenn sie im Nachhinein die Gewinnwahrscheinlichkeit der gegnerischen Mannschaft erhöhen und somit deren Sieg zwangsläufiger erscheinen lassen.

Ungeachtet dieser Interpretation mag die oben zitierte Aussage (Pezzo, 2003, S.428), dass Schuldgefühle eine notwendige Voraussetzung für die Auslösung des selbstwertschützenden Mechanismus sind, durchaus für den Vorhersehbarkeitseindruck zutreffen. Nur eine empirische Bestätigung dafür liefert Pezzo (2003) nicht.

2.4.3.3 Die Rolle der Kontrollierbarkeit beim retroaktiven Pessimismus: Die Studie von Tykocinski und Steinberg (2005)

Bei einer genaueren Betrachtung der Studien von Tykocinski fällt auf, dass die Ereignisse bzw. Szenarien, die Tykocinski (2001) und Tykocinski et al. (2002) verwendet haben, für die beurteilende Vp (a) unkontrollierbar sind, wie im Falle des Ausgangs eines Fußballspiels oder der Knesset-Wahl, oder sich (b) zumindest nur wenig durch die handelnde Person kontrollieren lassen, wie bei den Szenarien, in denen der Ausgang vor allem von externen Einflüssen abhängt. Der Frage, ob es für den von Tykocinski postulierten retroaktiven Pessimismus eine notwendige Voraussetzung ist, dass die Ereignisausgänge von den Vpn als
wenig kontrollierbar wahrgenommen werden, gehen Tykocinski und Steinberg (2005) in ihrem zweiten Experiment explizit nach. Sie nehmen an:

… with additional control [over the outcome of events; J.H.P.] one gains an added sense of responsibility over the outcomes, and, if the outcomes are negative, one is likely to experience regret for not having acted differently. […] The extent to which one had control over negative outcomes is a key element in attempts to differentiate between the psychological experience of regret and disappointment […]. […] Finally, it is easier to conclude that ‘I never had a chance to succeed’ when the negative outcomes are uncontrollable. This quality makes retroactive pessimism a defense mechanism that is more applicable in low control situations which trigger disappointment rather than regret [Hervorhebung durch J.H.P.]. It was thus expected that people would be less likely to rely on retroactive pessimism when trying to cope with con­trollable outcomes. (Ms. S.11)

Tykocinski und Steinberg (2005, Studie 2) verwenden ein Szenario ähnlich der Stipendien-Geschichte aus Tykocinski et al. (2002, Studie 2). Ein Student/eine Studentin versucht, noch rechtzeitig einen Stipendienantrag zu stellen, erreicht das Büro, wo er/sie den Antrag einreichen muss, aber nicht mehr vor dem Ende der Antragsfrist. Die Autorinnen variieren zwei Variablen: (a) Den Wert des Stipendiums (geringer vs. hoher Verlust), was als Variation der Enttäuschung interpretiert wird, und (b) die Kontrollierbarkeit des Ausgangs (gering vs. hoch), wobei bei geringer Kontrollierbarkeit der Ausgang von externen Faktoren abhängt, bei hoher Kontrollierbarkeit eher auf eigenes Verschulden des Akteurs zurückzuführen ist.

Das Ergebnis ist, dass der Zwangsläufigkeitseindruck in der Bedingungskombination gering kontrollierbar/hoher Verlust am ausgeprägtesten ist. In dieser Bedingung wird der Ausgang als wesentlich zwangsläufiger eingeschätzt als in den anderen drei Bedingungskombinationen, die sich untereinander nicht signifikant unterscheiden. Retroaktiver Pessimismus könnte daher, so folgern Tykocinski und Steinberg (2005), ein spezifischer Mechanismus für wenig kontrollierbare Ereignisse sein: „Evidence for retroactive pessimism was found following uncontrollable failure, but not when the same negative outcomes resulted from wrong choices and poor judgment.“ (Tykocinski & Steinberg, 2005, Ms. S.17). Dieser Mechanismus wirke aber erst bei relativ hoher Enttäuschung.

Tykocinski und Steinberg (2005) haben darüber hinaus auch noch folgende vier Maße erhoben: Verantwortlichkeit („responsibility“), Bedauern („regret“), Schuldgefühle („guilt“) und Enttäuschung („disappointment“). Die Vpn empfanden in der Bedingung gering kontrollierbar/hoher Verlust ein tendenziell (wenn auch nicht signifikant) höheres Ausmaß an Enttäuschung als in den anderen drei Bedingungskombinationen. Ferner empfanden sie bei wenig kontrollierbaren Ereignissen weniger Verantwortlichkeit, Bedauern und Schuldgefühle als bei kontrollierbaren Ereignisausgängen (Haupteffekt des Faktors Kontrolle ohne signifikante Wechselwirkung). Dies steht in Einklang mit den von Zeelenberg et al. (1998) berichteten Befunden, die zwischen (a) Bedauern („regret“) und (b) Enttäuschung („disappointment“) unterscheiden: (a) Bedauern entstehe dann, wenn man glaubt, den negativen Ausgang selbst (mit)verursacht zu haben, und der Ansicht ist, man hätte anders (d.h. „besser“) handeln können (kontrollierbare Situation). (b) Enttäuschung wird hingegen ausgelöst, wenn ein negatives Ereignis durch Umstände verursacht wurde, die jenseits der eigenen Kontrolle lagen, man selbst allerdings die besten Intentionen hatte (unkontrollierbare Situation).

