Skizzen einer Philosophie der Traurigkeit


Seminararbeit, 2003

37 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Wer wagt es...? – Einleitung

I. „[...] eine Menge von traurigen Vorstellungen[...]“[1]
I.1 Zur philosophischen Geschichte der Gefühle
I.2 Die Traurigkeit als Stimmung
I.3 Das Wesen der Traurigkeit

II. Das Kind der Moderne

III. „traurigkeit macht kein nützige leut“[2]

IV. „die Traurigkeit [...] ist die Poesie der Erbsünde“[3]

Literatur

Wer wagt es...?

„Wer erzählet die Sage

Von dem alten Mann?

Wiegt Wegsein mit der Waage

Legt den Not-Maßstab an?

Mißt das Weh aller Orte?

Zählt das ganze Leid

Und schließt ein in Worte

Die Nichtigkeit?“

Samuel Beckett[4]

Der Versuch eine Philosophie der Traurigkeit zu schreiben bedarf zweifelsfrei einer ganz besonderen Motivation, und nicht wenige würden diese in einer permanenten Schwermütigkeit des Verfassers erahnen, der doch einzig zur Verteidigung „seiner“ Stimmung dieses Vorhaben angehen kann. Obwohl ich dieser Vermutung teilweise zustimmen muß – denn ich besitze tatsächlich einen affirmativen Bezug zum Gefühl der Traurigkeit –, ist es gerade nicht die Aufgabe dieses Textes, Traurigkeit gegen alle abwertenden Einschätzungen vorbehaltlos zu verteidigen, sondern sie so umfassend wie möglich zu untersuchen, ihren Ursprung, Charakter, sowie ihren Wert innerhalb der Kultur zu ermitteln. Wenn es dennoch den Anschein haben sollte, daß es sich um eine Verteidigungsschrift handelt, liegt das wohl eher daran, daß Traurigkeit gemeinhin neben anderen Gefühlen und Verhaltensweisen (wie etwa Langeweile, Müßiggang oder Langsamkeit) auf der Anklagebank der Kultur-„Schädlinge“ sitzt, von der sie mit dieser Untersuchung freigesprochen werden soll.

Daß dieser pathetisch formulierte Anspruch vielleicht nicht vollends erreicht werden kann, hat mehrere Gründe, auf die hier vorab hingewiesen werden soll.

Gefühle gehörten beinahe zweitausend Jahre nicht zu den begehrten Untersuchungsgegenständen der Philosophie, auch wenn viele der wirkungsmächtigsten Köpfe dieser Wissenschaft zumindest ein Urteil über sie hinterlassen haben. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es eine ernst zu nehmende Anstrengung, das Wesen der Gefühle zu ergründen. Vor allem die Phänomenologie nach Husserl (etwa Max Scheler als einer seiner Schüler) richtet ihr Augenmerk auf die Beschreibung von Emotionen[5]. Die naheliegende Folge von einer Vielzahl an monographischen Analysen von Einzelgefühlen (bei Scheler z.B. Mitgefühl oder Scham) spart die Traurigkeit jedoch nahezu vollständig aus. Wirkliche Gründe hierfür sind nicht ersichtlich, sodaß die Vermutung nahe liegt, daß man in der Traurigkeit keinen ergiebigen, also wertvollen Untersuchungsgegenstand sah. Daher ist der Umfang an zur Verfügung stehenden philosophischen Texten (und auch anderer Wissenschaftsgebiete) für eine Philosophie der Traurigkeit recht überschaubar. Das macht die Notwendigkeit einer solchen Analyse jedoch nicht geringer, sondern betont noch deren Bedarf. Nicht zuletzt, da sich Traurigkeit in unüberschaubarer Vielfalt in allen literarischen Formen Raum geschaffen hat. Ihre spezifische Erklärungskraft, die dort zum tragen kommt, soll helfen, Licht in das noch dunkle Gefühl Traurigkeit tragen.

Es ist jedoch hinzuzufügen, daß dieser Text gerade aufgrund der Überfülle an nichtwissenschaftlicher Literatur, die im Vorfeld nicht untersucht werden konnte, sich nur als erster Versuch verstehen kann. Dennoch wird bereits auffallen, daß die Traurigkeit – als explizit von anderen Emotionen wie etwa Trauer oder Melancholie unterschiedenes Gefühl – ein spezifisch modernes Phänomen ist. Die Ursachen hierfür und die daraus resultierenden Eigentümlichkeiten der Traurigkeit sollen im zweiten – an den einleitenden, allgemein analytischen Teil anschließenden – Abschnitt offen gelegt werden. Hierbei werden Parallelen zum Phänomen der Langeweile, das von Svendsen[6] als der Moderne zugehörig interpretiert wird, gezogen.

