Linguistische Klassifikationsversuche von Versprechern


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Allgemeine Fakten zu Versprechern

2. Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Analyse und Interpretation von Versprechersammlungen

3. Meringers Klassifikation der Versprecher
3.1 Vertauschung
3.2 Antizipationen
3.3 Postpositionen
3.4 Kontamination
3.5 Substitution

4. Nora Wiedenmanns Klassifikation der Versprecher
4.1 Versprecher oberhalb der Lautebene
4.1.1 Assoziative Versprecher
4.1.2 Perzeptiv induzierte Versprecher
4.2 Versprecher auf der Lautebene
4.2.1 Antizipatorischer Versprecher
4.2.1.1 (Reine) Antizipation
4.2.1.2 Metathese und Mehrfachvertauschung
4.2.1.3 Shift in zwei Varianten
4.2.2 Repetitorische Versprecher

5. Linguistische Erkenntnisse durch die Versprecherforschung
5.1 Nora Wiedemanns linguistische Erkenntnisse
5.1.1 Affrikaten und Diphthonge
5.1.2 Freudsche Versprecher
5.2 Linguistische Erkenntnisse bezogen auf das mentale Lexikon
5.2.1 Die Organisation des mentalen Lexikons nach Bedeutungskriterien
5.2.2 Das mentale Lexikon als ein nach Formkriterien organisiertes Gebilde
5.2.2.1 Wortarten
5.2.2.2 Wortteilchen – Die innere Struktur der Wörter

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Äußert jemand Sie hat mir Honig in die Augen geschmiert[1], bestellt eine Person eine Pischelmuzza[2] oder putzt gar der Kralli[3], so verbreitet sich bei den Rezipienten solcher Versprecher allgemeine Heiterkeit. Die Schöpferkraft der Sprache scheint sich bei Sprechfehlern einen Augenblick über die konventionellen Sprachregeln hinwegzusetzen.

Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich eine Reihe von Linguisten mit dem Phänomen der Versprecher, wie sie im Sprachzentrum unseres Gehirns zustande kommen und welche Hinweise sie z.B. über den Aufbau des mentalen Lexikons liefern. In dieser Arbeit werden in Kapitel 1 zunächst allgemeine Fakten zu den Versprechern vorgestellt. Darauf folgend wird auf Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Analyse und Interpretation von Versprechersammlungen hingewiesen. Kapitel 3 beschreibt kurz Rudolf Meringers Kategorisierung von Versprechern. Dies dient als Grundlage für das folgende Kapitel in dem Nora Wiedenmanns Klassifikation von Sprechfehlern dargestellt wird. Kapitel 5 geht, bezogen auf die Versprecherforschung, zum einen auf einige linguistische Erkenntnisse ein, die Wiedenmann aus ihren Versprechersammlungen ableitet und zum anderen auf linguistische Erkenntnisse bezogen auf den Aufbau des mentalen Lexikons.

Diese Hausarbeit bezieht sich in erster Linie auf Nora Wiedenmanns Ausführungen in „Versprecher: Phänomene und Daten.“, sowie Helen Leuningers Werk „Reden ist Schweigen, Silber ist Gold.“ Für weitere verwendete Literatur verweise ich auf das Literaturverzeichnis.

1. Allgemeine Fakten zu Versprechern

Sprechfehler sind nichts Pathologisches, sondern Teil unseres alltäglichen Sprechens. „Versprecher geschehen unwillkürlich und entgegen der Intention des Sprechers.“[4] Die Bedingungen zum Versprechen sind stets vorhanden. Beobachtungen Helen Leuningers zufolge haben wir nahezu keine Möglichkeit Sprechfehler zu vermeiden, „[...] weil Versprecher anziehende Situationen an konträren Polen unserer Aufmerksamkeit liegen: Sind wir besonders konzentriert oder besonders erschöpft, versprechen wir uns häufiger als sonst.“[5] Fehlerfreies Sprechen gelingt besonders dann, wenn sich der Sprecher in einem Zustand zwischen höchster Konzentration und äußerster Entspannung befindet. Sogenannte Lautstotterer oder Zungenbrecher treten zusätzlich unter folgenden Bedingungen auf: „Wenn mehrere Wörter oder Silben gleich beginnen, r und l gehäuft auftreten oder ähnlich klingende Anlaute vorhanden sind [...].“[6]

Versprecher sind nicht als Symptom eines kompletten Zusammenbruchs unseres Sprachverhaltens anzusehen. Denn „[...] unsere Sprachplanung ist selbst dann perfekt organisiert, wenn wir uns versprechen.“[7] Bei der Antizipation von Witz für Mühe in dem Versprecher Ich gebe mir keinen Witz mehr, über die Witze nachzudenken[8] ist der Artikel keine, für eigentlich keine Mühe, grammatikalisch dem Versprecher angepasst worden. Nicht nur ist es uns nicht möglich regellos zu sprechen, es ist uns auch nicht möglich uns regellos zu ver sprechen.[9]

