Er sah das Tönen. Schlafes Bruder - Text und Film


Examensarbeit, 2004

93 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Einleitung

In dem Kapitel „Das Wunder seines Hörens“ beschreibt der Erzähler in Robert Schneiders Schlafes Bruder, wie dem fünfjährigen Johannes Elias Alder auf wundersame Weise ein vollkommenes Gehör geschenkt wird. Es wird wortgewaltig ausgeführt, wie er erst seine nächste Umgebung, dann sein Heimatdorf, dann das Gebirge und schließlich alle Geräusche der Welt auf einmal hört, während sich sein Körper auf unvorstellbare Art und Weise deformiert. Immer unwahrscheinlicher, aber auch immer schillernder wird die Schilderung, die der Erzähler abschließt mit dem Ausruf „Was sind Worte!“.[1] Genau hier befindet sich der Ansatz zu dieser Arbeit: Was sind eigentlich Worte? Was bewirken sie? Und was wird daraus von anderen gemacht?

Zuerst einmal ist zu evaluieren, was ich daraus mache: Ein grundlegendes Verständnis des Romans, der Bilder und Leitmotive bildet die unverzichtbare Basis, weshalb im ersten Teil der Arbeit genau dies im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen wird. Nur von einem klar interpretierten Standpunkt aus können die weiteren Untersuchungen überhaupt erst Sinn machen. Die Worte des Romans selbst also geben einen ersten Hinweis auf die vom Erzähler gestellte und von mir aufgenommene Leitfrage.

Im selben Kapitel wird ein besonderes Detail erwähnt, das in seiner einfachen Struktur dennoch eine Menge spannender Fragen beinhaltet. Elias erweitert in der betreffenden Szene nicht einfach sein Gehör, nein „er sah das Tönen“![2]

Auch wir, die Rezipienten des Werkes, können das Tönen sehen, denn es gibt einen Film zum Buch, oder besser gesagt: nach Motiven aus Schlafes Bruder. Hier setzt der zweite Teil der Arbeit an, wieder geleitet von der Frage, was Worte sind und was aus ihnen gemacht wird. Unweigerlich drängt sich spätestens an dieser Stelle ein Begriff auf, der nicht beiseite geschoben werden kann und soll: Intermedialität. Was passiert mit einem Roman, wenn er in einen Film ‚übersetzt‘ wird? Gibt es eine Hierarchisierung, steht der Roman über dem

Film oder umgekehrt? In welchem Abhängigkeitsverhältnis stehen die beiden Werke zueinander? Neben einer Begriffsbestimmung werden allgemeine Überlegungen zur Literaturverfilmung im Blickpunkt stehen, die am Praxisbeispiel Schlafes Bruder manifestiert werden sollen. Formen der Intermedialität und Thesen zur Verfilmbarkeit von Literatur und zum Begriff „Literaturverfilmung“ werden anhand des vorliegenden Buches und Films diskutiert.

Einige durchaus bekannte und etablierte Ansätze zur Intermedialitätsforschung werden zu Rate gezogen, auf das vorliegende Beispiel angewandt und gewiss auch weiterentwickelt; eine komplette Diskussion aller strittigen Punkte würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und ist auch gar nicht das Thema, da sicherlich anhand eines einzigen Beispiels keine Theorie entwickelt werden kann. Wenn trotzdem hier oder da neue Denkansätze zur Diskussion der Intermedialität und zu einer Theorie der Literaturverfilmung geliefert werden, so ist dies ganz im Sinne des Autors und selbstverständlich begrüßenswert.

Eine interaktive Super-Video-CD, die in jedem DVD-Player abgespielt werden kann und sowohl einige Filmszenen als auch Menüs mit Erläuterungen dazu enthält, komplettiert die Arbeit und liefert zu den schriftlichen Überlegungen die bewegten Bilder. Denn wie schon Robert Schneider schrieb: Was sind Worte!

Erster Teil

»Was sind Worte!«

Das Buch „Schlafes Bruder“

1.1 Einleitende Gedanken zum Roman

1.1.1 Warum „Schlafes Bruder“?

Der Roman Schlafes Bruder ist aus verschiedenen Gründen hervorragend dazu geeignet, exemplarisch zur Verdeutlichung der in dieser Arbeit vorgestellten Denkansätze zum Verhältnis von einem Roman und seiner Verfilmung herangezogen zu werden.

Aus rein pragmatischen Erwägungen heraus steht der Roman bereits ganz oben auf der Liste der möglichen Titel – er ist eine außerordentlich erfolgreiche Neuerscheinung der neunziger Jahre und er ist verfilmt worden. Das allein würde selbstverständlich nicht ausreichen. Darüber hinaus stellt das Buch durch seine komplexe Erzählstruktur, die vielschichtigen Lesarten, die möglich sind, das virtuose Spiel mit der Sprache, der extravaganten Beziehung des Erzählers zu seiner Erzählung und zum Leser sehr hohe Anforderungen bei der Konvertierung des Stoffes in ein anderes Medium und es stellt sich die Frage, ob diese Anforderungen nicht eine zu hohe Hürde darstellen.

Auch der Film selbst drängt sich förmlich auf für eine Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Text und bewegtem Bild. Die für deutsche Verhältnisse extrem aufwändige Produktion, der hohe Werbeaufwand, der namhafte Regisseur und die gute Besetzung lassen – noch unabhängig von der Einschätzung der Qualität des Films –den Schluss zu, dass hier ein Kunstwerk entstanden ist, das zumindest von seinen Rahmenbedingungen her überhaupt eine Chance hat, einem Vergleich mit einem unbestritten guten Buch standhalten zu können; eine Chance, die eine drittklassige, lediglich auf schnellen Kommerz ausgelegte Produktion sicherlich von Anfang an nicht hätte. Der Einwand, ob und wann es überhaupt legitim sei, Buch und Film zu vergleichen und letztendlich miteinander zu messen, sei bereits an dieser Stelle durchaus erlaubt, soll aber zurückgestellt werden, weil genau diese Fragestellung im Rahmen der weiteren Untersuchungen eine entscheidende Rolle spielen wird. Dem soll hier nicht vorgegriffen werden; dass aber Buch und Film, die von gleicher Stoffgrundlage ausgehen, in Zusammenhang miteinander stehen, soll bereits jetzt als ein Axiom verstanden werden.

