Der implizite Leser in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy


Seminararbeit, 2005

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorüberlegungen

2. Die Teilnehmer einer narrativen Kommunikationssituation

3. Differenzierung der Leser in Gruppen

4. Funktionen des Lesers
4.1 Der Leser als Gesprächspartner
4.2 Der Leser als kreative Kraft
4.3 Der Leser als Schüler

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Vorüberlegungen

„[R]eading is arguably a far more creative and imaginative process than writing; when the reader creates emotion in their head, or the colours of the sky during the setting sun, or the smell of a warm summer’s breeze on their face, they should reserve as much praise for themselves as they do for the writer – perhaps more.”[1] Die Figur Akrid Snell aus Jasper Ffordes Roman The Well of Lost Plots widerspricht mit ihrer These der weit verbreiteten Auffassung, wonach Autoren die alleinigen Produzenten von literarischen Texten seien. Stattdessen macht sie deutlich, dass literarische Texte erst durch das Lesen zum Leben erwachen. Ob man der Kreativität des Lesers nun mehr, genauso viel oder weniger Bedeutung beimisst als der des Autors, ändert nichts an der Tatsache, dass Literatur Leser braucht, um existieren zu können. Schlomith Rimmon-Kenan formuliert diese Prämisse folgendermaßen: „There is one end every text must achieve: it must make certain that it will be read; it’s very existence, as it were, depends on it.”[2]

Obwohl die meisten Schriftsteller wohl schreiben, damit ihre Texte gelesen werden, thematisieren sie in ihren Werken die Rezeption nur selten. Ein Roman, der sich hingegen intensiv mit dem Leser auseinandersetzt, ist Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman[3] (1760-67). Aimed Ben-hellal schreibt dazu: „No other novel has conferred on the concept of readership such centrality, and nowhere is the writer-reader relationship dwelt upon with such emphasis.”[4]

In dieser Arbeit soll folgender Frage nachgegangen werden: Welche Rolle spielt der implizite Leser in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy ? Dazu muss zunächst geklärt werden, was unter einem impliziten Leser zu verstehen ist und welche Instanzen noch an einer narrativen Kommunikationssituation teilnehmen. Im Anschluss wird untersucht, welche Rückschlüsse mit Hilfe der Funktionen, die der Erzähler den fiktiven Lesern, den so genannten Narratees, überträgt, auf die implizite Leserschaft gezogen werden können.

2. Die Teilnehmer einer narrativen Kommunikationssituation

Bei der Analyse von literarischen Texten reicht es nicht, nur Autor und Leser zu unterscheiden. Sowohl auf der Sender- als auch auf der Empfängerseite des Kommunikationsprozesses gibt es mehrere Instanzen. Dem realen Autor, im Falle von Tristram Shandy also Laurence Sterne, entspricht auf der Ebene des Werkganzen der so genannte implizite Autor. Seymor Chatman beschreibt ihn als das Prinzip, das den Erzähler und alle anderen Bestandteile der Erzählung erfunden habe.[5] Rimmon-Kenan nennt den impliziten Autor „governing consciousness of the work“[6]. Er sei verantwortlich für die Gestaltung des Ganzen und stelle die Quelle der Normen dar, die dem Werk zugrunde liegen.[7] Er müsse vom realen Autor unterschieden werden, denn im Gegensatz zu diesem bleibe der implizite Autor an das eine Werk gebunden. Der reale Autor hingegen könne weitere Bücher schreiben, seinen Standpunkt ändern bzw. von vornherein ganz anderer Meinung sein als der implizite Autor usw.

Das Gegenstück des impliziten Autors ist der implizite Leser. Er sei nicht deckungsgleich mit dem realen Leser, sondern entspreche dem Publikum, wie es der Text voraussetze, schreibt Gerald Prince.[8] Wolfgang Iser definiert den impliziten Leser folgendermaßen: Er besitze „keine reale Existenz; denn er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet.“[9] Das Konzept des impliziten Lesers bezeichne eine Textstruktur, durch die der Empfänger immer schon vorgedacht sei.[10]

Obwohl sie sich beide auf einer Ebene befinden, kann Seymor Chatman zufolge der implizite Autor dem impliziten Leser nichts mitteilen: „He, or better, it has no voice, no direct means of communicating. It instructs us silently, through the design of the whole [….]”[11] Die Rolle des Erzählens übernimmt stattdessen der auf der Ebene des Erzählvorgangs angesiedelte Erzähler. Er richtet seine Geschichte an den so genannten Narratee. „The narratee is sometimes fully personified, sometimes not. In any case, the narratee is the agent addressed by the narrator [….]”[12]

Bei Tristram Shandy sind diese Instanzen häufig nicht klar voneinander zu trennen. Die Erzählerfigur Tristram Shandy ist so gestaltet, dass sie kaum vom impliziten Autor zu unterscheiden ist. Tristram tritt nicht nur als Erzähler, sondern gleichzeitig als Autor seiner Lebensgeschichte auf. Heike Maybach zufolge verwischen sogar die Grenzen zwischen Erzähler und realem Autor: „[J]edes einzelne Wort scheint durch den Kunstgriff der fiktiven Autobiographie nicht aus Sternes Feder, sondern aus Tristrams zu stammen.“[13]