Als eher kontrollierbar wird eine Situation oder ein Ereignis dann eingeschätzt, wenn als Attributionsmöglichkeiten vor allem internale, nicht zeitlich stabile (z.B. Fleiß, Bemühung oder Aufmerksamkeit) Ursachen augenfällig sind. Bei externalen hat der Akteur nämlich
ebenso wenig wie bei internal-stabilen (z.B. generelle kognitive Minderleistungsfähigkeit) Ursachen die Möglichkeit, etwas an dem Ereignis oder der Situation zu verändern (vgl. z.B. Zuckerman, 1979). Ferner ist es plausibel, und wird durch Befunde von Tykocinski und Steinberg (2005) sowie Markman und Tetlock (2000) zum kontrafaktischen Denken gestützt, dass Unkontrollierbarkeit vor allem dann empfunden wird, wenn externale Attribuierungsmöglichkeiten vorhanden sind und kontrafaktische Gedanken, die zu internal-instabilen Attributionen führen würden, daher leichter unterdrückt werden können (vgl. Tykocinski & Steinberg, 2005; Tykocinski, 2005).

Retroaktiver Pessimismus würde somit vor allem in den Situationen auftreten, in denen eine Person eine starke Enttäuschung erfährt, aber – aufgrund der subjektiv geringen Kontrollierbarkeit der Situation – wenig eigene Verantwortung und daher wenig Bedauern oder Schuld empfindet.[46] Warum retroaktiver Pessimismus bei unkontrollierbaren, aber nicht bei kontrollierbaren Ereignissen auftrete, begründen Tykocinski und Steinberg (2005) damit, dass Personen von den Ausgängen kontrollierbarer Ereignisse etwas für ihr künftiges Handeln lernen können – allerdings nur, wenn sie die Ausgangswahrscheinlichkeiten realistisch einschätzen. Bei unkontrollierbaren Ereignissen hätten sie ohnehin keinen Einfluss auf den Ausgang, bräuchten daher auch nichts für künftiges Handeln zu lernen und könnten es sich erlauben, eine Enttäuschungslinderung vorzunehmen, auch wenn diese zu nicht realitätsadäquaten Wahrscheinlichkeitseinschätzungen führe. Sie unterlegen dies mit zwei Beispielen:

It is useful to learn not to use a mobile phone while driving [kontrollierbare Bedingung; J.H.P.], but a counterfactual such as ‘if I was not stopped by the police for security checks I would have mad it on time’ [kontrafaktischer Gedanke zu der unkontrollierbaren Bedingung, dass man in eine Sicherheitskontrolle der Polizei gerät; J.H.P.] could be suppressed without losing a golden opportunity for self-improvement. (Tykocinski & Steinberg, 2005, Ms. S.17).

Ferner scheint es, betrachtet man die Befunde von Zeelenberg et al. (1998) in der Zusammenschau mit Tykocinski und Steinberg (2005) sowie Markman und Tetlock (2000), bei unkontrollierbaren Ereignissen (a) leichter zu sein, externale Attributionen zu finden, die das eigene Selbst vor einer möglicher Gefährdung durch selbstwertbedrohliche – internale – Attributionen schützen, bzw. (b) kontrafaktische Gedanken, die den Zwangsläufigkeitseindruck herabsetzen würden, zu blockieren. Bei kontrollierbaren Ereignisausgängen würde ein Selbstwertschutz zwar auch – vermutlich sogar noch dringlicher – benötigt, könne aber nicht so leicht durch eine Zwangsläufigkeitseindrucks-Erhöhung herbeigeführt werden, vor allem nicht, ohne die Möglichkeiten zu unterdrücken, aus denen man für künftiges Handeln lernen könnte (vgl. dazu die obige Ausführung zum Lernen für künftiges Handeln). Die plausible Schlussfolgerung von Tykocinski und Steinberg (2005) lautet folglich:

It seems then that retroactive pessimism, as a defense mechanism, is unique to disappointment. If indeed the use of retroactive pessimism involves suppression of counterfactuals, one could argue that the use of such a mechanism would indeed be unwise in situations where we have control over our outcomes. Suppressing upward counterfactuals may be counterproductive because one is forfeiting an opportunity to learn form one’s mistakes. If, however, failure was the result of uncontrollable events there is less of a lesson to be learned. (Ms. S.17)

Die Arbeit von Tykocinski und Steinberg (2005) kommt somit zu dem Ergebnis, dass der retroaktive Pessimismus spezifisch nur bei wenig kontrollierbaren Ereignissen wirkt. Dies wurde experimentell bisher aber nur für ein spezielles Szenario gezeigt. Die Generalisierbarkeit dieses Befundes zu belegen, steht folglich noch aus.

2.4.3.4 Zusammenfassung und Diskussion

Mark et al. (2003) haben darauf hingewiesen, dass es einen Widerspruch zwischen den Ergebnissen von Tykocinski (2001) einerseits und Mark und Mellor (1991) bzw. Mark et al. (2003) andererseits gibt. Sie bringen die Idee ein, dass dieser Widerspruch darauf beruhen könnte, dass der selbstwertschützende Mechanismus der Vorhersehbarkeitsverringerung nur bei Ereignisausgängen auftritt, für welche die Vpn sich verantwortlich fühlen und in Folge dessen Selbstvorwürfe machen. Der selbstwertschützende Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) wäre somit spezifisch für kontrollierbare, negative und selbstrelevante Ereignisausgänge, die Selbstvorwürfe auslösen können. Warum bei Tykocinski (2001; Tykocinski et al., 2002) allerdings enttäuschtere Personen eine stärkere Zunahme ihrer retrospektiven Wahrscheinlichkeitseinschätzungen für den negativen Ausgang zeigen als nicht enttäuschte Personen, erklären Mark et al. (2003) nicht.

Pezzo (2003) meint empirisch zu bestätigen, dass der selbstwertschützende Mechanismus spezifisch für kontrollierbare Ausgänge ist, da er in einer Feldstudie bei einem unkontrollierbaren Ausgang den selbstwertschützenden Effekt sensu Mark und Mellor (1991) nicht findet. Allerdings beachtet Pezzo (2003) nicht, dass er, wie Tykocinski in ihren Studien, Wahrscheinlichkeitsurteile erfasst hat, während die Hypothese des selbstwertschützenden Mechanismus nach Mark und Mellor (1991) auf Urteilen zu Vorhersehbarkeitsein­drücken beruht. Somit repliziert er lediglich eine Studie von Tykocinski (2002, Studie 1) zum retroaktiven Pessimismus.