Als letztes, rein subjektives Argument für die Auswahl genau dieses Romans und Films sei noch gestattet, eine persönliche Wertung einzubringen. Schlafes Bruder ist meiner Ansicht nach eines der besonders beeindruckenden Bücher der neunziger Jahre, ein virtuoses Gesamtkunstwerk, nicht frei von Brüchen und Widersprüchen, aber insgesamt fesselnd und von solcher Faszination, dass kaum ein anderes Werk für mich soviel für das Thema dieser Arbeit hergeben würde.

1.1.2 Eine kurze Rezeptionsgeschichte

Der Debütroman von Robert Schneider ist 1992 auf der Frankfurter Buchmesse die einzige Neuerscheinung des Reclam Verlages Leipzig und wird als Geheim-tipp gehandelt. Die ersten Kritiken sind meist positiv; auch im literarischen Quartett wird Schlafes Bruder besprochen, gewohnt kontrovers diskutiert und dadurch verkaufstechnisch noch weiter gefördert. Bereits im Jahr nach dem Erscheinen ist klar, dass dieser Roman - allein von den Verkaufszahlen betrachtet – ein großer Wurf ist; zu Beginn des Jahres 1998 hat die Gesamt-verkaufszahl bereits 1,4 Millionen Exemplare erreicht. Inhaltlich ist ihm durch die überschwängliche Kritik ähnliches zugestanden worden, sei es durch „Die Zeit“, „Die Presse“, das „Hamburger Abendblatt“ oder die „Frankfurter Rund-schau“.[3] Nicht ausblenden darf man in der Betrachtung der Kritik den zweiten Roman Schneiders, „Die Luftgängerin“ von 1998. Die Kritiker bedachten dieses Werk nun von Beginn an mit großem Interesse, allerdings mit weniger großem Wohlwollen. Die Stimmen waren mehrheitlich negativ und auch der erste Roman wurde relativiert. Dies ist meiner Meinung nach allerdings irrelevant, da Schlafes Bruder wohl nicht aufgrund des Erscheinens eines neuen Buches schlechter geworden ist.

Robert Schneider bekommt für diesen Roman eine Reihe von Literaturpreisen. 1993: Schneider erhält das Robert-Musiel-Stipendium der Stadt Wien; 1994: Literaturpreis der Salzburger Osterfestspiele; Prix Médicis Etranger; 1995: Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt, Premio Itas del Libro di Montagna, Premio Grinzane Cavour .[4]

Durch die Verfilmung von Joseph Vilsmaier schrieb sich die Erfolgsgeschichte des Romans fort. Wenn auch der Film von der Kritik verhalten aufgenommen wurde und auch Schneider selbst ihn als „missglückt“[5] betrachtet, so hat er doch die Verkaufszahlen des Romans noch einmal gefördert.

Eine weitere beachtliche Karriere hat Schlafes Bruder als Schullektüre hinter sich. Als eines der ganz wenigen Bücher der postmodernen Literatur, das Schülern auch vor dem Unterricht schon bekannt ist, hat sich Schlafes Bruder in einem inoffiziellen Kanon als Oberstufenlektüre etabliert. Es gibt bereits eine Menge an Unterrichtsmaterial und Sekundärliteratur speziell für den Schulunter-richt, was diesem Umstand ebenfalls Rechnung trägt.[6]

1.1.3 Zu Inhalt und Figurenkonstellation

Schlafes Bruder erzählt die Geschichte des verkannten musikalischen Genies Johannes Elias Alder, der Anfang des 19. Jahrhunderts in einem abgelegenen österreichischen Bergdorf lebt und sich einer unglücklichen Liebe zu seiner Cousine Elsbeth wegen durch Schlafentzug im Alter von nur 22 Jahren das Leben nimmt.

Elias wächst auf in der abgeschiedenen, von beinahe mittelalterlich rückständigen und von Inzucht geprägten Menschen bewohnten Bergwelt des Dorfes Eschberg, in der es außer harter Arbeit für kargen Lohn kaum Platz gibt für Fortschritt, Gefühle, Menschlichkeit und erst recht nicht für jemanden wie Elias, der, durch geniehafte Begabung beschenkt, eigentlich nur auf der Orgel musizieren will. Neben der Liebe zur Musik ist Elias‘ Leben geprägt durch die Liebe zu dem Mädchen Elsbeth, die allerdings niemals zur Entfaltung kommt.

Die Personentrias, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, besteht aus Elias, dem bereits erwähnten Mädchen Elsbeth und Elias‘ bestem Freund Peter, Elsbeths Bruder. Schon körperlich heben sie sich ab vom Rest der Bewohner; sie sind zwar ebenfalls nicht makellos, aber dennoch lange nicht so sehr beschädigt wie die meisten anderen Bewohner des Dorfes. Während Elias nach seiner Schulzeit als Dorflehrer und Organist von Eschberg arbeitet, wird Elsbeth an einen Bauern verheiratet und Peter übernimmt den elterlichen Bauernhof. Obwohl beide jungen Männer sehr unterschiedlich sind, sind sie miteinander befreundet und bleiben es bis zu Elias‘ Freitod, von dem Peter als einziger weiß.

