Ein Vergleich: Der Warschauer Aufstand von 1944 und Der 'Großpolnische Aufstand' von 1918


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

27 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Ein Vergleich: Der „Großpolnische Aufstand“ von 1918 und der Warschauer Aufstand von 1944

Einleitung

Am 27.12.1918 brach in der deutschen Ostprovinz Posen ein militärischer Aufstand los, der den Polen de facto die Herrschaft in der Provinz sicherte. Er hat einen für Polen so hohen nationalen Stellenwert wahrscheinlich deshalb erreicht, weil er seit der Teilung Polens der einzige Aufstand war, der mit einem Sieg der polnischen Seite endete. Militärisch gesehen war der „Großpolnische Aufstand“ unzweifelhaft ein Erfolg. Bei den Pariser Friedensverhandlungen 1919 bekam Polen den größeren Teil der Provinz Posen zugesprochen, was auch für einen politischen Erfolg des Aufstandes spricht. Die Frage nach der Notwendigkeit des Posener Aufstandes ist nicht Gegenstand dieser Hausarbeit.

Im Gegensatz zum Posener Aufstand stellte der Warschauer Aufstand von 1944 eindeutig eine Katastrophe in der polnischen Militärgeschichte dar. Als am 1. August 1944 in Warschau der Aufstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft losbrach, geschah dies wie 1918 gegen ein militärisch schwer angeschlagenes Deutschland. Ein Deutschland, das sich nicht im Vollbesitz seiner Kräfte befand. Der Versuch, vor dem Einmarsch der Sowjets in Warschau polnische Hoheitsansprüche geltend zu machen, war in weiten Teilen ein Wiederholungsversuch des Aufstandes von 1918. Militärisch endete der Aufstand mit einer fürchterlichen Niederlage der polnischen Seite und der bewussten Zerstörung Warschaus durch die SS.

Im Gegensatz zum Aufstand von 1918 war die polnische Führung offenbar von falschen Erfolgsaussichten ausgegangen oder hatte keine Alternative zum bewaffneten Aufstand gesehen. Die hohen Opferzahlen von 150000-220000 erzwingen eine kritische Hinterfragung des Aufstandes. Es ist jedoch nicht Schwerpunkt dieser Arbeit, die fürchterlichen Gräueltaten und Auswüchse der Nazis in Warschau zu dokumentieren. Die Behandlung der Polen in der Nazizeit - und insbesondere während des Warschauer Aufstandes - stellen ein umfangreiches Kapitel für sich dar. Ziel dieser Arbeit ist es, die unterschiedlichen Ausgangspositionen zwischen dem Warschauer und dem Posener Aufstand aufzuzeigen und anhand dieser Darstellung auf die Kernfrage dieser Arbeit einzugehen:

Bestand bei dem Warschauer Aufstand eine reale Möglichkeit auf Erfolg ?

Den Deutschen sind die polnischen Führungspersonen der damaligen Zeit mit Sicherheit keine Rechenschaft über den Aufstand schuldig. Doch ihren eigenen Landsleuten gegenüber müssen die Führer des Aufstandes Rechenschaft ablegen. Nicht nur über den Sinn und Zweck des Aufstandes, sondern auch über die Erfolgschancen. Nur so kann über eine mögliche Schuld der Aufstandsführung entschieden werden.

I. Der „Großpolnische Aufstand“ von 1918

1. Militärische und politische Ausgangsposition beim Ausbruch des Aufstandes 1918

Nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 war für die Polen die Gelegenheit für die Wiederherstellung eines eigenen Staates gekommen. Die Bildung eines polnischen Staates war Inhalt der 14 Punkte Wilsons, auf dessen Basis alle Fragen bezüglich der Nachkriegsordnung in Europa behandelt wurden. Punkt 13 versprach den Polen einen eigenen unabhängigen Staat, doch gab es keine klare Angabe, wo die Grenzen des zukünftigen polnischen Staates verlaufen sollten. Im Punkt 13 heißt es, die Gebiete sollten an Polen fallen, in denen es unzweifelhaft polnische Bevölkerung gab. Das war jedoch keine für die Praxis eindeutige Formulierung, denn viele Gebiete im Osten des Deutschen Reiches wiesen eine große Mischung der Bevölkerung auf, in manchen überwog der Anteil der Deutschen, in anderen die polnische Bevölkerung.