Tykocinski und Steinberg (2005) haben, übrigens ohne sich auf die Arbeiten von Mark et al. (2003) oder Pezzo (2003) zu beziehen, untersucht, welchen Einfluss die Kontrollierbarkeit eines Ausgangs auf den retroaktiven Pessimismus hat. Entsprechend ihren Annahmen konnten sie zeigen, dass der retroaktive Pessimismus spezifisch für einen unkontrollierbaren, negativen und selbstrelevanten Ausgang war, bei dem die Personen Enttäuschung, aber keine Schuldgefühle empfanden. Eine Überprüfung der Generalisierbarkeit dieses Befundes steht noch aus.

Tykocinski und Steinberg (2005) haben dabei erstmalig willentlich innerhalb einer Studie die Kontrollierbarkeit von Ausgängen verändert und ein Zwangsläufigkeitseindrucks-Maß erhoben. Bezüglich des Vorhersehbarkeitseindrucks, wie er im Rahmen des selbstwertschützenden Mechanismus erhoben werden sollte, fehlt hingegen eine derartige Studie noch. Es wurde also bisher nicht empirisch gezeigt, dass der selbstwertschützende Mechanismus spezifisch für kontrollierbare Ausgänge ist.

Auch wenn hier wie im Folgenden vereinfachend von der „Mediatorfunktion der Kontrollierbarkeit“ (vgl. Baron &Kenny,1986) die Rede ist, hat man sich die Wirkkette nach Auffassung des Verfassers vermutlich eher wie folgt vorzustellen:

- negativer, selbstrelevanter Ausgang + hohe (objektive) Kontrollierbarkeit Þ Gefühl der (subjektiven) Kontrollierbarkeit Þ Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit Þ Schuldgefühle Þ Bedrohung des Selbstwertgefühls (und eventuell der eigenen Selbstwirksamkeit) Þ Auslösung des selbstwertschützenden Mechanismus zur Herabsetzung von Schuldgefühlen Þ Vorhersehbarkeitseindrucks-Verringerung für den eingetretenen Ausgang (= i.d.R. die abhängige Variable) Þ Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes und Selbstwertgefühls (und eventuell der eigenen Selbstwirksamkeit)
- negativer, selbstrelevanter Ausgang + niedrige (objektive) Kontrollierbarkeit Þ Gefühl der (subjektiven) Unkontrollierbarkeit Þ Gefühl der Enttäuschung (und ggf. der eigenen Selbstunwirksamkeit) Þ allgemein negativer Stimmungszustand Þ Aus­lösung des retroaktiven Pessimismus als Enttäuschungslinderung Þ Zwangsläufigkeitseindrucks-Erhöhung für den eingetretenen Ausgang (= i.d.R. die abhängige Variable) Þ Aufrechterhaltung eines positiven (oder neutralen) Stimmungszustands

Dieser Darstellung folgend, wäre es vielleicht adäquater, von der vermuteten Mediatorfunktion der Schuldgefühle bzw. Enttäuschung – als Kernvariablen in diesen Wirkketten – zu sprechen. Allerdings verschließen sich diese Variablen der direkten Operationalisierung, da sie, sofern der selbstwertschützende Mechanismus bzw. der retroaktive Pessimismus funktionieren, stets bereits einem motivationalen Veränderungsprozess unterlagen und somit nicht mehr „verzerrungsfrei“ erfasst werden können. Die Kontrollierbarkeit einer Situation scheint hingegen relativ objektiv feststellbar zu sein und die subjektiv wahrgenommene Kontrollierbarkeit korrespondiert vermutlich hoch mit der „objektiven“ Kontrollierbarkeit (vgl. aber z.B. Thompson, Armstrong & Thomas, 1998). Auch wenn das Ausmaß an Schuldgefühlen bzw. Enttäuschung manipuliert werden soll, setzt diese Manipulation, zumindest in den bisher dazu vorliegenden Studien (Tykocinski & Steinberg, 2005; auch Pezzo, 2003), an der Kontrollierbarkeit an.

Der empirische Nachweis, dass diese Wirkketten tatsächlich so bestehen, wie sie hier vom Verfasser formuliert wurden, steht freilich noch aus und kann auch im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Für die Zwecke dieser Arbeit sei es erlaubt, vereinfachend von der „Mediatorfunktion der Kontrollierbarkeit“ zu sprechen, auch wenn dies, wie dargestellt, den tatsächlichen Wirkketten vermutlich nicht gerecht werden mag.

2.4.4 Explizite Erfassung von Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck in einer Studie: Ergebnisse der Blank-Gruppe

Den Arbeiten der Gruppe um Blank kommt das Verdienst zu, explizit Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrücke (letztere nicht nur als Wahrscheinlichkeitsurteile operationalisiert, wie in den Arbeiten von Tykocinski und Mitarbeiter/innen oder Pezzo, 2003, sondern direkt) erfasst zu haben, teilweise sogar innerhalb derselben Studie. Von den Studien, die weiter oben (Abschn. 2.2.3.3) unter dem Aspekt der Dissoziation der Rückschaufehler-Komponenten bereits erwähnt wurden und die sowohl den Vorhersehbarkeits- als auch den Zwangsläufigkeitseindruck erfasst haben, behandelt nur die Studie zur Olympia-Bewerbung der Stadt Leipzig einen negativen, selbstrelevanten Ereignisausgang und ist hier somit von Interesse. Welche Erkenntnisse lassen sich nun aus dieser Untersuchung für die Veränderung des Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrucks bei selbstrelevanten, negativen Aus­gängen ableiten?

