Die "Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Zur Geschichtsphilosphie Immanuel Kants


Hausarbeit, 2004

18 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Geschichte und Geschichtsphilosophie
1.1. Der Begriff Geschichte
1.2. Geschichtsphilosophie und das Zeitalter der Aufklärung
1.3. Die weitere Entwicklung der Geschichtsphilosophie bis zur Gegenwart

2. Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
2.1. Teleologie, Natur, Vernunft und Kultur
2.2. Der weltbürgerliche Zustand: Rechtsstaat und Völkerbund
2.3. Ideecharakter und praktische Funktion der allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht

3. Die „ Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ im Kontext der Aufklärung

Schluss

Bibliographie

Einleitung

Immanuel Kant (1724- 1804) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der europäischen Aufklärung. Seine Werke zu Theorien der Erkenntnis, Ethik, Religionsphilosophie und Ästhetik beeinflussten signifikant die nachfolgenden philosophischen Diskurse und haben bis heute kaum an Brisanz verloren. Die Konzeption seiner Geschichtsphilosophie, die in dem Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ am komprimiertesten vorgestellt wird, ist demgegenüber weitaus weniger bekannt.

Philosophen verfassen ihre Werke nicht in von der Außenwelt völlig abgeschlossenen Räumen. Auch innovative, neue Ideen entstehen unter dem Eindruck der Lebensbedingungen der jeweiligen Zeit. Im Besonderen trifft dies auf die Deutung von Geschichte zu, denn Interpretation und Bewertung historischer Ereignisse und des geschichtlichen Verlaufs stehen im Interesse von Machthabern; lässt sich doch so die eigene Herrschaft legitimieren und festigen.

In meiner Arbeit werde ich zunächst kurz auf Genese und Wandlung des Begriffs Geschichte in verschiedenen historischen Bezugsrahmen eingehen und den Zusammenhang zwischen gesellschaftlich- politischen Neuerungen zur Zeit der Aufklärung und dem Auftreten von von Geschichtsphilosophie erläutern. Eine kurze Skizzierung der Weiterentwicklung geschichtsphilosophischer Entwürfe bis zur Postmoderne wird sich anschließen. Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, die den Sinn von Geschichte als vollständige Entwicklung der Naturanlagen hin zu einer weltumspannenden, vernünftig- moralischen und friedlichen Weltgemeinschaft darlegt, ist in ihren grundlegenden Motiven und Prämissen zugleich Ausdruck und Bedingung der Aufklärung. Im zweiten Teil meiner Ausführungen werde ich Konzeption und Argumentationsstruktur speziell dieses Textes verdeutlichen und danach im dritten Teil die kontextuellen Parallelen zum Gedankengut der Aufklärung herausstellen.

1. Geschichte und Geschichtsphilosophie

Zum Verständnis der Besonderheit der kantschen Konzeption im Vergleich zu anderen geschichtsphilosophischen Entwürfen bedarf es zunächst der Klärung des Gegenstandes des Textes, nämlich des Begriffes „Geschichte“ in seinen verschiedenen Bedeutungen und im Kontext seiner Entwicklung. Das Interesse an der Vergangenheit und die Art und Weise der Auseinandersetzung mit derselben stehen in enger Verbindung mit den realhistorischen Vorgängen einer bestimmten Epoche. Dadurch begründet sich auch das relativ späte Auftreten der expliziten Geschichtsphilosophie gegen Ende des 18. Jahrhunderts.

Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Interpretation von Geschichte, Geschichtsbewusstsein und der, wiederum historischen, Epoche. Eine von der jeweiligen Zeit unabhängige Wissenschaft zur Geschichte (ob rein empirisch oder geschichtsphilosophisch) ist unmöglich. Kulturelle, politische und soziale Gegebenheiten einer Zeit begründen das Interesse an Geschichte, ihre philosophische Deutung und damit das Geschichtsbewusstsein der Menschen. Umgekehrt besteht ebenfalls eine Wirkung der Theorie auf die Praxis aller Aspekte menschlichen Zusammenlebens. Deshalb kann auch Kants geschichtsphilosophischer Entwurf nicht unabhängig von seiner Entstehungszeit betrachtet werden.