Die polnischen Führungsschichten betrachteten umfangreiche Gebietsabtretungen als historische Gerechtigkeit und wollten ihre Maximalforderungen um jeden Preis durchsetzen.

Die deutsche Reichsregierung wies alle polnischen Forderungen zurück und betonte den deutschen Charakter der Gebiete. Durch die jahrzehntelange Herrschaft Preußens seien die Gebiete deutsch geworden, die deutsche Kultur habe sich in den Ostgebieten festgesetzt. Außerdem stelle in vielen Gebieten die deutsche Bevölkerung die Mehrheit, schon deshalb könnten diese Gebiete nicht von Deutschland abgetrennt werden.

Da die deutsche und die österreichisch-ungarische Regierung im November 1916 das Königreich Polen auf dem Boden der eroberten russischpolnischen Gebiete wiederhergestellt hatten, existierte zum Zeitpunkt des militärischen Zusammenbruchs der Mittelmächte bereits ein polnischer Staat. Im Herbst 1918 versuchte die deutsche Seite zunächst, die Grenzfragen bilateral mit Polen zu regeln, da man auf ein Einlenken der Polen hoffte.

2. Die Haltung der Ententemächte bezüglich der deutschen Ostgrenze

a) Frankreich

Frankreich betrachtete Polen als potentiellen Bundesgenossen gegen Deutschland. Den Franzosen war klar, dass Deutschland nicht für immer am Boden gehalten werden konnte. Es mussten Vorkehrungen getroffen werden, da Deutschland auch in Zukunft der Hauptgegner im Kampf um die Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent sein würde. Aus diesem Grund brauchte man unbedingt einen starken Bündnispartner im Rücken Deutschlands. Das zaristische Russland, welches diese Funktion in der Vergangenheit eingenommen hatte, war weggefallen. Da an ein Zusammengehen mit den Sowjets in den ersten Nachkriegsjahren nicht zu denken war, musste eine starke Macht im Rücken Deutschlands geschaffen werden. Für diese neue Rolle als Bündnispartner bot sich Polen an, und es war daher im Interesse Frankreichs, dass Polen so viele deutsche Gebiete wie möglich bekam. Das französische Verhältnis zu Polen definierte sich fast ausschließlich über das Verhältnis zu Deutschland, nicht aus einer gewachsenen Freundschaft zu Polen. Eine gleichberechtigte Rolle als Bündnispartner wollte Frankreich Polen nicht gewähren, da man für die Zukunft auf Russland als Bündnispartner hoffte.[1]

b) Großbritannien

Die Briten wollten Frankreich auf keinen Fall zur dominierenden Macht auf dem Kontinent werden lassen. Sie wollten ein Gleichgewicht der Mächte auf dem Kontinent wahren, was bedeutete, dass Deutschland nicht zu sehr geschwächt werden durfte.[2] Denn durch den Wegfall Österreich-Ungarns und den Zusammenbruch des Zarenreiches würde eine zu starke Schwächung Deutschlands zu einer dominanten Stellung Frankreichs in Kontinentaleuropa führen. England wollte einen polnischen Staat, brauchte ihn aber nicht als Bundesgenossen und hatte somit kein großes Interesse daran, Polen mächtig werden zu lassen. Auch erregten ehrgeizige polnische Forderungen nach einer Großmachtstellung Lloyd George, den englischen Premierminister. Er sprach in diesem Zusammenhang von den kleinen Raubstaaten, die die Schwäche der Kriegsverlierer nutzen wollten, um imperialistische Ansprüche zu stellen.[3] Ihm war klar, dass Deutschland auf jeden Fall versuchen würde, ungerechtfertigte Grenzziehungen im Osten zu revidieren. Und das konnte einen neuen Krieg bedeuten.

c) USA

Für die USA unter Präsident Wilson galt es als oberstes Gebot, den Frieden für die Zukunft zu sichern, und dies hoffte man mit Hilfe des Völkerbundes zu erreichen. Ein Krieg wie der 1. Weltkrieg sollte für die Zukunft unmöglich gemacht werden. Jedes Volk sollte in die Lage versetzt werden, frei über sich selbst zu bestimmen. Neben gerechten und guten Vorsätzen standen Wilson und die amerikanische Verhandlungsdelegation bei den Pariser Gesprächen unter starkem Einfluss des polnischen Nationalkomitees mit Sitz in Paris und wurden bedrängt von ca. 4 Millionen wahlberechtigten polnischstämmigen Amerikanern. Da war es nicht einfach, Deutschland Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, vor allem, da sich teilweise gleichberechtigte Ansprüche gegenüber standen.