In der Studie zur Olympia-Kandidatur der Stadt Leipzig (Blank, 2004; Blank & Nestler, in Druck) wurden parallel Vorhersehbarkeitseindrucks- und Zwangsläufigkeitseindrucks-Maße erhoben. Das Feedback, dass Leipzig nicht weiterhin nominiert wurde, dürfte auf den allergrößten Teil der Vpn negativ gewirkt und eine zumindest moderate Selbstrelevanz besessen haben, da ein Großteil der Untersuchungsteilnehmer/innen aus Leipzig kam und eine Austragung der Olympischen Spiele in Leipzig begrüßte (vgl. Blank & Nestler, in Druck, Ms. S.7).

Die subjektiv wahrgenommene Kontrollierbarkeit durch die einzelne Vp sollte hingegen gering ausgefallen sein. Somit ist diese Feldstudie am ehesten mit den Untersuchungen von Tykocinski zu politischen Wahlen bzw. dem Ausgang von Fußballspielen vergleichbar (Tykocinski, 2001; Tykocinski et al., 2002), bei denen die Vpn enttäuscht waren, sich aber vermutlich keine Selbstvorwürfe gemacht haben. Entsprechend wäre zu erwarten, dass, dem retroaktiven Pessimismus von Tykocinski folgend, eine Erhöhung des Zwangsläufigkeitseindrucks eintritt.[47] Tatsächlich fanden Blank und Nestler (in Druck) eine deutliche und höchst signifikante (p <.001) Zunahme des Zwangsläufigkeitseindrucks in der Rückschau- gegenüber der Vorschauperspektive. Das ist konform zu den Ergebnissen von Tykocinski, lässt sich, da keine Kontrollgruppe mit geringer ausgeprägter Selbstrelevanz bestand, aber auch durch einen „normalen“ (d.h. rein kognitiven) Rückschaufehlereffekt erklären.

Der Vorhersehbarkeitseindruck nahm hingegen, im Vergleich zur Vorschau, deutlich und signifikant (p <.001) ab. Dies entspricht zwar zunächst anscheinend dem Befund von Mark und Mellor (1991), dass der Vorhersehbarkeitseindruck bei negativen, selbstrelevanten Ausgängen abnimmt. Da aber keine direkte Kontrolle durch die Vpn über den Ausgang bestand und die Vpn sich somit nicht verantwortlich gefühlt oder sich Selbstvorwürfe gemacht haben sollten, widerspricht dieser Befund der Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus auf kontrollierbare Ereignisse, wie sie Mark et al. (2003) und Pezzo (2003) postuliert haben.[48]

Hier kommt allerdings hinzu, dass das Feedback für viele Vpn recht überraschend war und somit auch der Mechanismus der Rückschaufehlerreduktion bzw. -eliminierung, wie ihn Mazursky und Ofir (1990; auch Ofir & Mazursky, 1997) für hohe Überraschung beschreiben, gewirkt haben könnte: Wenn Vpn durch einen Ausgang sehr überrascht sind, erzeugen sie die Metakognition, dass sie den Ausgang nicht vorhergesehen haben können – sonst wären sie darüber ja nicht so überrascht. Diese Erklärung wird dadurch gestützt, dass eine Abnahme des Vorhersehbarkeitseindrucks von der Vor- zur Rückschauperspektive substantiell mit einer Zunahme der Überraschung, die separat erhoben wurde, korreliert war (r =.57, p <.001). Bei einer Regressionsanalyse, in die Überraschung und Enttäuschung als unabhängige Variablen eingingen, fand sich sogar, dass für die Vorhersage des Vorhersehbarkeitseindrucks nur Überraschung als signifikanter Prädiktor und bei der Vorhersage des Zwangsläufigkeitseindrucks nur Enttäuschung als signifikanter Prädiktor wirkte.

Diese Studie von Blank und Nestler, die allerdings mit den Problemen einer Feldstudie ohne adäquate Kontrollgruppe behaftet ist, lässt sich folglich als konform zu den Annahmen des retroaktiven Pessimismus betrachten (z.B. Tykocinski, 2001; Tykocinski et al., 2002). Indirekt stützt sie diesen sogar, da die Rolle der Enttäuschung regressionsanalytisch gezeigt.

Jedoch kann diese Untersuchung (a) die Einschränkung des selbstwertschützenden Mechanismus auf kontrollierbare Ausgänge ebenso wenig belegen, wie sie (b) die ursprüngliche Hypothese von Mark und Mellor (1991) stützen kann. Ersteres (a) nicht, da es fraglich ist, ob die für die Auslösung von Selbstvorwürfen notwendige subjektive Kontrollierbarkeit tatsächlich gegeben war, und letzteres (b) nicht, da andere, hinreichende Alternativerklärungen möglich sind (vgl. die Wirkung der Überraschung, z.B. Mazursky & Ofir, 1990; Ofir & Mazursky, 1997).

Dennoch lassen sich zwei wichtige Erkenntnisse aus dieser Studie ziehen: Zum einen können bei negativen, selbstrelevanten Ergebnisinformationen die Vorhersehbarkeits- und die Zwangsläufigkeitskomponente dissoziiert sein, das heißt sich von der Vor- zur Rückschau in entgegengesetzter Richtung verändern. Zum anderen wurde die Rolle der Selbstrelevanz und der Negativität des Ausgangs, bei Blank und Nestler (in Druck) zusammengefasst als Commitment für das Fortbestehen einer Nominierung Leipzigs, gezeigt.[49] Das Commitment der Vpn hat einen moderierenden Einfluss auf den Vorhersehbarkeits- und den Zwangsläufigkeitseindruck: Höheres Commitment führt zu einer stärkeren Prä-Post- Abnahme des Vorhersehbarkeitseindrucks und einer stärkeren Prä-Post- Zunahme des Zwangs­läufigkeitseindrucks. Anders ausgedrückt: Personen mit hohem Commitment zeigen allgemein akzentuiertere Prä-Post-Veränderungen der Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindrücke. Dieser Befund spiegelt allgemein die Bedeutung der Selbstrelevanz wider und geht sowohl konform mit dem retroaktiven Pessimismus nach Tykocinski, wonach stärker enttäuschende Ereignisse eine höhere Zunahme des Zwangsläufigkeitseindrucks bewirken, als auch mit dem selbstwertschützenden Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991), wonach ausgeprägtere Selbstrelevanz eine größere Verringerung des Vorhersehbarkeitseindrucks bewirkt.