Sprechfehler können unabhängig von der Schwierigkeit des Wortes oder Satzes jede Einheit betreffen und jede sprachliche Einheit für die eigentlich intendierte einsetzen. Die von Fehlleistungen betroffenen Bereiche liegen sowohl oberhalb der Lautebene, als auch auf der Lautebene. Beim Wählen des falschen Wortes wird fast immer die Wortart des Zielwortes beibehalten. In der Regel verspricht man sich innerhalb des Satzes. Dies findet seine Begründung in der Tatsache, dass der Mensch nicht beliebig umfangreiche Einheiten für einen unbeschränkten Zeitraum in seinem Arbeitsspeicher speichern kann, da dieser nur eine begrenzte Kapazität besitzt.[10][11] Vereinzelt kommt es jedoch vor, dass eine Äußerung eines Sprechers A die darauf folgende sprachliche Äußerung des Hörers bzw. des Sprechers B beeinflusst.[12] Dabei wird die Satzgrenze überschritten. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Äußerung des Sprechers A noch im Arbeitsspeicher des Zuhörers befindet.[13]

Leuningers Schätzungen zufolge produziert ein Sprecher im Durchschnitt pro tausend Wörter und bei normaler Sprechgeschwindigkeit, d.h. bei 120 bis 150 Wörtern pro Minute, einen Versprecher. Bei ununterbrochener Rede, einem Vortrag beispielsweise, erzeugen wir folglich alle zehn Minuten einen Sprechfehler. Eine Ausnahme stellen sogenannte metasprachliche Äußerungen dar, welche sich als besonders versprecheranfällig erweisen, wie: „Ich zerspreche mich in letzter Zeit sehr viel![14] Das Reden über einen Versprecher kann ebenfalls einen Sprechfehler zur Folge haben. Auch das Bemerken und der Korrekturversuch eines Versprechers kann zu immer mehr Sprechfehlern führen und letztlich einen völligen Zusammenbruch nach sich ziehen. Leuninger spricht in diesem Zusammenhang von einem „Versprechervirus“.[15]

2. Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Analyse und Interpretation von Versprechersammlungen

Im Jahr 1895 veröffentlichte der deutsche Sprachwissenschaftler Rudolf Meringer zusammen mit dem Neurologen K. Mayer die erste deutschsprachige Versprechersammlung. Dieser sind im Laufe des letzten Jahrhunderts (nicht nur) in Deutschland weitere gefolgt u.a. in Oldenburg, Bielefeld, Freiburg sowie die Frankfurter Sammlung die 1998 etwa 4000 Versprecher umfasste oder auch die Sammlungen Leuningers oder Nora Wiedemanns. Diese Sammlungen bieten eine Fülle an Material, welches u.a. dazu verwendet wird Theorien zum Aufbau des mentalen Lexikons zu unterstützen, weiterzuführen oder zu widerlegen, wie ich in Kapitel 5.2 noch zeigen werde. Jedoch ergeben sich bei der Sammlung von Versprechern formale Probleme.[16]

Statistische Einschätzungen der Vorkommenshäufigkeit bestimmter Versprechertypen abzugeben oder Aussagen darüber zu treffen, wie häufig bestimmte sprachliche Einheiten betroffen sind, ist kaum möglich. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Experiment zur Sprachproduktion ergab, „[...] daß bei normaler Sprechgeschwindigkeit [...] die meisten Versprecher vom Hörer nicht bemerkt, sondern intuitiv korrigiert werden; erst bei verlangsamter Sprechgeschwindigkeit fallen dem Hörer Versprecher eher auf.“[17] In diesem Zusammenhang ergibt sich die statistische Unzuverlässigkeit der Versprechersammlungen daraus, wie sie zustande kommen. Normalerweise werden die Daten von Linguisten zusammengetragen, indem sie Versprecher bei Gesprächen, Vorträgen etc. notieren. Diese Vorgehensweise hat zum einen den Nachteil, dass nicht sicher gestellt werden kann, dass kein Versprecher der Aufmerksamkeit entgeht oder korrekt aufgeschrieben, d.h. korrekt rezipiert wird.[18] Zum anderen ist sie insofern hinderlich, als dass die Konzentration nicht mehr auf dem Inhalt des Gesagten liegt. Um einen Versprecher jedoch als Selektionsfehler einordnen zu können ist der semantische Zusammenhang von Bedeutung. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich in der Interpretation der gesammelten Versprecher, denn nicht alle Sprechfehler lassen sich problemlos kategorisieren. Beispielsweise ist nicht eindeutig, ob Konversation für Konservation als Montage- oder als Selektionsfehler einzuordnen ist. In diesem Fall könnte nur die Information über die eigentliche Intention des Sprechers eine klare Entscheidung herbeiführen.[19]

Insgesamt ergeben sich folglich eine Reihe von Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Analyse und Interpretation von Versprechersammlungen, die berücksichtigt werden müssen.