3. Die innerpolnischen Verhältnisse: Dmowski contra Pilsudski

Verhandlungen mit Deutschland wurden auf polnischer Seite durch den Machtkampf zwischen polnischen Sozialisten und Nationaldemokraten erschwert, die beide die Führung des zukünftigen polnischen Staates für sich beanspruchten.

a) Sozialisten

Der Führer der polnischen Sozialisten und vorläufige Staatschef von Polen, Pilsudski, hatte sich im Krieg auf die Seite der Mittelmächte gestellt und bei einem Sieg der Mittelmächte auf eine Ostausdehnung des polnischen Staates gehofft: Der „Jagiello-Pfad“ sah vor, Gebiete aus Litauen, Estland, Ukraine und Weißrussland entweder in einer Föderation oder durch Annektion an Polen anzugliedern. Gebietsansprüche im Westen waren bis zu Kriegsende nicht vorgesehen. Aus diesem Grund hoffte die deutsche Reichsregierung zu einer bilateralen Einigung mit Pilsudski zu gelangen, die keine Gebietsabtretungen vorgesehen hätte. Entgegen deutscher Hoffnungen war Pilsudski nach Kriegsende aber nicht bereit, auf Gebietsforderungen im Westen zu verzichten, da dies innenpolitisch einem Selbstmord gleichgekommen wäre. Ein Gebietsverzicht wäre vom politischen Gegner sofort als Verrat am Heimatland ausgelegt worden. Die sozialistische Regierung unter Pilsudski mit Sitz in Warschau strebte nach Kriegsende ein positives Verhältnis zum Deutschen Reich an, denn Pilsudski war sich der Abhängigkeit der polnischen Wirtschaft von der deutschen bewusst. Er hoffte mit der Reichsregierung in Berlin bezüglich der Ostgebiete zu einer Einigung zu gelangen und war gegen eine gewaltsame Abtrennung deutscher Ostprovinzen vor den Pariser Friedensverhandlungen. Der Versuch einer Einigung war jedoch zum Scheitern verurteilt, da die deutsche Reichsregierung unter keinen Umständen Gebiete im Osten an Polen abzutreten bereit war. Außerdem standen die Nationaldemokraten und Frankreich allen bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und Polen argwöhnisch gegenüber und versuchten sie zu torpedieren.

b) Nationaldemokraten

Die Führer der Nationaldemokratischen Partei, Paderewski und Dmowski, standen im 1.Weltkrieg auf Seiten der Gegner Deutschlands und vertraten die „Piastkonzeption“ : Dieser Plan sah eine Westausdehnung Polens vor und richtete sich gegen Deutschland und seine Ostgebiete. Nach Kriegsende nahmen beide politischen Lager sowohl den „Jagiello- Pfad“ als auch die „Piastkonzeption“ in ihr politisches Programm auf, um maximale Gebietsabtretungen für Polen zu erreichen. Vertreter beider Parteien träumten von einer zukünftigen Großmachtstellung Polens.

Vor allem ging es bei der Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern um Macht. Die Sozialisten waren in den östlichen Gebieten Polens stark vertreten, während die Nationaldemokraten in den deutschen Ostgebieten ihre Hochburgen hatten. Sie waren es auch, die die Vorbereitungen für den „Großpolnischen Aufstand“ forcierten und sich für die Schaffung von Tatsachen im Vorgriff zu den Friedensverhandlungen stark machten.

Pilsudski als vorläufigem Staatschef von Polen mit der Hauptstadt Warschau standen nicht nur die Nationaldemokratische Partei Polens gegenüber, sondern auch das Polnische Nationalkomitee. Zudem wurden die Nationaldemokraten auch von der Mehrheit der 4 Millionen in Amerika lebenden Polen unterstützt. Das bedeutete einen enormen Einfluss zugunsten der Nationaldemokraten in internationalen Angelegenheiten. Die alliierten Regierungen favorisierten Dmowski und die Nationalliberalen, da sie Angst vor möglichen Kommunisten hinter Pilsudski hatten. Frankreich wollte das polnische Nationalkomitee mit Sitz in Paris als de facto Regierung Polens anerkennen und die Regierung um Pilsudski in Warschau übergehen.