Die Hypothese, dass der selbstwertschützende Mechanismus nur dann auftritt, wenn Personen sich Selbstvorwürfe machen (Mark et al., 2003; Pezzo, 2003), kann durch die Resultate von Blank und Nestler (in Druck) allerdings nicht belegt werden: Der Ausgang der Leipzig-Kandidatur war nur in einem relativ geringen Maße durch die Untersuchungsteilnehmer/innen kontrollierbar. Wenn Selbstvorwürfe zustande gekommen sind, dann deshalb, weil die Teilnehmer/innen sich selbst dafür anklagten, dass sie soviel Aufwand für die Unterstützung der Kandidatur betrieben haben. In welchem Ausmaß dadurch aber tatsächlich Selbstvorwürfe hervorgerufen wurden, ist ungewiss, da nicht explizit nach Selbstvorwürfen gefragt wurde.

[...]


[1] Für kritische Anmerkungen zu dieser Studie vergleiche Abschnitt 2.4.1.1 (Fußnote 15).

[2] Der dritte Kandidat Mordechai zog kurz vor der Wahl seine Kandidatur zurück.

[3] In letzter Zeit hat Hartmut Blank seine Auffassung, dass Wahrscheinlichkeitseinschätzung eine – zur direkten Zwangsläufigkeitseinschätzung äquivalente – Operationalisierung des Zwangsläufigkeitseindrucks sei, allerdings eingeschränkt (persönliche Mitteilung, Leipzig, 29.03.2005).

[4] Diese Unterscheidung, ob der Rückschaufehler eliminiert, umgekehrt oder lediglich verringert wurde, lässt sich aus der Studie nicht ableiten, da keine Kontrollgruppe ohne Wissen um den Ereignisausgang vorhanden war (vgl. auch Pezzo, 2003, S.422).

[5] Eine Voraussetzung für die Perzeption subjektiver Kontrollierbarkeit ist natürlich, dass der Ausgang zumindest in einem gewissen Maße tatsächlich vorhersehbar war: Wenn ich nicht weiß, was kommen wird, habe ich auch keine Möglichkeit, zu intervenieren (vgl. z.B. Thompson, Armstrong & Thomas, 1998; Markman & Tetlock, 2000; siehe auch Anhang A1).

[6] Allerdings beschreibt schon Elaine Walster (1967) das Phänomen, dass „after an event occurs individuals tend to overestimate their likelihood of correctly anticipating such an outcome“ (S.239), und untersucht dieses in systematischer Weise. Noch früher führte Forer (1949) ein Experiment zum Rückschaufehler durch, ohne diesen Effekt jedoch zu benennen oder eingehender zu interpretieren.

[7] Manchmal wird auch eine Unterscheidung zwischen „hindsight bias“ (Rückschaufehler) und „knew-it-all-along“-Effekt vorgenommen: Hertwig, Gigerenzer und Hoffrage (1997) meinen, der Begriff „hindsight bias“ solle nur für Erinnerungsverzerrungen im Gedächtnisdesign verwendet werden. Für Untersuchungen im hypothetischen Design sei hingegen der Begriff „knew-it-all-along“-Effekt adäquater. Diese Unterscheidung hat sich in der Forschungsliteratur bisher allerdings nicht niedergeschlagen und wird auch hier nicht verwandt. – Winman (1999, S.135) hingegen benutzt die Bezeichnung „knew-it-all-along“-Effekt für Studien mit Fragen zum Allgemeinwissen, wohingegen seines Erachtens „hindsight bias“ für Studien zur Vorhersage von Ereignisausgängen gebräuchlich sei. – Dies sei als weiterer Beleg für die Heterogenität der Begrifflichkeiten in der Rückschaufehlerforschung angemerkt.

[8] Dieser Aspekt des Rückschaufehlers entspricht übrigens der gering ausgeprägten bzw. mangelnden Perspektiven­übernahme bei kleinen Kindern (auch „false believes“ oder „curse of knowledge“), wie sie von Piaget im kognitiv-struktur­theore­tischen Ansatz beschrieben wurde (vgl. zur Übersicht Silbereisen, 1998, S.831ff.; für eine aktuelle Arbeit zum Vergleich von „false believes“ und „hindsight bias“ bei Kindern und Erwachsenen vgl. Birch, 2005).

[9] Der Begriff sekundärer Rückschaufehler (engl. „secondary hindsight bias“) ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff Rückschau-Fehler zweiter Art, der laut Schwarz (2002, S.7) von Pohl (1993) eingeführt, bisher aber erst selten untersucht worden sei (für Arbeiten zum sekundären Rückschaufehler siehe aber Appleton-Knapp, 2005; Blank & Fischer, 2000; Pohl, Ludwig & Ganner, 1999; Schmidt, 1993).

[10] Im Haupttext von Kelman et al. (1998) wird auf den hier zitierten Absatz mit der Endnote „1“ Bezug genommen, im Anhang erscheint die entsprechende Endnote allerdings unter der Nummerierung „2“.

[11] Kelman et al. (1998) kommen zu dem Schluss, dass nur der sekundäre Rückschaufehler unter allen Umständen als irrationaler „Fehler“ zu betrachten sei. Der primäre (und seltener auch der tertiäre) Rückschaufehler könne unter bestimmten Bedingungen aber durchaus als rationale Adaptation fungieren.