Das Mädchen Elsbeth ist schon als Kind nicht bloß hübsch und „ein schönes, sehr zierliches Fräulein“ das allein „ihr hübsches Antlitz, dem ein Knollennäschen noch besonderen Charme verlieh“[7] bereits über die grobschlächtigen, mongoloiden Dorfbewohner platziert, nein, darüber hinaus besitzt sie „schon als Mädchen […] einen gewissen Verstand“[8] und ist überhaupt „ein stilles Kind von ausgeglichener Art und gutem Charakter“.[9] Die Eschberger Herkunft kann auch sie allerdings nicht verleugnen, denn zeitlebens behält sie „ein Vulgäres in der Sprache“[10] und hinkt.

Peter, Elsbeths Bruder, ist der körperlich am wenigsten begünstigte der Personentrias:

Peter war kein Mann. Er hatte keinen Bartwuchs, war klein von Gestalt, im Gesicht die Spuren der Blattern, am Körper drahtig. Er hatte krauses Haar, und das unverkennbare Mal war sein verkrüppelter Unterarm. Seine Augen glänzten nußbraun. Es waren schöne Augen, wenn nicht das Licht des Abgründigen in ihnen flackerte.[11]

Auch charakterlich trägt Peter bedenkliche Züge, quält Tiere und ergötzt sich am Schicksal anderer. Empathie zu empfinden ist für ihn schier unmöglich („Aber Peter empfand keine Rührung. Er stand mit offenem Mund, und seine Augen stachen kalt in den da oben.“[12] ). Peter ist homosexuell veranlagt und liebt seinen Freund Elias, gesteht ihm diese Liebe aber niemals ein. Peters Sprachlosigkeit ist beklemmend; selbst als der Vater ihm den Arm bricht, „verbeißt“ er sich den Schmerz.[13]

Erst zum Ende hin findet eine Wendung statt. Während Elias’ Orgelkonzert in Feldberg wird Peter plötzlich zu einem „Mann von strahlender Schönheit“[14] und nach Elias Tod bringt er es im Dorf zu hohem Ansehen und ist auf einmal sogar gut zu seinen Tieren.[15]

Elias wird ambivalent geschildert; „wenngleich er schöne und ebene Lippen besaß“ und „sein Schädel von guten Proportionen gemacht war – eine rare Auffälligkeit im Dorf“[16], so sticht er doch auch durch körperliche Missbildungen aus der Masse heraus; „die grellen Pupillen“[17] tragen dazu bei, aber natürlich auch seine vorzeitige Alterung („Er hatte das Aussehen und die Stimme eines Mannes, aber die Größe eines zehnjährigen Kindes“[18] Doch der Erzähler macht keinen Hehl daraus, dass Elias’ Charakter gut ist, denn dass er im rohen Eschberg nicht schon als Kind zugrunde geht, ist „dem Wesen seines Herzens zuzuschreiben. Es war gut. Es hatte die Kraft zu hoffen.“[19]

Alle anderen Figuren sind neben diesen dreien bestenfalls Randerscheinungen, die dazu dienen, das Rückständige, Grobe und Abartige der Umwelt zu illustrieren.

1.2 Die Leitmotive

1.2.1 Das Motiv „Stein“

Das Romankonzept von Schlafes Bruder ist geprägt von einer Reihe von Leit-motiven, die sich auf vielen verschiedenen Ebenen manifestieren. Auf der untersten Ebene sind dies dingliche Motive, auf die zuerst eingegangen werden soll.

Nicht nur eine Personentrias ist festzustellen, sondern auch drei Einzelmotive, die in ähnlich enger Verbindung zueinander stehen wie die Hauptfiguren. Dies sind Stein, Wasser und Feuer.

Für Elias hat ein vom Wasser im Laufe von Jahrtausenden rundgeschliffener, großer Stein am Bachlauf der Emmer in der Nähe des Dorfes eine große spirituelle Bedeutung. Bereits im Alter von fünf Jahren, als Elias den Vater zum Fluss begleitet, um dort vom Hochwasser übrig gebliebenes Holz zu sammeln, entdeckt er den Stein, oder besser: der Stein entdeckt ihn. Dass dies so ist, möchte der Erzähler dem Leser zumindest nahe legen:

Und dort entdeckte das Kind jenen Ort, genauer gesagt jenen wasserverschliffenen Stein, der ihn auf so unheimliche Art und Weise anzog. Seff war damals aufgefallen, wie das Kind beim Sanden und Schlammen plötzlich innehielt, das Köpfchen nervös von der einen auf die andere Seite warf, als müßte es angestrengt zuhören. Dann stieg und kletterte das Kind gehetzt durchs Unterholz, als würde es von einer unbekannten Macht gerufen. [...] Auch wich es keinen Fußbreit mehr von einem bestimmten Steinvorsprung [...]. Der Stein rief. Elias mußte hinunter.[20]

Der Umstand, dass ein Stein ein Kind „rufen“ kann, dass also die Aktion von der Natur ausgeht und der Mensch in diesem Spiel nur Objekt oder bestenfalls der Reagierende ist, ist bemerkenswert. Er soll an dieser Stelle noch unkommen-tiert bleiben, da erst einmal die Leitmotive besprochen werden sollen, doch in der späteren Betrachtung wird dies noch eine wichtige Rolle spielen (siehe Kapitel 1.2.9).