Am 16.1.1919 erzwangen die Alliierten, dass Pilsudski seinen politischen Gegner Paderewski zum Regierungschef ernannte.[4] Da Amerika mit der sofortigen Einstellung der dringend benötigten Hilfslieferungen drohte, gab Pilsudski nach. Die Regierungszeit Paderewskis endete jedoch schon im Herbst 1919, unmittelbar nachdem die Amerikaner ihr Hilfsprogramm für Polen eingestellt hatten.

4. Der Verlauf des „Großpolnischen Aufstandes“

Der Aufstand war nicht das Werk eines Augenblicks wütender Empörung gegen die deutsche Herrschaft in Posen, sondern wurde von den polnischen Nationaldemokraten in Posen sorgfältig geplant. Als die Räte im Zuge der Novemberrevolution die Macht im Deutschen Reich übernahmen, erreichten die Polen in Posen durch geschicktes Taktieren und durch Drohungen die Mehrheit in den meisten Räten. Offiziell wurde eine paritätische Verteilung der Räte propagiert, um der Reichsregierung keinen Grund für ein militärisches Einschreiten zu liefern. Intern wurden vor allem in Posen Stadt die Vorbereitungen für einen militärischen Aufstand getroffen. Die POW, die militärische Geheimorganisation der Polen in den deutschen Ostgebieten, fing im November 1918 verstärkt an, Waffenlager anzulegen und versuchte, von der Westfront heimkehrende polnische Rekruten unter Waffen zu halten.

Während die Vorbereitungen der Reichspolen für den Aufstand auf Hochtouren liefen, war die deutsche Regierung daran interessiert, zu einer zügigen Einigung mit Polen zu gelangen, um die Frage der Ostgebietsabtretungen aus dem Friedensvertrag herauszuhalten. Am 18.11.1918 erkannte die deutsche Reichregierung unter Prinz Max von Baden den polnischen Staat offiziell an und entsandte einen Botschafter nach Warschau. Problematisch für die Reichsregierung war, dass mehrfach Absprachen zwischen der Reichsregierung und Warschau von den Nationaldemokraten torpediert wurden, die in ihren Bemühungen von Paris volle Unterstützung erhielten. Im Dezember verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Warschau und Berlin, und in der Weihnachtszeit 1918 brach die polnische Regierung in Warschau den Kontakt zur Reichsregierung ab. Dies ist in erster Linie auf den Druck Frankreichs und der Nationaldemokraten zurückzuführen, die eine polnische Annäherung an Deutschland nicht wollten.

Am 27. Dezember traf der populäre nationaldemokratische Politiker Paderewski in Posen ein und wurde von der polnischen Bevölkerung in Posen begeistert empfangen. Die deutsche Bevölkerung der Stadt Posen verschanzte sich in den Häusern und sah besorgt dem Einzug Paderewskis zu, der einem Triumphzug ähnelte. Als wenig später deutsche Truppen zur Sicherung deutscher Interessen in Posen eintrafen, eskalierte die Situation und ging von polnischer Seite in den offenen Aufstand über. Da die deutschen Truppen auf den Aufstand nicht genügend vorbereitet und aus Berlin keine eindeutigen Befehle für den Fall eines Aufstandes ergangen waren, gelang es den polnischen Aufständischen schnell, die Kontrolle über große Teile der Provinz zu gewinnen. Auf deutscher Seite herrschte ein Befehlschaos, und viele deutsche Soldaten ließen sich ohne Widerstand von den Polen entwaffnen. Beschuldigungen von polnischer Seite, Provokationen und Übergriffe deutscher Truppen wären der Grund für den Aufstand gewesen, können ins Reich der Fabeln verwiesen werden. Der Aufstand war von polnischer Seite seit Wochen geplant, benötigte aber nach Außen hin eine Legitimation. Möglicherweise gab es Provokationen der deutschen Truppen, doch können sie nur der Auslöser und nicht der Grund für den Aufstand gewesen sein.[5]