Wie eben bereits deutlich geworden ist, kann Traurigkeit nur in Abgrenzung zu anderen Gefühlen definiert werden. Gleichzeitig ist eine umfassende Analyse eines Gefühls nurmehr möglich, indem die Wissenschaften, die sich noch vor der Philosophie (oder intensiver) den Emotionen zugewandt haben, zu Rate zieht. Daher wird der erste Abschnitt Erkenntnisse der Linguistik, der Psychologie und verschiedene Positionen der Philosophie zusammentragen um ein vielgestaltiges Verständnis der Traurigkeit zu fördern.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit möglichen und tatsächlichen Funktionen von Traurigkeit, insofern man davon überhaupt sprechen kann, da sich Traurigkeit, wie noch zu zeigen sein wird, einer effizienten Funktionalität verweigert. Weiterhin – oder daran anschließend – soll die weitreichende negative Bewertung untersucht werden, welcher das Gefühl der Traurigkeit zumeist unterliegt. Gerade ihre Ähnlichkeit und strukturelle Verbindung zur Langsamkeit und dem Müßiggang sind sowie moderne Identitätskonzepte sind hierbei erhellend.

Den Abschluß bilden einige Überlegungen zum tatsächlichen Wert der Traurigkeit, sowohl für die Identitätskonstruktion, als auch in gesellschaftlich-kultureller Hinsicht.

I. „[...] eine Menge von traurigen Vorstellungen[...]“

I.1 Zur philosophischen Geschichte der Gefühle

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Wir haben ein Gefühl [...] des Unstreitigwahren und Ungereimten, das unserm Geiste, bey der Anwendung der Kraft zum Denken, zum Führer dient.“[7]

Ch.F. Gellert[8]

Vor mehr als zweitausend Jahren analysierte Aristoteles die Emotionen, auch wenn er sie lange nicht so wichtig nahm, wie viele andere Fragen, denn sogar verschiedene Vogelstudien nehmen in seinem Werk einen umfangreicheren Raum ein.[9] Dennoch sind seine Definitionen lange Zeit bestimmend oder wenigstens einflußreich geblieben. So bestimmte er Emotionen als „that which leads one’s condition to become so transformed that his judgement is affected and which is accompanied by pleasure and pain.“[10] der hier benannte welterschließende Charakter der Gefühle ist es, der viele Philosophen, Theologen und Theoretiker aller Art lange Zeit geradezu zwang, zu ihnen Stellung zu beziehen. Seneca etwa betrachtete Gefühle als „misguided judgements about life and our place in the world“[11] und rief zur absoluten Gefühllosigkeit (Apathie) auf, die ein Zusammenleben durch das Befolgen einer höheren Vernunft weit angenehmer gestalten würde.

Im Mittelalter war die Frage der Gefühle vor allem eine ethische und Emotionen wurden an ihrer Vereinbarkeit mit der unbedingten Gottesliebe gemessen. Daher mußten alle Ich-bezogenen Gefühle zwangsweise als Sünde gelten. Der Rückzug von Gott auf das eigene Ich war ein Abfallen vom Glauben und zugleich ein Werk des Teufels. Neben anderen Gefühlen wurde so auch die Traurigkeit gebrandmarkt – sie galt als „des teufels hauptküssen“ und „des menschen henker“[12]. Als Tugend galt vielmehr eine vernünftige Gottesliebe, die sich ihrer Gefühle schämt oder sie wenigstens zu kontrollieren weiß, wie sie etwa durch die Schriften von Thomas von Aquin repräsentiert wird.