[12] Der tertiäre Rückschaufehler wird bei Blank et al. (2004) allerdings als Bestandteil des Vorhersehbarkeitseindrucks erwähnt: „Importantly, people not only believe that they themselves but also others must have been able to foresee the outcomes of events …“ (Ms. S.4). Ferner unterscheiden Blank et al. (2004) bei der Konstruktion einer Vorhersehbarkeitseindrucks-Skala zwischen persönlicher und genereller Vorhersehbarkeit: „These items [of the foreseeability measure; J.H.P.] were formulated in a systematic attempt to cover two
potentially different aspects of foreseeability, personal foreseeability (exemplified in the phrase ‘I knew-it-all-along’) and general foreseeability (meaning that the outcome was also foreseeable to others).” (Ms. S.9). Die generelle Vorhersehbarkeit entspricht dabei der Perspektive anderer Personen, wie sie auch im tertiären Rückschaufehler sensu Kelman et al. (1998) angesprochen wird.

[13] Zuvor wurden die Skalen auch schon bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im Jahre 2001 verwendet. Dazu liegen jedoch keine publizierten Ergebnisse vor.

[14] Die von Mark und Mellor (1991) benutzte Skala zur Erfassung des Vorhersehbarkeitseindrucks wird von den Autoren (S.571) wie folgt beschrieben: „Response choices for the item, ranging from low to high foresight, were ‘I’m not sure I ever saw it coming’ (1); ‘I wasn’t sure, but suspected it was coming’ (2); and ‘I saw it coming all the way’ (3).“.

[15] Die Zuteilung auf die Gruppen (a) Entlassene, (b) im Betrieb Verbliebene und (c) unbeteiligte Einwohner erfolgte naturgemäß nicht randomisiert. Eine Konfundierung der Gruppenzugehörigkeit mit Merkmalen der Personen oder auch mit unterschiedlichem Wissen über bevorstehende Entlassungen bzw. deren Antezedenzien erscheint daher wahrscheinlich. Eine Prämessung, d.h. eine Einschätzung der Vorhersehbarkeit bevor die Entlassungen bekannt wurden, war nicht gegeben. Mark und Mellor (1991) verwendeten jedoch große Sorgfalt darauf, zu zeigen, dass diese Störgrößen nicht für den gefundenen Effekt verantwortlich seien: So versuchen sie durch eine Regressions-Diskontinuitäts-Analyse zu zeigen, dass Anciennität – obwohl dieses Merkmal bei der Entscheidung, wer entlassen wird, explizit herangezogen wurde (Mitarbeiter mit mehr Dienstjahren behielten ihre Stelle) – nicht für den beobachteten Effekt verantwortlich sein kann. Es ist jedoch zu vermuten, dass neben der Anciennität noch andere, stärker persönlich kontrollierbare Faktoren bei den Entlassungen berücksichtigt wurden.

[16] In einen allgemeineren Kontext gestellt, kann die größere Involviertheit bzw. Selbstrelevanz zu einer höheren Verarbeitungstiefe sensu Craik und Lockhart (1972) führen (vgl. für die Auslösung einer elaborierteren Verarbeitung auch z.B. Petty, Cacioppo & Goldman, 1981).

[17] Die Auffassung, Brown und Solomon (1987) erfassten die Vorhersehbarkeit, wird von Louie (1999) vertreten, obwohl Brown und Solomon (1987) – betrachtet man ihre Operationalisierung genauer – Sicherheitsurteile bezüglich einer indirekten Vorhersehbarkeit (vgl. Brown & Solomon, 1987, S.570) erfassen.

[18] Eine Umkehrung des Rückschaufehlers wäre mit den Thesen von Brown und Solomon (1987) nicht vereinbar, da es sich dann nicht mehr um ein exakteres Urteil handelte.

[19] Für weitere mögliche Alternativerklärungen der von Mark und Mellor (1991) gefundenen Effekte siehe z.B. Mark und Mellor (1991), Louie et al. (2000, S.265) und Pezzo (2003). Zur Rolle der Überraschung als Alternativerklärung vgl. speziell Mazursky und Ofir (1990), Ofir und Mazursky (1997) sowie Pezzo (2003) und für den Zusammenhang zwischen der Valenz und der Überraschung eines Ausgangs Taylor und Brown (1988).

[20] Ein hohes Ausmaß an Selbstrelevanz wurde im Rahmen dieser Wirtschaftssimulation dadurch sichergestellt, dass es sich bei den Vpn um Teilnehmer/innen eines MBA-Studiengangs handelte, die Kursnoten entsprechend der Güte ihrer Entscheidungen in dieser Simulation erhalten sollten.

[21] Fasste man die Operationalisierung des Rückschaufehlers bei Louie et al. (2000) als Messung des Zwangsläufigkeitseindrucks auf (und ließe außer Betracht, dass eine Konfundierung mit der Erinnerungsverzerrungs-Komponente vorhanden ist), stünden diese Befunde im Widerspruch zu den im Abschnitt 2.4.2.1 geschilderten Ergebnissen von Tykocinski (2001; Tykocinski et al., 2002; Tykocinski & Steinberg, 2005).

[22] Bzw. Beobachterinnen – das weibliche Geschlecht sei im Folgenden immer mitgedacht.

[23] Die ungleiche Operationalisierung dessen, was die Autor/innen der beiden Studien als „Vorhersehbarkeitseindruck“ bezeichnen, sei hier einmal ausgeklammert.

[24] Sicherlich gibt es, wie auch Tykocinski (2001; Tykocinski et al., 2002; Tykocinski & Steinberg, 2005) einräumt, weitere Coping-Strategien, um negative Ausgänge besser zu bewältigen. Dazu gehören beispielsweise die Mechanismen der Dissonanzreduktion sensu Festinger (1968/1957). Bei der Dissonanzreduktion wird allerdings oft die Erwünschtheit eines Ausgangs reduziert, bei dem retroaktiven Pessimismus hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Ausgang eintritt, verändert.

[25] Die hier dargestellten Beispiele zur enttäuschungslindernden Zwangsläufigkeiterhöhung sind bemerkenswerterweise stets mit externaler Attribuierung verbunden.

[26] Allerdings zeigten sich – anders als erwartet – keine Unterschiede in der Zwangsläufigkeitswahrnehmung für die Niederlage des Wahlverlierers (sondern nur für den Sieg des Wahlgewinners) zwischen den Anhängern und den Gegnern des Wahlverlierers. Tykocinski erklärt dies unteranderem mit der einseitigen Medienbericht­erstattung, die sich nach der Wahl auf den Wahlsieger konzentriert habe (vgl. für Alternativerklärungen aber auch Tykocinski, 2001, S.380).