So uneinheitlich die Abwehrmaßnahmen der deutschen Truppen waren, so einheitlich war die Forderung in den meisten Reichstagsparteien nach der Wiederherstellung der deutschen Oberhoheit in Posen. Freikorpsverbände wurden ausgehoben, die sich heftige Schießereien mit den Aufständischen lieferten, und die Führung der Reichswehr arbeitete Pläne zu Wiedereroberung von Posen aus. Doch sah man schließlich von einem Einmarsch der Reichswehr ab, da man sich zum einen noch nicht für ausreichend vorbereitet hielt und zum anderen die Ententemächte Deutschland vor einer Eskalation des Konflikts warnten.[6] Am 16.2.1919 wurde von den Alliierten die Demarkationslinie festgelegt, die den Polen de facto die vorläufige Anerkennung ihrer Eroberungen bestätigte. Die Reichsregierung musste zähneknirschend nachgeben und versuchen, auf Verhandlungswegen das zu erreichen, was man militärisch im Augenblick nicht erreichen konnte. Doch wurden die Verbände in den anderen deutschen Ostprovinzen verstärkt, damit sich ein solcher Aufstand nicht wiederholen konnte.

5. Nach dem Aufstand

Nach dem Posener Aufstand nahmen die Reichsregierung und die Pilsudskiregierung in Warschau die Verhandlungen wieder auf. Da sich die polnische Wirtschaft in einem katastrophalen Zustand befand, wurden Wirtschaftsabkommen mit Deutschland immer dringlicher. Die deutsche Seite hoffte weiterhin auf ein Entgegenkommen der Polen in den Gebietsfragen. Mit einer Erklärung der polnischen Regierung, in der sie darauf hinwies, dass Veränderungen der Bestimmungen des Friedensvertrages auszuschließen seien, zerstörten sich die deutsche Hoffnungen auf einen Gebietsverzicht der Polen endgültig. Im November 1919 erhielt die polnische Regierung in Warschau von der polnischen Delegation in Paris ein Schreiben, in der die Verlegung aller Verhandlungen zwischen Deutschland und Polen von Berlin nach Paris gefordert wurde. Die Teilnehmer Polens an den Pariser Friedensverhandlungen wurden von den Nationaldemokraten gestellt. Mit dem Schreiben verfolgten sie den Zweck, bilaterale Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und Pilsudski zu beenden und damit das Machtgefüge zugunsten der Nationaldemokraten zu verschieben. Pilsudski beugte sich dem Druck der Nationaldemokraten und Alliierten, was ein Ende der bis dahin relativ eigenständigen deutsch-polnischen Verhandlungen bedeutete. Die Verhandlungen wurden bis zu den Pariser Friedensverhandlungen fast ausschließlich unter Einfluss und Vermittlung der Entente geführt.

Als der Reichsregierung klar wurde, dass es keine bilaterale Einigung mit der polnischen Regierung geben werde und die Polen an ihren Maximalforderungen festhalten würden, ging sie politisch und wirtschaftlich in die Offensive. Da die Abtretung von Elsass-Lothringen als sicher galt, wurde die Grenzfrage im Osten zur nationalen Überlebensfrage hochstilisiert, und fast alle politischen Lager in Deutschland waren sich einig, dass die Ostgebiete um keinen Preis an Polen fallen durften.[7]

Im Pariser Friedensvertrag fielen Teile der Provinzen Westpreußen, Oberschlesien und Posen an den polnischen Staat. Auf deutscher Seite blieben Revisionsbestrebungen und Revanchegelüste gegenüber Polen, die ihr höchstes Ausmaß während des Warschauer Aufstandes erreichen sollten.

II Der Warschauer Aufstand von 1944

1. Die militärische Lage an der Ostfront Anfang August 1944

Im Gegensatz zum Posener Aufstand von 1918 befand sich das Deutsche Reich 1944 noch im aktiven Kriegszustand an allen Fronten. Unter dem heftigen Angriffen der 1.,2., und 3. weißrussischen und 1. baltischen Front war die deutsche Heeresgruppe Mitte im Osten am 3. Juli 1944 völlig zusammengebrochen. Diese fürchterliche Niederlage stellte die deutsche Niederlage bei Stalingrad weit in den Schatten.[8] In der deutschen Öffentlichkeit wurde sie jedoch unter dem Eindruck der Invasionskämpfe in Frankreich und danach wegen des Attentates auf Hitler kaum zur Kenntnis genommen. Durch die sowjetische Sommeroffensive 1944 waren russische Truppen mehrere hundert Kilometer weit nach Westen vorgestoßen und erreichten Ende Juli Warschau. Eilig führten die Deutschen Verstärkungen nach Warschau heran, um der Roten Armee vor Warschau entgegenzutreten zu können. Die Verstärkungen erreichten Warschau just in dem Moment, als der Aufstand kurz vor dem Ausbruch stand.