3. Meringers Klassifikation der Versprecher

Die erste deutschsprachige Versprechersammlung wurde, wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, von Rudolf Meringer 1895 unter dem Titel „Versprecher und Verlesen – Eine psychologisch-linguistische Studie“ veröffentlicht. Er kann als Begründer der psycholinguistischen Versprecherforschung angesehen werden, denn noch heute haben viele seiner Überlegungen Gültigkeit. Das gilt sowohl für Meringers Einteilung der Sprechfehler in fünf Klassen, als auch für seine Hypothesen über die psychologischen Ursachen und Entstehungsweisen solcher Fehlleistungen.[20]

In diesem Kapitel werden die von Meringer beobachteten Versprechermuster kurz dargestellt, da sie die Grundlage für Nora Wiedemanns Kategorisierung von Versprechern bilden, auf die ich in Kapitel 4 genauer eingehen werde. Die aufgeführten Beispiele dienen im Einzelnen nur der Veranschaulichung und werden im Umfang dieser Hausarbeit nicht näher erläutert.

3.1 Vertauschungen

„Bei Vertauschungen wechseln zwei sprachliche Einheiten in einer Äußerung ihren Platz.“[21] Dies können Wörter sein:

(1) Ich liebe Salz mit viel Suppe (statt: Ich liebe Suppe mit viel Salz).[22]

Ebenso können Bestandteile zusammengesetzter Wörter vertauscht werden:

(2) zwecktischer Prak (statt: praktischer Zweck).[23]

Bei einem durch Vertauschung hervorgerufenen Versprecher können auch Silben (3) und Laute betroffen sein, wobei Laute, Meringer zufolge, nur dann vertauscht werden können, „[...] wenn sie in derselben Silbenposition [...] vorkommen“[24], wie z.B. in der Silbenmitte (4), der klassischen Vokalposition. An- und Auslaute desselben Wortes würden nicht verwechselt.[25]

(3) Pischelmuzza (statt : Muschelpizza)[26]
(4) à prapa Popo (statt : à propos Papa)[27]

3.2 Antizipationen

„Bei Antizipationen werden sprachliche Einheiten in der Äußerung vorweggenommen.“[28] Es können alle sprachlichen Einheiten, d.h. Laute (5), Silben (6), Wortbestandteile (7) und Wörter (8) antizipiert werden:

(5) ich wollte sie stockbrieflich verfolgen lassen (statt: steckbrieflich)
(6) ich werde nun zur Abschreitung der Anträge schreiten (statt: Abstimmung)
(7) die Sympather ... die Japaner sind mir viel sympathischer
(8) ich gebe mir keinen Witz mehr, über die Witze nachzudenken (statt: keine Mühe.)[29]

3.3 Postpositionen

„Bei diesem Fehlertyp sind bereits geäußerte sprachliche Einheiten noch präsent und werden fälschlicherweise ein zweites Mal verwendet. Auch hier können alle sprachlichen Einheiten betroffen sein:“[30]

[...]


[1] Leuninger, Helen: Reden ist Schweigen, Silber ist Gold. Gesammelte Versprecher. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998. S. 13.

[2] Leuninger 1997: 18.

[3] Leuninger 1997: 24.

[4] Wiedenmann, Nora: Versprecher: Phänomene und Daten. Mit Materialien auf Diskette. Wien: Ed. Praesens 1998. S. 5.

[5] Leuninger 1997: 81.

[6] Leuninger 1998: 76.

[7] Leuninger 1998: 72.

[8] Ebd.

[9] Vgl. Leuninger 1998.

[10] Vgl. Psycho

[11] Es können nur etwa sieben Einheiten in Millisekunden bearbeitet werden. (Vgl. Leuninger 1998: 79.)

[12] Vgl. auch Kapitel 4.1.2.

[13] Vgl. Leuninger 1998.

[14] Leuninger 1998: 103.

[15] Vgl. Leuninger 1998: 81 und 103 f.

[16] Vgl. Leuninger 1998.

[17] Leuninger 1998: 78.

[18] Im Kontext eines Vortrags ist außerdem die Möglichkeit nicht gegeben den Produzenten der Äußerung nach seiner eigentlich intendierten Aussage zu fragen, was für die Einordnung mancher Versprecher von grundlegender Wichtigkeit ist. Hierzu verweise ich auch auf Kapitel 4 meiner Arbeit.

[19] Vgl. Leuninger 1998.

[20] Vgl. Leuninger 1998.

[21] Leuninger 1998: 71.

[22] Leuninger 1998: 18.

[23] Leuninger 1998: 71.

[24] Leuninger 1998: 71.

[25] Vgl. Leuninger 1998 nach R. Meringer, R.; K. Mayer (1895): Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch-linguistische Studie. Stuttgart: Neudruck 1978 Amsterdam. S.24.

[26] Leuninger 1998: 18.

[27] Leuninger 1998: 71.

[28] Leuninger 1998: 72.

[29] Leuninger 1998: 72.

[30] Leuninger 1998: 73.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Linguistische Klassifikationsversuche von Versprechern
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Veranstaltung
Mentales Lexikon
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
28
Katalognummer
V47812
ISBN (eBook)
9783638446778
Dateigröße
612 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Versprecher, Mentales, Lexikon
Arbeit zitieren
Nina Meyer (Autor:in), 2005, Linguistische Klassifikationsversuche von Versprechern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47812

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