1.1. Der Begriff Geschichte

Die Genese des Begriffes reicht bis in die Antike zurück. Historie beschrieb im weiteren Sinn jede Form empirischer Erkenntnis. Es handelte sich dabei um reine Tatsachendarstellung (im Gegensatz zu einer Tatsachenbegründung).

Im engeren Sinn bedeutete das jeden durch unmittelbare eigene oder fremde Beobachtung gesicherten Bericht eines Geschehnisses. Der Grundstein einer empirischen Geschichtsforschung, der in der Antike gelegt wurde, steht in engem Zusammenhang mit der Wortbedeutung. Das erzählte Ereignis, die einfache Darstellung von Geschehnissen, manifestierte sich in dem Anlegen von Chroniken, Annalen und Akten. Von einer Geschichtsphilosophie im Sinne einer Wissenschaft über die Geschichte, die über die empirische Berichterstattung hinaus geht, kann in diesem Sinn noch nicht gesprochen werden. In der Antike gilt der Mensch seinem Wesen nach als eigentlich ungeschichtliches Wesen. Der Natur wird ein zyklischer Zeitverlauf zugeschrieben, in dem alles auf Wiederholung beruht. Durch das Fehlen einer linearen Entwicklung kann es keinen Fortschritt geben, was eine Philosophie über Anfang, Ziel und Ende einer Geschichte überflüssig macht. Das Interesse an empirischer Geschichte begründet sich aus eher praktischen Motiven des „Preisens und Erinnerns“1.

Das europäische Mittelalter entwickelte den Geschichtsbegriff nicht wesentlich weiter. Auch hier kann von einer Geschichtsphilosophie kaum gesprochen werden, handelt es sich im Wesentlichen doch um eine Geschichtstheologie, bei der die christliche Heilserwartung im Vordergrund steht und die Vorsehung Gottes den von den menschlichen Handlungen weitgehend unabhängigen Ablauf der Ereignisse bestimmt. Obwohl die menschliche Freiheit prinzipiell gegeben ist, kann sie sich doch nur in diesem (biblischen) Kontext eingeschränkt entwickeln.

Etymologisch bedeutet „Geschichte“ also Begebenheit oder Ereignis, aber auch Bericht über Geschehenes. Zunächst wurden dabei singuläre Ereignisse, später Ereignisabfolgen beschrieben. Eine weitere Dimension des Wortes ergibt sich durch die Bedeutung „Erzählung“, die auch eine einfache Form epischer Dichtung bezeichnet (z.B. Liebesgeschichten, Kurzgeschichten...) und in diesem Sinn keinen Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit im Hinblick auf Wahrheit erheben kann.

Von Geschichtsphilosophie spricht man erst seit dem Säkularisierungsereignis zu Beginn der Neuzeit, als gesellschaftliche, politische, religiöse und naturwissenschaftliche Veränderungen und Neuerungen sowie die Entdeckung neuer Kontinente und fremder Völker ein neues Nachdenken über Sinn und Verlauf der Menschheitsgeschichte unabhängig von christlichen Heilsversprechen (die sich nicht im Diesseits erfüllen), erforderten.