2. Die polnische Seite und die Haltung der Alliierten

Der Erfolg des Warschauer Aufstandes war in hohem Maße abhängig von der Haltung der drei großen Alliierten. Russland, England und Amerika sollten 1944 als Gegner Deutschlands die natürlichen Verbündeten der Polen darstellen. Die Polen mussten jedoch erfahren, dass für ihre „Verbündeten“ die polnische Sache nicht den gleichen Stellenwert hatte, wie für sie selbst.

a) Die Haltung der Angloamerikaner

Vor allem die Haltung der Amerikaner war 1944 von größeren Dimensionen als der des Warschauer Aufstandes bestimmt. Amerika kämpfte als einziges Land der Alliierten an zwei großen Fronten und hatte bei der Pazifikoffensive gegen die Japaner enorme Verluste erlitten, Verluste, die vor den amerikanischen Medien und der amerikanischen Öffentlichkeit gerechtfertigt werden mussten. Aus diesem Grunde waren viele außenpolitische Entscheidungen Roosevelts innenpolitisch motiviert.

Roosevelt war klar, dass eine europäische Nachkriegsordnung nur im Einvernehmen mit der Sowjetunion zu erreichen war. Um militärische Unterstützung im Pazifik zu erhalten, versuchte er, die Sowjets zum Kriegseintritt gegen die Japaner zu bewegen. Aus diesem Grunde konnte er das wichtige Bündnis mit den Russen nicht wegen der Polenfrage aufs Spiel setzen.[9] Anderseits musste er sein Verhalten einigen Millionen polnischstämmigen Amerikanern gegenüber rechtfertigen, die traditionell die demokratische Partei wählten. Er wollte die polnischstämmigen Wähler nicht verärgern. Priorität besaß aber das Bündnis mit der Sowjetunion.

Während Roosevelt auch während des Warschauer Aufstandes einen Schmusekurs gegenüber Stalin fuhr, hegte Churchill starke Antipathien gegen die sowjetische Haltung. Sowohl auf sowjetischer, als auch auf der englischen Seite bestand die permanente Angst vor einem Separatfrieden der anderen Seite mit den Deutschen. Churchill und Stalin beschuldigten sich gegenseitig immer wieder, einen Separatfrieden mit Nazideutschland anzustreben.[10] Die Atmosphäre zwischen beiden war über weite Strecken des Bündnisses gekennzeichnet von gegenseitigem Misstrauen. Auch die Amerikaner gerieten nach kurzer Zeit in den Strudel gegenseitiger Vorhaltungen und Unterstellungen. Obwohl keine Seite ernsthaft einen Frontwechsel zu den Nazis in Betracht zog, blieb die Möglichkeit als permanente Angst beider Seiten bestehen. Allen Beteiligten war klar, dass dieses Bündnis zwischen den zwei kapitalistischen Großmächten und der Sowjetunion kein Freundschaftsbündnis war. Es war ein gegen Nazideutschland gerichtetes Zweckbündnis.

Trotz großer Sympathien für die Polen während des Warschauer Aufstandes war auch Churchill nicht bereit, wegen der Polenfrage einen Bündnisbruch mit der Sowjetunion zu riskieren.[11]

b) Die sowjetische Haltung

Die Russen sahen sich bis zur Invasion in der Normandie berechtigterweise der Hauptlast des Krieges mit Nazideutschland ausgesetzt. Durch ihre katastrophalen militärische Misserfolge standen sie 1941 und 1942 vor dem Problem, von den Westmächten nicht als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden. Erst durch die erfolgreichen Abwehrkämpfe im Winter 1942 und der Sommeroffensive 1943 erzwangen sie eine Anerkennung als gleichberechtigter Partner.