Nur kurz nach der Entdeckung des Steins findet eine wichtige Zäsur im Leben des Elias statt, die ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Stein steht. Elias hört „das Universum tönen“.[21] In einem vom Autor beinahe zu ausgiebig ausgeweideten Prozess körperlicher Qualen und temporärer Verunstaltungen („Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen“; „Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels“; Die Kiefer traten hervor“ usw.[22] ) bekommt er eine großartige Gabe: das vollkommene Gehör. Dieses Gehör ist leider ver-bunden mit einer „volltönigen Baßstimme“[23], die Elias in der Folgezeit – eben-falls auf dem Stein an der Emmer – versucht zu beherrschen, um die restlichen Menschen des Dorfes nicht jedes Mal in Angst und Schrecken zu versetzen, wenn er etwas sagen will.[24]

Auch Jahre später ist der Stein von Bedeutung. Das Mädchen Elsbeth ist nun dreizehn Jahre alt und macht die erste gemeinsame Wanderung mit Elias, der sie an seinen Lieblingsort führt. Elsbeth erkennt die Besonderheit des Ortes nicht („Was ist an diesem Stein denn Sonderbares?“[25] ), der wie eine versteinerte Fußsohle Gottes wirkt, der dort die Erde betreten haben könnte[26], doch Elias erläutert es ihr und weiht sie ein in die Geheimnisse seiner Stimme und seiner Fähigkeiten, andere Stimmen und Geräusche zu imitieren. Elias glaubt, dass sich Elsbeth in diesen Stunden an diesem, an seinem Ort in ihn verliebt hat, doch der Erzähler wischt diesen Eindruck sofort wieder beiseite, indem er bemerkt, dass „nur ein wirklich Liebender [...] sich so grausam irren“ kann.[27]

Lange spielt der Stein ansonsten aber während des Fortganges der Handlung keine Rolle mehr, im Gegenteil. Es ist auffällig, dass Elias an einer weiteren, entscheidenden Zäsur seines Lebens gerade nicht den Stein aufsucht, wie man es wohl hätte erwarten können. Als nämlich ein Schauprediger den Ort aufsucht und nicht nur von hemmungsloser Inzucht predigt, sondern auch davon, dass man nicht lieben könne, während man schläft[28], reift in Elias langsam der Ge-danke heran, ebenfalls auf diese Art und Weise seine unendliche Liebe zu Elsbeth unter Beweis zu stellen, wenn es auch noch lange hin ist bis zum wahrhaften Erkennen und Umsetzen dieser Entwicklung. Nichtsdestotrotz aber will Elias Gott danken für diese Eingebung, doch er geht nicht dorthin, wo er sich Gott am nächsten fühlt und wo er glaubt, dass der Übergang von diesem Leben in den Himmel stattfindet[29], sondern er geht „ins Gebirg“.[30] Ein interessanter Hinweis versteckt sich hinter dieser Tatsache, denn bei dieser weitreichenden Beeinflussung des Elias, die letztendlich sein Scheitern verursacht, ist Gott nicht im Spiel. Ganz klar deutet das Fehlen des Symbols der Verbundenheit zwischen Gott und Elias, nämlich der Stein, darauf hin.[31]

Konsequenterweise aber inszeniert Elias seinen Tod bei eben diesem Stein. Interessant hier die Formulierung seiner Ankunft; Peter und Elias nämlich „gelangten schließlich heim, genauer gesagt: zum wasserverschliffenen Stein“[32], „dem Ort, an dem alles begonnen hatte und nun alles enden sollte“.[33] Mehr als Eschberg, mehr als seinen Hof, die Orgel oder die Dorfschule ist Heimat aus Sicht des Erzählers für Elias der Stein. Hier vollzieht sich sein qualvoller Tod. Ein letztes Mal wird das Motiv vom Stein zum Ende der Ge-schichte ins Auge des Betrachters gerückt. Einige Jahre nach Elias‘ Verschwin-den (vom Tod weiß schließlich nur Peter, der es aber aufgrund seines Ver-sprechens geheim halten muss) besucht Elsbeth mit ihren Kindern den Ort, an dem der Stein lag, muss aber feststellen, dass er, obwohl er doch seit Jahr-tausenden „unbeweglich und majestätisch wie eh und je“[34] dort lag, nun nicht mehr da ist. Mit Elias ist auch das – natürliche – Leitmotiv seines Lebens verschwunden.

Ein zweites steinernes Symbol ist der so genannte „Petrifels“. Während der wasserverschliffene Stein positiv besetzt ist, ist der Petrifels Sammelpunkt für alle negativen Ereignisse und interessanter Weise der Platz von Elias‘ bestem Freund und gleichzeitigem Widersacher Peter: Nachdem ihm der Vater den Arm gebrochen hatte, zieht sich Peter hierhin zurück, „Sitzt dort seit wer weiß wie lange, sitzt wie eine Kröte“[35] und schmiedet hier den Plan, ein Feuer zu legen, um den Vater umzubringen.[36] Der Meistenteils, der für den Brandstifter gehalten wird, wird nach einer Treibjagd ebenfalls in der Nähe des Petrifelses umgebracht. Dort ist auch der Ort, wo man der Legende nach Hexen sehen konnte, von denen eine dort sogar gehaust haben soll.[37] Die erste Erwähnung findet der Fels beim Tode des Feuerpredigers Elias Benzer, der von dort abstürzt, wobei nicht klar ist, ob es sich um Selbstmord handelte oder um einen Unfall.[38] Dann spielt das „unheilige[ ] Pendant“[39] zum wasserverschliffenen Stein bei der Demütigung der Burga, die von Peter und Elias zum Felsen gelockt wird und sich dort entkleidet, weil sie ihren Geliebten dort vermutet, eine wichtige Rolle.[40] Ganz zum Schluss des Romans beschließt Peter, den Leich-nam des Elias in der Nähe des Petrifelsens am Hirschweiher zu vergraben, weil Elias einmal zu Elsbeth gesagt hatte, dass von diesem Ort aus die Menschen aus Eschberg in den Himmel kommen, doch in Wirklichkeit meinte Elias natür-lich den wasserverschliffenen Stein.[41] Doch es ist nur konsequent, dass Peter ‚seinen‘ eigenen Ort wählt, um „seinen heimlichen Geliebten“[42] zu begraben.