1.2. Geschichtsphilosophie und das Zeitalter der Aufklärung

Mit der Aufklärung und der damit verbundenen Verabschiedung theologischer Prämissen entstand der Begriff Geschichtsphilosophie2. Die Ablehnung religiöser Dogmen als weltanschauliche Grundlage und Maßstab zur Bewertung geschichtlicher Fakten führte zu einer Lücke, die nun auf anderem Wege gefüllt werden musste. Neue Erkenntnisse und Entdeckungen der modernen Naturwissenschaften und der Technik stärkten das Vertrauen in deren unerschöpfliche Leistungsfähigkeit, die auf den Menschen und sein soziales Leben im Ganzen projiziert wurde. Die Vernunft als das natürliche, der gesamten Geschichte zugrunde liegende Prinzip gilt als programmatische Prämisse für die Geschichtsphilosophie dieser Zeit. Hier zeigt sich die gegenseitige Beeinflussung von Zeitgeist (in diesem Fall unter anderem der euphorische Bedeutungszuwachs der Naturwissenschaften und die Verabschiedung religiöser Dogmen) und Geschichtsphilosophie: diese bemüht sich generell um Wissenschaftlichkeit und Wahrheit und konstruierte ein rationales Geschichtsbild, das, von unnötigen Fakten, Fabeln, Vorsehungsglauben und Erdichtungen befreit, sich auf das Wesentliche konzentrierte und versuchte, ein Bild des Ganzen zu zeichnen. Die Annahme, dass ein unbegrenzter wissenschaftlicher Fortschritt sowohl die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen als auch die Entfaltung von Vernunft und Moral hin zu einer gerechten, vollkommenen Gesellschaft (die die Freiheit und das Glück aller gewährleistet) impliziere, gründet auf den aufklärerischen Idealen von Laizismus, politischer Mitbestimmung breiterer Bevölkerungsschichten, Gleichheit, Menschenrechten sowie der Selbstbehauptung des Individuums. Natürlich ist der Wirkungszusammenhang von Philosophie und realhistorischer Innovation hier als Wechselspiel gegenseitiger Beeinflussung zu verstehen. Von großer Wichtigkeit sind ebenfalls die seit dem 15. Jahrhundert zunehmenden neuen ethnologischen Erfahrungen durch geographische Entdeckungen außerhalb Europas. Die Überwindung des geozentrischen Weltbildes sowie die nun gewonnenen Erkenntnisse bezüglich unterschiedlicher kultureller und politischer Entwicklungsstufen verschiedener Völker waren wichtige Faktoren, die die Überwindung des traditionellen, christlich- dogmatischen Geschichtsbildes unterstützten. Die Ablösung des traditionellen Weltbildes macht also die Geschichtsphilosophie nötig, die die Orientierung nun nicht mehr jenseits, sondern innerhalb der Geschichte sucht. Gemäß dem Vico- Axiom3 „macht“ der Mensch seine Geschichte, d. h. durch freie, vernünftige Tätigkeit verändert und verbessert er seine Umwelt. Das vormals göttliche Gesetz der Geschichte wird durch ein natürliches ersetzt. Auch Kants Entwurf einer Geschichtsphilosophie muss in diesem Rahmen betrachtet werden.

1.3. Die weitere Entwicklung der Geschichtsphilosophie bis zur Gegenwart

Die klassische Geschichtsphilosophie erreicht ihren Höhepunkt später in der Philosophie Hegels und noch Marx verwendet den Fortschrittsgedanken in seiner materialistischen Geschichtsauffassung, bei der die Ungleichverteilung von Produktionsmitteln und die damit verbundenen Herrschaft der bürgerlichen Klasse über die Proletarier schlussendlich in die klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft mündet. Dieser Entwurf unterscheidet sich zwar grundlegend von den Auffassungen der Aufklärung und ist auch als Kritik an der bisherigen Geschichtsphilosophie aufzufassen, trotzdem kann er als Reaktion auf gesellschaftliche Probleme unter Verwendung des Fortschrittmotivs (dessen Konstituierung eindeutig mit der europäischen Aufklärung verbunden ist) in dieser Tradition verstanden werden.