Stalin bestand unwiderruflich auf der nach dem 1. Weltkrieg festgelegten „Curzonlinie“ als russische Westgrenze.[12] Die Einsprüche der polnischen Exilregierung hinsichtlich der „Curzonlinie“ wollte er übergehen, denn er wusste sich am längeren Hebel. Die Westmächte sahen sich außerstande seine Forderungen abzulehnen, beruhte die „Curzonlinie“ doch auf dem Vorschlag des britischen Außenministers Curzon aus dem Jahre 1918. Die russische Seite verlangte im Grunde nur, was ihr seit 1918 rechtmäßig zustand. Darauf wies Stalin bei den Verhandlungen immer wieder hin.

Ganz bewusst hatte Stalin kommunistische Exilpolen in Moskau gefördert und zu einer Gegenbewegung zur exilpolnischen Regierung in London aufgebaut. Die moskautreuen Exilpolen akzeptierten die „Curzonline“ und befürworteten eine Ostanlehnung eines Nachkriegspolens. Dies waren Dinge, die die polnische Exilregierung Mikolajczyk in London auf das Schärfste ablehnte. Stalin erkannte den Warschauer Aufstand sehr wohl als gegen ihn gerichtet und dachte nicht im Traum daran, dem Aufstand zum Erfolg zu verhelfen. Im Gegenteil, der Aufstand durfte unter keinen Umständen Erfolg haben. Denn bei einer polnischen Hoheit über Warschau ließen sich russische Machtansprüche in Polen nur noch sehr schwer durchsetzen.

c) Die polnische Haltung

Unter den Exilpolen gab es zwei unterschiedliche Orientierungsrichtungen. Die Mehrzahl der Exilpolen war nach der polnischen Niederlage 1939 nach Westeuropa geflohen und befürwortete eine Westanbindung Polens nach einem alliiertem Sieg. Ihr Vertreter war die polnische Exilregierung unter Ministerpräsident Mikolajczyk mit Sitz in London. Der Exilregierung war die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa = AK) unter dem Kommando von General Sosnkowski unterstellt. Die im polnischen Untergrund operierende Heimatarmee war Nachfolgerin der regulären polnischen Armee von 1939 und fungierte als militärischer Arm der Exilregierung. Die Anzahl der Mitglieder der AK ist nicht eindeutig bekannt. Sie wird für den Sommer 1944 auf ca. 350000 Mitglieder für den polnischen Raum geschätzt, wobei der Schwerpunkt der AK nicht in Warschau, sondern in Krakau lag. Die Zahl der AK-Angehörigen dürfte für den Raum Warschau die Zahl von 50000 nicht überschritten haben.[13] Die meisten Mitglieder waren vor dem Aufstand ihren erlernten Berufen nachgegangen, und nur ein kleiner Teil hatte sich aktiv als Partisanen betätigt. Die AK war keine 350000 Mann starke Armee unter Waffen.

Der Mehrheit westorientierter Polen stand eine Minderheit ostorientierter Polen gegenüber, die eine spätere Anlehnung Polens an die Sowjetunion wollten. Sie wurden in ihrem Bemühen von Stalin unterstützt, der Ende Juli 1944 eine polnische Schattenregierung in Lublin gründete. Es handelte sich hierbei um das „Lubliner Komitee“, welches eine spätere Ostanbindung Polens garantieren sollte.

Entscheidend für den Warschauer Aufstand waren die westorientierten Polen um Ministerpräsident Mikolajczyk, da die sowjetisch orientierten Polen einen Machtanspruch Moskaus nicht zu fürchten hatten.

Im Zuge der sowjetischen Sommeroffensive wurde der exilpolnischen Regierung um Ministerpräsident Mikolajczyk klar, dass die Russen und nicht die Engländer und Amerikaner die Deutschen aus Polen vertreiben würden. Wollte man nicht in sowjetische Abhängigkeit geraten, wurde die Dringlichkeit nach eigenen militärischen Aktionen immer größer. Um eine politische Eigenständigkeit und eine spätere Westanbindung Polens zu erreichen, mussten unbedingt eigene militärische Erfolge bei der Befreiung Polens erreicht werden.