1.2.2 Das Motiv „Feuer“

Ein zweites Leitmotiv des Romans ist das Feuer. Insgesamt gibt es drei Feuer in Eschberg; allein diese Zahl ist sicherlich nicht ohne Hintergedanken gewählt, ist sie doch eine der ‚biblischen‘ Zahlen und auch Feuer als Motiv an sich entbehrt nicht christlicher Parallelen, wenn man allein an das Fegefeuer denkt.

Das Erste Feuer legt Peter am Heiligen Abend des Jahres 1815 und will damit seinen Vater töten, der ihm zuvor den Arm gebrochen hat. Er scheint auch tatsächlich nur den Hof des Vaters angezündet zu haben („Das Anwesen des Nulf Alder stand in schreienden Flammen“[43] ), doch

Der Feuerteufel ging durchs Dorf und hieß den Föhn, der endlich verstummt war, eiligst auferstehen, sein Horn nehmen und mit prallen Backen in die Ritze jener Tenne blasen, wo das gedemütigte Kind den Heustock angezündet hatte.[44]

Durch den Wind allerdings wird das Feuer über die gesamte Nordflanke des Dorfes verbreitet, zerstört fünfzehn Höfe und tötet insgesamt sechs Menschen und ungefähr hundert Tiere. Acht Familien verlassen daraufhin das Dorf.

Das Zweite Feuer bricht einige Jahre nach Elias‘ Tod aus; man erfährt nicht genau, in welchem Jahr und aus welchem Anlass das Feuer beginnt, zu wüten, jedoch sind die Ausmaße verheerend: Diesmal – in Steigerung zum Ersten Feuer – wird fast das ganze Dorf und auch die Kirche zerstört. Bis auf gerade einmal dreizehn Menschen begreifen alle anderen, „daß Gott sie hier niemals gewollt hatte“[45] und verlassen Eschberg. Die menschlichen Verluste sind allerdings deutlich geringer als beim ersten Feuer: Nur der gelähmte Seff wird nicht gerettet und verbrennt in seinem Haus.

Bis auf einen einzigen Menschen kommen die im Dorf verbliebenen im Dritten Feuer am 5. September 1892 um, das scheinbar völlig unvermittelt ausbricht und „in weniger als einer Stunde“[46] das gesamte Dorf vernichtet; hier wird die Steigerung der Zerstörungskraft von Feuer zu Feuer noch einmal deutlich.

In allen drei Fällen ist das Feuer ein Symbol für Zerstörungskraft und Rache. Ist der Auslöser des Ersten Feuers das Kind Peter, der sich an seinem Vater rächen will, so tauchen bereits hier wieder biblische Motive auf („Feuerengel“[47] ) und bei allen drei Feuern weist der Erzähler darauf hin, dass Gott den Men-schen niemals in Eschberg gewollt habe.

Die beinahe apokalyptische Auslöschung des Bergdorfes macht noch einmal deutlich, dass die Parallele zu einem biblischen Fegefeuer nur allzu offen-sichtlich ist. Der Sündenpfuhl Eschberg wird vernichtet und dem Fegefeuer entkommt niemand; denn auch wenn es einen einzigen Überlebenden gibt, so nur deshalb, weil die Natur „fast respektvoll den erbärmlichen Tod ihres letzten Bezwingers abgewartet“[48] hat, um sich nun zurückzuholen, was ihr von den Menschen genommen wurde. Man sieht hier, dass es zumindest eine Schnitt-menge bei den Begriffen „Natur“ und „Gott“ gibt; beides ist nicht klar vonein-ander getrennt.

Neben diesen drei großen Feuern taucht das Leitmotiv noch in manch anderen Zusammenhängen auf. Der erste im Buch erwähnte Kurat in Eschberg, der so genannte „Feuerprediger“ Elias Benzer, hat als Kind die letzte Hexenver-brennung noch miterlebt und macht dieses Ereignis „zum Grundpfeiler seiner Theologie schlechthin“.[49] Seine Predigten sind so feurig, dass sie die Dorfbe-wohner schließlich dazu anstacheln, eine der Hexerei verdächtige Frau beinahe zu verbrennen. Der Kurat selbst ist auch nicht zimperlich und bringt während einer Messe ein Pulverfass zur Explosion, was mehrere Menschen schwer verletzt.

Ein Mensch aber wird in Eschberg tatsächlich verbrannt: der Meistenteils, der für das Erste Feuer verantwortlich gemacht wird, auch wenn die Lynchjustiz genau weiß, dass er nicht der Brandstifter war. Die Bauern brauchen einen Schuldigen und finden ihn in dem andersartigen, ihnen suspekten Gelegen-heitsdichter, der so gar nicht in das Dorf passen mag, der nur „wie die größte Studiertheit daherreden“ und „weibisch herumstolzieren“ kann, ein „Schulden-macher und Antichrist“.[50] Schreiend kommt der Meistenteils schließlich in den Flammen um und es wirkt beinahe wie (göttliche?) Vergeltung, dass der An-treiber der Mörderbande, Seff Alder, im Zweiten Feuer als einziger umkommt. Selbst die Beschreibung des Todes des Peter, sechzehn Jahre nach Elias‘ Ableben, kommt nicht ohne einen Hinweis auf dieses Leitmotiv aus, denn er stirbt am „Sankt-Antonius-Feuer“, einer Art Vergiftung.[51]

Immer wieder, dies wird spätestens jetzt klar, ist Feuer eine Metapher für Rache, Vergeltung und Tod, die sich konsequent durch den Roman zieht.