[27] Bzw. die Akteurin – das weibliche Geschlecht sei im Folgenden immer mitgedacht.

[28] Warum allerdings die Personen mit positivem Ereignisausgang – über die beiden Bedingungen der Preis­reduktion (groß vs. klein) und alle Personen mit hohem bzw. niedrigem Kontrollbedürfnis hinweg betrachtet – keine Zunahme der Wahrscheinlichkeitseinschätzung für ihren Erfolg gezeigt haben, wie es nach dem klassischen Rückschaufehler-Paradigma und einer Vielzahl von Studien (vgl. zur Übersicht z.B. Guilbault et al., 2004) zu erwarten gewesen wäre, wird von Tykocinski (2001) nicht erklärt.

[29] Allerdings scheint auch die konträre Annahme plausibel, dass das Verhalten guter Freunde ebenfalls selbstrelevant ist und wir z.B. den Misserfolg von Freunden eher external attribuieren, um uns vor der selbstwertbedrohlichen Einsicht zu schützen, dass wir uns „dumme“ oder „unfähige“ Personen als Freunde ausgewählt haben. Den Misserfolg von Fremden sollten wir hingegen überwiegend internal auf diesen Fremden attribuieren, um uns vor der Vorstellung zu bewahren, dass uns, als guter und fähiger Person, auch so etwas widerfahren könnte (vgl. z.B. Lerner, 1980). Daher wäre es – wollte man Selbstrelevanz vermeiden, wie Tykocinski et al. (2002) es als Ziel ihrer Beobachterbedingung formulieren – vermutlich geeigneter, Ereignisse so beurteilen zu lassen, als berichtete sie ein Fremder oder entfernter Bekannter und nicht – wie bei Tykocinski et al. (2002, S.581f.) – „a close other“ bzw. „a friend“ (vgl. auch Louie et al., 2000, S.266; Taylor & Koivumaki, 1976).

[30] Tatsächlich wird innerhalb der jeweiligen Bedingung großes bzw. kleines Stipendium der Unterschied zwischen Akteur- und Beobachter-Perspektive nicht signifikant (Tykocinski et al., 2002, S.582, Fußnote 4). Der retroaktive Pessimismus könnte also auch für die Beobachter, für die – laut Tykocinski et al. (2002) – der Ausgang nicht selbstrelevant sein sollte, wirken. Somit stützt sich die Interpretation von Tykocinski et al. (2002), dass die Ergebnisse des zweiten Experiments im Sinne des retroaktiven Pessimismus zu deuten seien, lediglich auf die Interaktion der Größe des Stipendiums mit der Beurteilerperspektive (genauer: auf den moderierenden Effekt der Stipendiengröße in der Akteur-Perspektive und das Fehlen dieses Moderatoreffektes in der Beobachter-Perspektive). – Die unerwartete Beobachtung, dass die Vpn der Beobachter-Perspektive im Falle geringer Enttäuschung den Ereignisausgang tendenziell (wenn auch jedes Mal dicht unterhalb der Signifikanzgrenze) zwangsläufiger einschätzen als die Experimentalgruppe mit Selbstrelevanz (vgl. Tykocinski et al., 2002, Studien 2 und 3), obwohl im Sinne des retroaktiven Pessimismus ein umgekehrter Trend zu erwarten wäre, findet bei Tykocinski keine plausible Erklärung.

[31] Das Maß der erlebten Enttäuschung hänge dabei vom Ausmaß der Negativität und der Unwahrscheinlichkeit eines Ausgangs ab, d.h. die Enttäuschung sollte dann besonders groß sein, wenn der Ausgang besonders negativ und zudem sehr unwahrscheinlich ist (vgl. Bell, 1985). Allerdings scheint das Ausmaß der Enttäuschung stärker durch die vorherige Wahrscheinlichkeitsannahme für das Eintreten eines positiven Ausgangs determinieren zu werden, als durch die Unerwünschtheit des Ausgangs (vgl. van Dijk & van der Pligt, 1997, nach Tykocinski et al., 2002).

[32] Für Frauen sollte die Information über eine Vergewaltigung selbstrelevant und bedrohlich wirken, da sie selbst potentielle Opfer sind. Für Männer sollte eine solche Information selbstrelevant und bedrohlich sein, weil (a) ihnen nahestehende Personen potentielle Vergewaltigungsopfer sind und (b) sie als Mann als „potentielle Vergewaltiger“ angesehen werden könnten (Schwarz, 2002, S.35 und S.88). – Dem Rational von Schwarz (2002) folgend, wäre allerdings der größere Rückschaufehler bei Frauen (gegenüber Männern), den Carli (1999) gefunden hat, ein Hinweis für geringere Selbstwertbedrohung bei Frauen. Der hierin bestehende Widerspruch ist evident.

[33] Zur Kritik an der Operationalisierung der Bedingung ohne Selbstrelevanz durch eine Beobachter-Perspektive aus der Sicht eines „Freundes“ in den Arbeiten von Tykocinski siehe Fußnote 29.

[34] Bei Stahlberg et al. (1999) war der umgekehrte Rückschaufehler bei weiblichen Vpn am deutlichsten ausgeprägt, bei männlichen Vpn wurde die Umkehrung nicht signifikant, der Rückschaufehler allerdings eliminiert. Schwarz (2002, Studie 4) wählte für seine Studie nur weibliche Vpn.

[35] Jochen Musch (2005) hat erst kürzlich die Befunde von Tykocinski anhand zweier realer Ereignisse (Bundestagswahl und Fußball-Weltmeisterschaft) repliziert.

[36] Zum Begriff der Mediatorfunktion und dessen Verwendung in diesem Kontext vgl. das Ende des Abschnitts 2.4.3.4.