Diese Erfolge sollten durch die Aktion „burza“ (Gewittersturm) erreicht werden. Dieser Plan beruhte auf einem Vorschlag des Oberkommandierenden der polnischen Truppen, General Rowecki. Der Plan sah im Zuge des deutschen Rückzuges und eines zu erwartenden sowjetischen Einmarsches eine stufenweise Erhebung gegen die Deutschen vor. Bei einer ausschließlich sowjetischen Befreiung der Gebiete befürchtete man, dass sowjettreue Polen unter Stalins Regie die Macht in Polen an sich reißen würden. Mikolajczyk war bekannt, dass die moskautreuen Exilpolen die „Curzonlinie“ als polnische Ostgrenze akzeptiert hatten. Diesen Gebietsverlust galt es um jeden Preis zu verhindern. Stalin wurde nicht als Freund angesehen, sondern von der exilpolnischen Regierung als Feind Nr.2 betrachtet.[14] Das Dilemma der westorientierten Polen war, dass sie keine russische Herrschaft in Polen wollten, für eine Befreiung Polens aber sowjetische Hilfe brauchten. Die Russen sollten nach dem Willen der Mikolajczykregierung die Drecksarbeit machen. Kurz vor einem zu erwartenden Einmarsch der Roten Armee sollten polnische Einheiten die Kontrolle über diese Gebiete an sich reißen. Die Frage war nur, ob Stalin dieses Spiel nach polnischen Regeln mitspielen würde.

[...]


[1] Holzer, Jerzy: Das Ende des Ersten Weltkrieges, Deutschlands Zusammenbruch und die erste

Wiederherstellung des polnischen Staates, S. 9, In: Nordost-Archiv, Zeitschrift für Regionalgeschichte:

Wendepunkte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert: 1918-1939-1945-1990, Neue Folge

Band II/ 1993 Heft 1, S. 7-19

[2] Holzer, S. 9

[3] Gerson, Louis L: Woodrow Wilson and the rebirth of Poland 1914-1920, Hamden, 1. Auflage, 1972, S. 131

[4] Gerson, S. 107

[5] Vogt, Dietrich: Der Großpolnische Aufstand 1918/1919, Berichte, Erinnerungen, Dokumente, Marburg/Lahn,

1. Auflage, 1980, S. 57

[6] Schattkowsky, Ralph: Deutschland und Polen von 1918/19 bis 1925: deutsch-polnische Beziehungen zwischen

Versailles und Locarno, Frankfurt am Main u.a., 1. Auflage, 1994, S. 41

[7] Nitsche, Peter: Der Reichstag und die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze nach dem Ersten Weltkrieg,

S. 360, In: Historische Zeitschrift Bd. 216, 1973, S. 335-361

[8] Gruchmann, Lothar: Der Zweite Weltkrieg, Kriegführung und Politik, München, 7. Auflage, 1982, S. 253

[9] Martin, Bernd u.a.: Der Warschauer Aufstand 1944, Warschau, 1. Auflage, 1999, S. 40

[10] Martin, S. 41

[11] Martin, S. 193

[12] Fischer, Alexander u.a.: Teheran, Jalta, Potsdam, sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der

„Großen Drei“, Köln, 1. Auflage, 1968, S.83

[13] Roos, Hans: Geschichte der Polnischen Nation von 1918-1985. Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart, 4. Auflage, 1986, S. 202

[14] Krannhals, Hanns von: Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 1962, S. 100

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Ein Vergleich: Der Warschauer Aufstand von 1944 und Der 'Großpolnische Aufstand' von 1918
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (für Geisteswissenschaften)
Veranstaltung
Hauptseminar: Deutsch-polnische Nationalitätenkämpfe in der Provinz
Note
1,7
Autor
Jahr
2001
Seiten
27
Katalognummer
V47938
ISBN (eBook)
9783638447706
Dateigröße
627 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Hausarbeit ist nach einer 10-tägigen Exkursion zu den betreffenden Orten (Führerhauptquartier Wolfsschanze, Warschau, Marienburg usw.)und umfangreichen Recherchen vor Ort zustande gekommen. Sie wurde als mit etwas schlechter als 1 bewertet, da der Dozent meinte, mein Schlussurteil über die Drahtzieher des Warschauer Aufstands sei etwas zu hart ausgefallen. Ansonsten sei diese Arbeit aber eine glatte 1,0 mit sehr guter Recherche und Quellenverwertung.
Schlagworte
Vergleich, Warschauer, Aufstand, Großpolnische, Aufstand, Hauptseminar, Deutsch-polnische, Nationalitätenkämpfe, Provinz
Arbeit zitieren
Roland Bernecker (Autor:in), 2001, Ein Vergleich: Der Warschauer Aufstand von 1944 und Der 'Großpolnische Aufstand' von 1918, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47938

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