1.2.3 Das Motiv „Wasser“

Einen Gegensatz zu Feuer bildet das Wasser. Auch das Wasser ist eine wich-tige Metapher in Schlafes Bruder, das einen sehr konsequenten Gegenpart zum Feuer spielt. Dies wird bereits zu Beginn deutlich, wo der Kurat bei der Taufe von Elias und Peter nicht nur die Kraft des Wassers mit der des Feuers ver-gleicht[52], sondern sich als „Feuerprediger“ sogar vom dem natürlich mit Wasser begangenen Taufakt zu fürchten scheint.[53]

Wasser bedeutet Leben und Beständigkeit, wohingegen Feuer für Tod und Vergeltung steht. Nach der Explosion des Pulverfasses vor der Kirche überlebt Haintz nur deshalb, weil das Gras vom Tau noch feucht ist und er sich darin wälzt[54] und der einzige Überlebende des Dritten Feuers, Cosmas Alder, ver-dankt diesen Umstand seinem feuchten Keller, in dem er die Nacht verbracht hat.[55]

Auch auf die ganze Bevölkerung Eschbergs ist dieser Gegensatz anwendbar, denn als einzige Fluchtmöglichkeit vor dem Feuer bleibt das Flussbett der Emmer (S. 11), die gleichzeitig auch den (Flucht-) Weg aus dem Dorf ins Tal bedeutet für all diejenigen, die ihr Hab und Gut im Feuer verloren haben.[56]

Dass Feuer und Wasser niemals gleichzeitig existieren können, beweist auch die Beschreibung der Natur, denn vor dem Feuer ist die Emmer lediglich ein kleines Rinnsal.[57]

Dass Wasser trotzdem für Beständigkeit und den Lauf des Lebens steht, wird ebenfalls an mehreren Stellen deutlich: Seit Jahrtausenden zum Beispiel schliff Wasser Elias‘ Lieblingsstein, das Wasser des „unerschöpflich herabstürzenden“ Flüsschens Emmer.[58] Elias findet am Ufer des Baches immer dann Trost, wenn er über sich und sein Leben und Lieben nachdenkt. Dass sich auch Verän-derungen im Bach spiegeln, wird deutlich im anderen Bachlauf, den die Emmer sich mit ihren Hochwässern gräbt[59] und natürlich auch ganz zum Schluss, wo Elsbeth entdeckt, dass das letzte Hochwasser den eigentlich auf ewig unver-rückbar erschienenen Stein[60] des Elias fortgespült zu haben scheint.[61]

So sind letztendlich alle dinglichen Elemente (Feuer, Wasser und Stein als pars pro toto für Erde) in der Erzählung vorhanden und auch hier ist die Zahl drei ein retardierendes Moment in Schlafes Bruder, so wie es drei Hauptpersonen oder drei Feuer gibt.

1.2.4 Das Motiv „Dorf“

Der Mittelpunkt des Geschehens, das Dorf Eschberg, wird äußerst ambivalent dargestellt. Der Erzähler versäumt nicht, den Eindruck des Rückständigen, Minderwertigen, Barbarischen und Brutalen auch in der Schilderung des Dorfes zu verfestigen. Beispiele dafür gibt es genug; um nur einige wenige herauszu-greifen:

„Als 1912 Cosmas Alder, der letzte Bewohner von Eschberg, einem Bergdorf im mittleren Vorarlberg, auf seinem verwahrlosten Hof verhungert war“[62]

„Trotzdem wäre es in allem vertane Zeit, die Geschichte der Eschberger Bauern zu beschreiben, das armselige Einerlei ihres Jahreslaufs, ihre bösen Händel, ihren absonderlich fanatischen Glauben, ihren nicht zu übertreffenden Starrsinn gegen die Neuerungen von draußen“[63]

Es ist eine Anklage wider Gott, dem es in seiner Verschwenderlaune gefallen hatte, die so wertvolle Gabe der Musik ausgerechnet über ein Eschberger Bauernkind auszugießen, wo er doch hätte absehen müssen, daß es sich und seine Anlage in dieser musiknotständischen Gegend niemals würde nutzen und vollenden können.“[64]

Auch Versuche, z.B. der Dorfbewohner selbst, ihrem Ort etwas Schönes ange-deihen zu lassen, sind zum Scheitern verurteilt. Beinahe genüsslich malt der Erzähler diese kleinen Niederlagen der Menschen aus und wer zynischen Humor mag, wird hier sogar lachen:

Das Fest begann mit einem Amt im Freien. Den Altarbezirk umgab ein lieblich gesteckter Blumenteppich aus Margeriten- und Löwenzahnblüten. In den Teppich waren die beiden Worte AVE MARIA gewirkt worden, doch hatte sich nachts eine Kuh in der Kirchenbündt herumgetrieben und nun klebte auf dem Buchstaben «R» eine fette, saftige Klatter. […] Der Kurat versuchte, den Buchstaben wieder herzustellen. Das rochen die Ministranten und hoben bei der Wasserreichung ihre Nasen wenig demutsvoll von den Händen des Kuraten ab. In allem, es war ein ergreifendes Hochamt […]“[65]

Auf der anderen Seite gewinnt dieses verwahrloste, ärmliche und hinterwäld-lerische Dorf durch die Geburt eines Genies eine zweite Seite. Das abgelegene, weltfremde Eschberg wird geradezu zum Mittelpunkt der Welt. Zwei Belege mögen hierfür sprechen: Als Elias am wasserverschliffenen Stein sein Gehör bekommt, öffnet sich sein akustisches Bewusstsein beinahe in konzentrischen Kreisen; angefangen bei sich selbst („Er sah das Summen seines eigenen Bluts, das Knistern der Haarbüschel in den Fäustchen“), dann weiter zu seiner näheren Umgebung, als „stülpte sich gleichsam […] ein riesenhaftes Ohr über den Flecken, auf dem er lag“; jetzt hört Elias das Herzschlagen des Vaters und die Geräusche vieler anderer Menschen im Dorf und in der Umgebung. Doch es geht noch weiter, er hört irgendwann sogar weit entfernte Laute bis hin zu den Ozeanen der Welt und zum „Schall des Lichtes“.[66] Würde man dieses Ereignis als Bild darstellen, so müsste Eschberg in der Mitte liegen, von wo aus sich kreisförmig das akustische Bewusstsein des Elias über die gesamte Welt ausbreitet, gleich einer frühmittelalterlichen Karte, die Jerusalem als Zentrum der kreisförmig dargestellten Welt annimmt.