Daher ist es wenig verwunderlich, wenn auch nicht zwingend folglich, daß die christlich-abendländische Philosophie auch im Zuge ihrer zunehmenden Säkularisierung dieser Tradition folgt und der Vernunft als herrschendes Erkenntnisinstrument den Weg ebnet. Noch Baruch Spinoza bezeichnet Gefühle als „a form of ‚thought‘ that, for the most part, misunderstood the world, and consequently make us miserable and frustrated“.[13]

Der bei Spinoza nur mittelbar eingestandene wertende und interpretierende Charakter der Gefühle tritt in der weiteren Entwicklung, wenn auch nicht in den Mittelpunkt, so doch weiter aus dem Schatten. Descartes, der als Begründer der modernen Philosophie gilt, sieht die Emotionen als Schnittstelle zwischen Körper und Geist, deren Unterscheidung er vorgenommen hatte um die tierischen Instinkte von Vernunft und Seele zu trennen. Dabei sind Gefühle als „perceptions of the soul“ keine rein leiblichen Erscheinungen, wohl aber „caused, maintained, and fortified by some movement of the [animal – Einschub durch Solomon] spirit“[14]. Er betrachtet Emotionen somit zwar als notwendig, vor allem zur Bewertung von Gedanken, wendet jedoch ein, „that they fortify these thoughts more than necessary“ – schließlich sollte die Überlegenheit der Vernunft siegen, wenn es um richtige Entscheidungen geht. Descartes führt eine Einteilung in 6 „primitive passions“ ein, zu denen auch „sadness „ gehört. Daß damit jedoch keinesfalls das gemeint ist, was wir heute unter Traurigkeit verstehen, wird später noch ersichtlich.

Einen entscheidenden Schritt zu einer vielleicht angemessenen Untersuchung und Bewertung von Emotionen – vor allem ihrer Funktion und damit ihres Wertes – leitet David Hume ein, der die Amoralität von Vernunft erkennt: „It is not against reason to prefer the destruction of half the world to the scratching of my finger.“[15] Für ihn sind Gefühle – und allen voran das der Sympathie – die Grundvoraussetzung für jede menschliche Gesellschaftsform. Außerdem betont der die wechselseitige Bedingung von Gefühl und Idee, in der erneut der welterschließende Charakter von Emotionen zum Ausdruck kommt.

Sogar Kant, der eine Vernunftethik einer gefühlsgestützten vorzog, gestand ein, daß „nothing great is ever done without passion.“[16] Ein Ausdruck für den kulturstiftenden Wert von Gefühlen.

Friedrich Nietzsche ist es, der als erster das hierarchische Verhältnis von Gefühl und Vernunft umkehrt und dem Gefühl Vorrang einräumt. Diese Neuordnung ist, wie im zweiten Teil gezeigt werden soll, die philosophische Konsequenz einer Entwicklung, die in der Romantik ihre klarste Ausprägung findet und, wenn auch in starker Modifikation, so doch erkennbar, bis heute fortwirkt.

Innerhalb dieser Veränderungen der Betrachtungsweise gilt es nun, den Begriff der Traurigkeit aufzuspüren und zu charakterisieren, sowie seine inhaltlich und geschichtlich verschiedenen Bedeutungsebenen voneinander zu trennen.

I.2 Die Traurigkeit als Stimmung

„Wohin man sieht, entsteht ein dunkler Fleck.

Man möchte tot sein. Oder Gründe haben.“

Erich Kästner[17]

Wesentlich für die Traurigkeit ist die Unterscheidung zwischen Gefühlen als Zuständen, Affekten und Stimmungen.

Diese wird nicht von allen, die sich mit Gefühlen beschäftigen mit diesen drei Begriffen vorgenommen, dennoch können die verschiedenen Modelle zur Erklärung beitragen.

So weist Ingrid Craemer-Ruegenberg darauf hin, daß die in der Antike verwendeten Begriffe „pathos“ oder „affectus“ ausdrücklich anzeigen, daß es „sich um ein Erleiden von Einwirkungen“[18] handelt, das heißt, es wird mit der Bezeichnung vom Subjekt auf die Ursache der Wahrnehmung gedeutet. Die heute geläufigen Begriffe „Gefühl“ oder „Empfinden“ hingegen verdeutlichen ihr zufolge einen Zustand, bei dem nicht die Ursache im Zentrum des Interesses steht und eventuell auch völlig offen bleibt. Dieser Aspekt deutet bereits auf die Subjektorientierung der Moderne hin (sowohl in der Gefühlsbeschreibung, als auch der allgemeinen Wertgebung). Außerdem ließe sich vermuten, daß viele die Frage nach der Ursache ihres Gefühls nicht beschreiben können, weil allein schon die Bestimmung des Gefühls selbst durch die Vielzahl der inzwischen bekannten Emotionen unüberschaubar und auch zum Teil schwer differenzierbar ist.