Ebenso fällt es oft schwer, Narratee, impliziten und realen Leser auseinander zu halten.[14] Der reale Leser wird sich an der ein oder anderen Stelle angesprochen fühlen, wenn Tristram mit einem Narratee spricht. Die Art, wie der Erzähler mit den Narratees umgeht, gibt wiederum Aufschluss darüber, was der implizite Autor vom impliziten Leser erwartet, denn die Narratees fungieren auf der Ebene des Erzählvorgangs ja selbst als Leser. Rimmon-Kenan erklärt diesen Zusammenhang am Beispiel des als „Madam“ bezeichneten Narratees, der von Tristram zurechtgewiesen wird, weil er seiner Meinung nach nicht aufmerksam genug gelesen habe (I, 20): „Madam is thus to be distinguished from the implied reader [...] whose attentive perusal of the novel is thereby indirectly solicited.“[15]

3. Differenzierung der Leser in Gruppen

Die Narratees und Tristrams Umgang mit ihnen sind also entscheidend für die Antwort auf die Frage nach der Rolle des impliziten Lesers. Wo in anderen Romanen ein Narratee auftritt, sind es bei Tristram Shandy ungleich mehr. Clive T. Probyn schreibt:

„Tristram addresses the reader approximately three hundred and fifty times during the course of the book, as ‘My Lord’, ‘Jenny’, ‘Madam’, ‘your worship’, ‘my dear anti-Shandeans, and thrice able critics, and fellow labourers… subtle statesman and discreet doctors’ […] for example.”[16]

Doch diese vielen Leseridentitäten[17] sind nicht von Beginn an präsent. Erst im Verlauf des Romans wird die anfangs abstrakte und homogene Lesergruppe immer weiter differenziert. Im ersten Kapitel nennt Tristram seine Leser noch „good folks“ (I, 1), diese Ansprache gilt für alle gleichermaßen. Im Anschluss teilt er die Menschen in Leser und Nicht-Leser auf: „I know there are readers in the world, as well as many other good people in it, who are no readers at all […]” (I, 4). Die durch ihre Tätigkeit des Lesens definierte Gruppe wird im Folgenden in weitere Teilgruppen aufgespaltet. Tristram unterscheidet zum Beispiel neugierige und weniger interessierte Leser:

„To such, however, as do not choose to go so far back into these things, I can give no better advice, than that they skip over the remaining part of this chapter; for I declare beforehand, ’tis wrote only for the curious and inquisitive.” (I, 4)

Hier wird deutlich, dass er die Leser nicht nur in verschiedene Gruppen sortiert, sondern sich auch jeweils die Gruppe aussucht, die ihm am meisten zusagt. In diesem Fall sollen die Leser neugierig sein, in einem anderen Fall zieht er christliche Leser anderen Lesern vor:

„I told the Christian reader – I say Christian – hoping he is one – and if he is not, I am sorry for it – and only beg he will consider the matter with himself, and not lay the blame entirely upon this book –“ (VI, 33)

Noch deutlicher wird dieses Vorgehen in den Passagen, die in einer anderen Sprache als der englischen verfasst sind. Kapitel 20 des ersten Buches zum Beispiel besteht zum größten Teil aus zwei auf Französisch geschriebenen Briefen. Die Fußnoten in der Erzählung des Sklavenbergius (IV) sind in Latein verfasst und im Gegensatz zur Geschichte selbst, die teilweise auch in Latein erzählt wird, nicht übersetzt. Während nicht-christliche Leser die auf sie bezogenen Einschränkungen ignorieren und die entsprechende Textstelle trotzdem lesen können, bleiben die auf Französisch oder Latein geschriebenen Passagen dem Unkundigen verschlossen. Er kann sie zwar lesen, aber nicht verstehen. Die Sprache wird auf diese Weise zum mächtigsten Ausschlusskriterium.

Am Ende dieses Prozesses der immer stärkeren Differenzierung steht die Unterscheidung einzelner Narratees. Spätestens dann, wenn Tristram sein Gegenüber mal als „Sir“ (z.B. I, 2; I, 6) und mal als „Madam“ (z.B. I, 4; I, 20), mal als „My Lord“ (z.B. I, 9) und mal als „fellow-labourers“ (I, 21) anspricht, wird deutlich, dass sein Publikum sehr heterogen ist. Diese sehr individuellen, sich zum großen Teil widersprechenden Leseridentitäten erschweren es dem realen Leser, sich mit dem impliziten Leser zu identifizieren. Andererseits wird die Aufmerksamkeit des realen Lesers aber auch auf diesen gescheiterten Identifikatiosversuch gelenkt. Heike Maybach schreibt dazu: „Durch die impliziten Instanzen wird dem Leser vermittelt, daß er gegen manche der fiktiven Leser [ Narratees ] lesen muß, um adäquat rezipieren zu können“.[18]