Ein zweiter Umstand verstärkt die Wahrnehmung Eschbergs als besonderen Platz auf Erden. Zum Ende hin, nach dem Tod des Elias, wird der Fortbestand der Welt vom Erzähler selbst stark relativiert:

Wir schließen die Blätter unseres Büchleins über Johannes Elias Alder. Was kommt, ist von Unerheblichkeit. Es ist das Zu-Ende-Erzählen einer nunmehr unbedeutenden Welt.[67]

Den Gegensatz von abgeschiedenem Dorf vs. Weltmittelpunkt hält die Er-zählung aus, weil nur durch diese Spannung das Leben des Elias so scheitern kann, wie es – scheinbar von Gott gewollt – geplant war. Es kommt auf die Perspektive an, aus der man Eschberg betrachtet. Für sich betrachtet stimmt das oberflächliche Bild eines armen Bauerndorfes, doch wenn man Wert auf die Menschen (oder hier: den einzigen Menschen) legt, die etwas bewegen können, dann ist es durchaus legitim, den Lebensmittelpunkt des größten Musikers aller Zeiten auch zum – musikalischen – Mittelpunkt der Welt zu (v)erklären.

Wie auch immer man zu dieser Erzähltechnik stehen mag – dass aber das armselige Eschberg als Kulisse seines Lebens der Figur des Elias noch mehr Tiefe verleiht, ist unbestritten. Darauf wird in Kapitel 1.2.7 auch noch einmal detaillierter Bezug genommen werden.

Weitere für den Inhalt des Werkes wichtige Motive finden sich in einigen nicht-dinglichen Gegensatzpaaren, die ebenfalls wichtige Botschaften tragen. Gemeint sind die drei Gegensätze Liebe ßà Musik, Liebe ß à Tod und Sprachlosigkeit ß à Schreien. An diesen Gegensatzpaaren hängt quasi die gesamte Erzählung, sie kann nur durch deren Existenz überhaupt funktionieren.

1.2.5 Sprachlosigkeit vs. Schreien

Angefangen bei der verbalen Kommunikation fällt auf, dass besonders oft eben nicht mit Worten kommuniziert wird. Die Sprachlosigkeit der Bewohner von Eschberg ist ganz offensichtlich und soll im Folgenden anhand mehrerer Per-sonen dargestellt werden.

Schon bei der Geburt des Elias fehlen die Worte; Seff, der Vater, redet nicht mit seiner vor Schmerzen schreienden Frau, sondern steht am Fenster und schaut hinaus in der Hoffnung, die Hebamme möge endlich erscheinen:

Er wandte sich zum Fenster und riß es so mächtig auf, daß davon das halbe Zimmer in Vibration geriet. […] Das Fenster zu öffnen schien der einzige Trost, den er seinem Weib geben konnte. Seff war kein Redner. […] Dann sah er sie (die Hebamme, Anm. d. Aut.) ungläubig wirklich aus der Kurve treten, wie sie sich mit ihrem roten Lederkoffer und den geschulterten Gurten heraufplackte. Sein Bub, sah er, lief hinterdrein. Seff schob das Fenster zu, ging zu seinem Weib, blickte in den Wasserkrug auf dem Kästchen, goß das unberührte Glas randvoll, wog die Tür und erdachte seinem Weib ein In-Gottes-Namen. Er hätte ihr sagen mögen, daß die Ellensöhnin gekommen sei. Seff war kein Redner.[68]

Die Hebamme ist auch nicht viel besser, hängt nur eigenen Gedanken nach und macht sich „freudlos und ohne die längst gebotene Eile“[69], vor allem aber ohne mit der werdenden Mutter auch nur ein Wort zu reden, ans Werk.

Auch die Mutter reiht sich ein in die lange Liste der Schweigenden:

Zwischenzeitlich unterließ die Seffin alles, was einer günstigen Entwicklung ihres frühreifen Jungen hätte förderlich sein können. Sie sprach nicht mit ihm, stellt die Suppe vor die Gadentür, wie man einer Katze die Milch hinstellt.[70]

Als Haintz Lamparter seinen Nachbarn Seff um Land betrügt und von beiden Parteien immer wieder der Zaun hin und her versetzt wird, geschieht auch dies, ohne dass die Nachbarn ein Wort miteinander reden.[71]

Nicht verwunderlich, dass auch die Freundschaft zwischen Elias und Peter schweigend begründet wird. Während die anderen Kinder Elias, der im Gaden eingesperrt lebt, verhöhnen, steht Peter passiv dabei und sieht nur zu. Später steht er einfach nur schweigend unter Elias’ Fenster und lässt ihn nicht allein:

Zwei Winter lebte Elias im Gaden eingesperrt. Hie und da kam Peter, stand schweigend unterm Fenster, stierte hinauf und ging wieder. Nulf, der Vater, Seffs Bruder und Todfeind, vermochte ihm diese Besuche nicht auszutreiben, nicht einmal durch blutige Prügel. Peter kam, schwieg und ging wieder. Die Jungen sprachen kaum drei Worte miteinander.[72]

Als Elias klar ist, dass Peter das Erste Feuer gelegt hat, wird die Sprachlosig-keit der beiden, die Unfähigkeit gerade des Elias, sich der Situation gemäß zu artikulieren, noch einmal ganz deutlich:

Elias wischte sich den Mund, bewegte die Lippen, wollte reden. Sie schwiegen. Und wieder bebten Elias’ Lippen, er mußte reden, mußte ihm wenigstens ein Wort geben, ein Wort. Sie schwiegen. Peter jedoch fühlte mit Gewißheit, daß der Freund ihn niemals verraten würde.