Ernst Bloch sieht in den Stimmungen etwas wie eine unbekannte Anzahl unverwirklichte Affekte, die als Gesamtheit eben jenes unbestimmte Gefühl ausmachen, was bei Craemer-Ruegenburg bereits anklingt: „Der Stimmung ist es wesentlich, nur als diffuse total zu scheinen; sie besteht nirgends aus einem herrschend-überwältigenden Affekt, sondern aus einer selber weiten Mischung vieler, noch nicht zum Austrag gelangter Affektgefühle.“[19] Affekte sind hier genau jene klar erklärbaren Gefühle, wohingegen Stimmungen sich durch ihre Undurchsichtigkeit auszeichnen, die Bloch mit ihrem Mischcharakter, sowie der noch ausstehenden Realisierung der Affekte erklärt.[20]

[...]


[1] Siehe FN 7

[2] siehe FN 78

[3] siehe FN 103

[4] Beckett, Samuel, Gedicht im Anhang zu Watt, in: Ders., Werke II.2, Suhrkamp, Ffm., 1976, S. 467

[5] In Übereinstimmung mit einer Einführung in die psychologischen Grundbegriffe verwende ich die Begriffe „Gefühl“ und „Emotion“ synonym. Vgl. Popp, Manfred, Einführung in die Grundbegriffe der Allgemeinen Psychologie, Ernst Reinhardt Verlag, München (u.a.), 1995, S. 140

[6] Svendsen, Lars Fr. H., Kleine Philosophie der Langeweile, Insel, Ffm., 2002, z.B. S. 24, S. 65

[7] Wieland, Martin, Agathon, zitiert In: Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, zuerst Hirschel, Leipzig, 1935, S. 1534

[8] Gellert, Ch.F., zitiert In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Ritter, Joachim (Hrsg.), Bd. 3: G-H, Schwabe & Co Verlag, Stuttgart (u.a.), 1974, S. 90

[9] Vgl. dazu, Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, In: Lewis, Michael/ Haviland, Jeannette M., The handbook of emotions, The Guildford Press, New York (u.a.), 1993, S. 3-15, S. 4. Alle nicht zitierten Angaben zur Geschichte der Philosophie der Gefühle im folgenden beziehen sich auf diesen Artikel.

[10] Aristoteles, Rhetorik, zitiert In: Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, a.a.O., S. 4

[11] Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, a.a.O., S. 5

[12] v. Lilienberg, Abele, Gesammelte Schriften, zitiert In: Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, S. 1540

[13] Spinoza, Baruch, Ethik, zitiert In: Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, a.a.O., S. 6

[14] Descartes, René, zitiert In: Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, a.a.O., S. 6

[15] Hume, David, zitiert In: Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, a.a.O., S. 7

[16] Kant, Immanuel, zitiert In: Solomon, Robert C., The philosophy of emotions, a.a.O., S. 8

[17] Kästner, Erich, Die Traurigkeit, die jeder kennt, In: Ders., die Zeit fährt Auto. Lyrische Bilanz, Reclam, Leipzig, 1978, S. 99

[18] Craemer-Ruegenberg, Ingrid, Begrifflich-systematische Bestimmung von Gefühlen. Beiträge aus der antiken Tradition, In: Fink-Eitel, Hinrich/ Lohmann, Georg[Hrsg.], Zur Philosophie der Gefühle, Suhrkamp, Ffm., 1993, S. 20-32, S. 20

[19] Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Kapitel 1-32, In: Ders., Werkausgabe, Band 5, Suhrkamp, Ffm., 1959, S. 118

[20] Folglich dürften Stimmungen nicht mehr als solche bestehen bleiben, wenn einige oder alle möglichen in ihnen enthaltenen Affekte „zum Austrag“ gelangt sind.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Skizzen einer Philosophie der Traurigkeit
Hochschule
Universität Potsdam  (Philosophisches Institut)
Veranstaltung
PS Philosophie der Gefühle
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
37
Katalognummer
V47796
ISBN (eBook)
9783638446631
Dateigröße
2354 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Skizzen, Philosophie, Traurigkeit, Philosophie, Gefühle
Arbeit zitieren
Matthias Zimmermann (Autor:in), 2003, Skizzen einer Philosophie der Traurigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47796

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