4. Funktionen des Lesers

Dem Leser werden in Tristram Shandy vom impliziten Autor und der von ihm eingesetzten Instanz des Erzählers verschiedene Funktionen übertragen. Wie im Folgenden dargelegt, fungiert der Leser beispielsweise als Tristrams Gesprächspartner, der ihm zugleich ein guter Freund sein soll. Außerdem assistiert er dem Erzähler beim Schreiben seiner Geschichte und übernimmt dabei zeitweise Aufgaben des Autors. Ab und zu steht der Leser Tristram als Schüler gegenüber, dem der Erzähler Wissen vermittelt. All diese Rollenzuschreibungen spiegeln Anforderungen wider, die ein literarischer Text an seine impliziten und realen Leser stellt.

4.1 Der Leser als Gesprächspartner

Der fiktive Leser bietet laut Heike Maybach die Möglichkeit, literarische Kommunikation in einer Erzählung zu thematisieren.[19] In Sternes Roman diene die Geschichte von Tristrams Leben dem Erzähler nur als Anlass, mit dem Leser über die Möglichkeiten und Fallstricke literarischer Kommunikation zu plaudern, schreibt sie weiter. Doch literarische Kommunikation ist nicht nur das Thema der Gespräche zwischen Erzähler und Leser, sondern manifestiert sich natürlich auch in der Form ihrer Gespräche selbst:

"– How could you, Madam, be so inattentive in reading the last chapter? I told you in it, That my mother was not a papist. – Papist! You told me no such thing, Sir. – Madam, I beg leave to repeat it over again, that I told you as plain, at least, as words, by direct inference, could tell you such a thing. – Then, Sir, I must have missed a page. – No, Madam, – you have not missed a word. – Then I was asleep, Sir. – My pride, Madam, cannot allow you that refuge. – Then, I declare, I know nothing at all about the matter. – That, Madam, is the very fault I lay to your charge; and as a punishment for it, I do insist upon it, that you immediately turn back, that is, as soon as you get to the next full stop, and read the whole chapter over again." (I, 20)

[...]


[1] Jasper Fforde, The Well of Lost Plots (London, 2004), 50.

[2] Schlomith Rimmon-Kenan, Narrative Fiction – Contemporary Poetics (London, ²2004), 123. Im Folgenden zitiert als Rimmon-Kenan, Narrative Fiction.

[3] Dieser Arbeit liegt folgende Ausgabe zugrunde: Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman (Hertfordshire, 1996).

[4] Aimed Ben-hellal, Narrator and Reader in Tristram Shandy. 20.8.2005. <http://www.univ-mlv.fr/bibliotheque/presses/travaux/travaux2/benhellal.htm>. Im Folgenden zitiert als: Ben-hellal, Narrator.

[5] Seymor Chatman, Story and Discourse – Narrative Structure in Fiction and Film (Ithaca and London, 1978), 148. Im Folgenden zitiert als Chatman, Story and Discourse.

[6] Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 87.

[7] Ebd., 87f.

[8] Gerald Prince, A Dictionary of Narratology (Nebraska, 1987), 43.

[9] Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens – Theorie ästhetischer Wirkung (München, 41994), 60. Im Folgenden zitiert als: Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens.

[10] Ebd., 61.

[11] Seymour Chatman, Story and Discourse, 148.

[12] Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 104f.

[13] Heike Maybach, Der erzählte Leser – Studien zur Rolle des Lesers in Italo Calvinos Roman “Wenn ein Reisender in einer Winternacht” und in anderen Werken der Erzählliteratur (Frankfurt/Main, 1990), 52. Im Folgenden zitiert als: Maybach, Der erzählte Leser.

[14] Ebd., 52f.

[15] Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 106.

[16] Clive T. Probyn, English Fiction of the Eighteenth Century 1700-1789 (London, 1987), 134.

[17] Im Folgenden meint der Begriff ‚Leser’ die Konzepte Narratee und impliziter Leser gleichermaßen, da beide in Tristram Shandy oft nicht zu trennen sind, sondern ineinander übergehen. Wenn vom realen Leser die Rede ist, wird dieser explizit so genannt.

[18] Maybach, Der erzählte Leser, 18.

[19] Maybach, Der erzählte Leser, 18.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der implizite Leser in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Anglistik und Amerikanistik)
Veranstaltung
Making Moral Sense - Moral Philosophy and the 18th Century Novel
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
17
Katalognummer
V47934
ISBN (eBook)
9783638447683
ISBN (Buch)
9783638764209
Dateigröße
433 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leser, Laurence, Sternes, Roman, Tristram, Shandy, Making, Moral, Sense, Moral, Philosophy, Century, Novel
Arbeit zitieren
Ulrike Wronski (Autor:in), 2005, Der implizite Leser in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47934

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