Dieser schweigend besiegelte Pakt hält ein Leben lang, und so wie Elias seinen Freund nicht verrät, verrät auch Peter bis zu seinem eigenen Tod nichts über Elias’ Ableben. Auch die weitere Freundschaft kommt ohne viele Worte aus. Bis zum Ende hin schafft es der homosexuell veranlagte Peter nicht, Elias seine Liebe zu offenbaren. Dies wird noch einmal verdeutlicht, als Elsbeth an Lukas verheiratet wird und Peter ihm vorwirft (ein Vorwurf, mit dem er Recht hat!), nie Manns genug gewesen zu sein, Elsbeth den Hof zu machen. Elias entgegnet daraufhin: „Hast du es je versucht? […] Hast du mir je dein Begehren eröff-net?“[73]

Tatsächlich bleibt aber zu konstatieren, dass auch Elias in dieser Hinsicht nicht viel besser ist als der Rest von Eschberg, denn trotz seiner schier unendlichen Liebe zu Elsbeth und vieler Gelegenheiten schafft er es niemals, ihr seine Liebe zu eröffnen. Bei Elsbeth hätte er durchaus Chancen gehabt. Zwar will der Er-zähler den Leser zu einem frühen Zeitpunkt der Erzählung noch dahingehend überzeugen, dass es niemals eine Chance für Elias gab, wenn er während des Ausflugs mit dem damals dreizehnjährigen Mädchen in einem Moment strenger Auktorialität die gegenseitige Liebe negiert und behauptet:

[...]


[1] Schlafes Bruder (im Folgenden SB), S. 38.

[2] SB, S. 36.

[3] Siehe die entsprechenden Beiträge in: Moritz, Rainer (Hg.): Über »Schlafes Bruder«. Materialien zu Robert Schneiders Roman, Leipzig 1996.

[4] Steets, Angelika: Robert Schneider, Schlafes Bruder. Interpretation, München 1999, S. 8 f.

[5] Steets, Interpretation, S. 9.

[6] Siehe dazu ebenfalls: Steets, Interpretation, S. 99 ff.

[7] SB, S. 100.

[8] SB, S. 100.

[9] SB, S. 99.

[10] SB, S. 101.

[11] SB, S. 122.

[12] SB, S. 44.

[13] SB, S. 72.

[14] SB, S. 173.

[15] SB, S. 201.

[16] SB, S. 94.

[17] SB, S. 94.

[18] SB, S. 53.

[19] SB, S. 53.

[20] SB, Seite 32 f.

[21] SB, S. 34.

[22] SB, S. 35.

[23] SB, S. 39.

[24] SB, S. 55 und S.57 f.

[25] SB, S. 108.

[26] SB, S. 107.

[27] SB, S. 109.

[28] SB, S. 103.

[29] SB, S. 109.

[30] SB, S. 103.

[31] Aufkommende Zweifel daran, dass Gott die Schuld am Scheitern des Elias trägt, sind berechtigt. In Kapitel 1.2.9 wird die Schuldfrage umfassend diskutiert.

[32] SB, S. 187.

[33] SB, S. 189.

[34] SB, S. 107.

[35] SB, S. 72.

[36] Dies war das sog. „Erste Feuer“ in Eschberg, dem der nördliche Teil des Dorfes zu Opfer fiel. Zwei weitere Feuer sollten folgen.

[37] SB, S. 110.

[38] SB, S. 29 f.

[39] Steets, Interpretation, S. 82.

[40] SB, S. 123 f.

[41] SB, S. 199.

[42] SB, S. 200.

[43] SB, S. 77.

[44] SB, S. 76.

[45] SB, S. 202.

[46] SB, S. 10.

[47] SB, S. 76.

[48] SB, S. 10.

[49] SB, S. 20.

[50] SB, S. 82 f.

[51] SB, S. 201.

[52] SB, S. 28.

[53] SB, S. 29.

[54] SB, S. 26.

[55] SB, S. 11.

[56] SB, S. 80.

[57] SB, S. 68 und 71.

[58] SB, S. 55 und 203.

[59] SB, S. 107.

[60] SB, S. 107.

[61] SB, S. 203.

[62] SB, S. 10.

[63] SB, S. 12 f.

[64] SB, S. 13.

[65] SB, S. 48 f.

[66] Alles zitiert aus dem Kapitel „Das Wunder seines Hörens, S. 36 ff.

[67] SB, S. 199.

[68] SB, S. 14 f.

[69] SB, S. 15.

[70] SB, S. 44.

[71] SB, S. 58.

[72] SB, S. 46 f.

[73] SB, S. 152.

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Er sah das Tönen. Schlafes Bruder - Text und Film
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Germanistisches Institut)
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
93
Katalognummer
V48199
ISBN (eBook)
9783638449717
Dateigröße
673 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tönen, Schlafes, Bruder, Text, Film
Arbeit zitieren
Christian Brune (Autor:in), 2004, Er sah das Tönen. Schlafes Bruder - Text und Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48199

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