[37] Die hier in Anführungszeichen verwendeten Begriffe „vorhersehbar(er)“ und „Vorhersehbarkeitseindruck“ spiegeln die Auffassung von Mark et al. (2003) wider, dass Tykocinski Vorhersehbarkeit erfasst habe. Weiter oben (Abschnitt 2.4.2) wurde bereits ausgeführt, dass Tykocinski und ihre Mitarbeiter/innen eher den Zwangsläufigkeitseindruck gemessen haben.

[38] Vgl. Fußnote 37.

[39] Vgl. Fußnote 37.

[40] Die oben diskutierte Studie von Mark et al. (2003) kann diese Frage deshalb nicht eindeutig beantworten, da durch die Variation der Akteur- vs. Beobachter-Perspektive nicht nur die Kontrolle (und damit das Empfinden von Schuldgefühlen) über den Ereignisausgang, sondern zugleich auch die Selbstrelevanz des Ereignisausgangs variiert wurde. Eine von der Selbstrelevanz getrennte (orthogonale) Manipulation der Kontrolle, die als Voraussetzung für Schuldgefühle (bei negativen, selbstrelevanten Ereignissen) gesehen werden kann, wurde bisher nicht für die Erfassung von Vorhersehbarkeitseindrücken vorgenommen (vgl. aber Tykocinski & Steinberg, 2005, für eine solche Manipulation bei der Erfassung von Zwangsläufigkeitseindrücken, wie noch berichtet werden wird).

[41] Lediglich die erste der vier Studien von Pezzo (2003) wird hier geschildert, da die zweite und dritte Studie keine brauchbaren Vorhersehbarkeits- bzw. Zwangsläufigkeitsmaße umfasst und in der vierten Studie eher neutrale (statt negative) Ereignisausgänge vorkommen.

[42] Pezzo (2003) verwendet dabei ein hypothetisches Zwischensubjekt-Design.

[43] Vergleiche Abschnitt 2.4.1.4 für die problematische Operationalisierung des Rückschaufehlers in den Kontroll- bzw. Experimentalgruppen bei Louie (1999).

[44] Wenn der selbstwertschützende Mechanismus sensu Mark und Mellor (1991) auch bei Ereignissen wirkt, für die sich eine Person nicht verantwortlich fühlt, wäre für die Fans der Gewinner (positiver Ausgang) ein größerer Rückschaufehler-Effekt (im Sinne einer Vorhersehbarkeitseindrucks-Erhöhung) zu erwarten gewesen, als für die Fans der Verlierer (negativer Ausgang) – wohlgemerkt nur, wenn man, wie Pezzo an dieser Stelle, nicht zwischen den Befunden zum Vorhersehbarkeits- und zum Zwangsläufigkeitseindruck differenziert (vgl. Pezzo, 2003, S.426).

[45] Bemerkenswerterweise unterscheidet Pezzo (2003) im Einleitungsteil seines Artikels (S.425f.) zwar z.T. zwischen „foreseeability“ und „perceived likelihood“, lässt diese Unterscheidung allerdings nicht in die Interpretation seiner eigenen Ergebnisse einfließen.

[46] Zu den Enttäuschungs-Ratings bei Tykocinski und Steinberg (2005) ist, wie die Autor/innen auch selbst einräumen, Folgendes anzumerken: Die Enttäuschungs-Ratings wurden nach dem Ereignisausgang vorgenommenen (Postmessung). Wenn der retroaktive Pessimismus wirklich wirkt und seiner Funktion der Enttäuschungslinderung nachkommt, handelt es sich bei den Enttäuschungs-Ratings in der Studie von Tykocinski und Steinberg (2005) also um bereits gelinderte (aber immer noch sehr hohe) Enttäuschungseinschätzungen.

[47] Auch die Anwendung des Before-after-Designs, in dem die Vpn sich in der Rückschau nicht an ihr Präurteil der Zwangsläufigkeit (bzw. Vorhersehbarkeit) erinnern, sondern neue Schätzungen aus ihrem jetzigen Wissenstand heraus angeben sollen, entspricht dem Vorgehen bei Tykocinski (2001).

[48] Es ist allerdings möglich, zu argumentieren, dass die Vpn zwar keine direkte Kontrolle über die (negative) IOC-Entscheidung hatten, dass sie jedoch durch ihr ggf. vorhandenes Engagement bei der Unterstützung der Kandidatur Leipzigs indirekt Kontrolle ausgeübt haben. Zumindest können sich Vpn, die sich stark engagiert haben und somit ein hohes Commitment zeigten, Selbstvorwürfe machen, dass sie soviel Aufwand betrieben haben, um die Kandidatur zu unterstützen, obgleich dies im Endeffekt nicht erfolgbringend war.

[49] Als „commitment-related variables“ (Blank & Nestler, in Druck, Ms. S. 9) wurden unter anderem die folgenden Variablen erhoben: (a) Enttäuschung über die Niederlage, (b) ursprüngliche Einstellung bzgl. der Bewerbung Leipzigs und (c) Ausmaß der Unterstützung der Kandidatur Leipzigs.

Ende der Leseprobe aus 303 Seiten

Details

Titel
Vorhersehbarkeit ist nicht gleich Zwangsläufigkeit?
Untertitel
Der Einfluss der Selbstrelevanz und Kontrollierbarkeit eines negativen Ereignisausgangs auf den Vorhersehbarkeits- und Zwangsläufigkeitseindruck im Kontext des Rückschaufehlers
Hochschule
Universität Leipzig  (Lehrstuhl für Kognitive Sozialpsychologie)
Note
1,1
Autor
Jahr
2005
Seiten
303
Katalognummer
V48421
ISBN (eBook)
9783638451390
ISBN (Buch)
9783640857821
Dateigröße
1829 KB
Sprache
Deutsch
Arbeit zitieren
Jan Hendrik Peters (Autor:in), 2005, Vorhersehbarkeit ist nicht gleich Zwangsläufigkeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48421

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