Kurze Zeit später ist die Geschichtsphilosophie in ihrer bisherigen Form bereits in Krise und Auflösung begriffen und bis heute ist sie in keine Richtung eindeutig festzulegen. Die wachsende Realitätsferne geschichtsphilosophischer Konstrukte und das Verblassen des Fortschrittoptimismus im Zuge der Nichtrealisierung der Prognosen begründen den Zweifel an einer grundlegenden Vernünftigkeit und somit an der Einheit der Geschichte. Mannigfaltigkeit und Heterogenität gesellschaftlicher Prozesse, die Idee der Vielfalt führt zu wachsender Skepsis gegenüber einer Universalgeschichte. Deren Konstituierung erfolgt allenfalls noch als Verfallsgeschichte. Begründet werden kann diese Entwicklung wiederum mit realhistorischen Vorgängen: die sich an die französische Revolution anschließende Restaurationszeit, der damit verbundene Rückzug von der Politik ins Private, die negativen Folgen des wissenschaftlich- technischen Fortschritts sowie die scheinbare Unlösbarkeit der Sozialen Frage lassen das Vertrauen in einen allgemeinen Progress schwinden. Die Orientierungslosigkeit wird durch gesteigertes historisches Interesse zur Steigerung des Nationalgefühls bei gleichzeitiger Verabschiedung der Geschichtsphilosophie kompensiert. Diese wandelt sich nun zu einer Geschichtstheorie, bei der die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Probleme der Geschichtsschreibung und deren Abgrenzung von den Naturwissenschaften im Vordergrund stehen4. Angesichts der beiden Weltkriege, der zunehmenden Globalisierung sowie der wachsenden Bedrohung durch planetarische Katastrophen (eine Vereinheitlichung der Welt scheint wieder möglich) wird die erst diskreditierte universalhistorische Perspektive wiederaufgenommen5. Doch auch dieser Aspekt moderner bzw. postmoderner Geschichtsbetrachtung kann nicht als richtungsweisender „Trend“ der zeitgenössischen Philosophie oder der Geisteswissenschaften konstituiert werden, vielmehr handelt es sich auch dabei um einen geschichtsrelevanten Ansatz unter vielen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich aus gesamtgesellschaftlichen Veränderungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine signifikante Wandlung des Geschichtsbegriffes und in der Art und Weise der Betrachtung von Geschichte vollzog. Es etablierte sich eine Wissenschaft von der Geschichte, die sich nicht nur mit rein empirischen Erkenntnissen, sondern mit dem Wesen von Geschichte selbst befasste. Es entwickelte sich ein neues Bewusstsein von der Entwicklung der Wirklichkeit: die Welt wurde nicht als Aggregat fertiger, durch die menschliche Tat im Wesentlichen unveränderbarer Zustände, sondern von Prozessen aufgefasst, die mit dem Menschen und seiner vernünftigen Tat in enger Verbindung stehen. Somit enthält die Geschichtsphilosophie auch einen pragmatischen Charakter. Vergangenes soll nicht nur erzählt, sondern auch in Hinblick auf menschliches Verhalten von Nutzen sein. Dieser Aspekt ist in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ Kants, auf die im Weiteren eingegangen werden soll, von ausschlaggebender Bedeutung.

2. Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht

Bei dem Aufsatz handelt es sich um den ersten und zugleich umfassendsten Text zu Kants Geschichtsphilosophie6. Die pragmatische Relevanz ist von essentieller Bedeutung. Im Gegensatz zu den späteren Neukantianern begründet Kant also im Wesentlichen keine Methodologie der Geschichtswissenschaft und auch eine Akkumulation empirischhistorischer Tatsachen wäre seiner Intention gegenläufig. Vielmehr „erörtert (er) die Geschichte, insoweit sie für den Menschen als praktisches Vernunftwesen von Interesse ist“7und fragt, wie der Verlauf der Geschichte unter erfahrungsunabhängigen Bedingungen als sinnvoll erscheinen kann. Die Sinnfrage kann in dieser Form von einer rein empirischen Geschichtswissenschaft nicht beantwortet werden.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes liegt bereits nach dem Erscheinen der erkenntnistheoretischen Hauptschrift Kants, der Kritik der reinen Vernunft. Diese beeinflusst auch die praktische Philosophie: die geschichtsphilosophisch bedeutsame Naturteleologie befriedigt das Bedürfnis der Vernunft nach der Herstellung eines systematischen Erkenntnisganzen und wird als Regulativ angenommen. Geschichte wird also als teleologischer Prozess beschrieben, bei dem die Errichtung einer vollkommenen Staatsverfassung, eines weltbürgerlichen Zustandes, im Vordergrund stehen. Nur dort können sich alle menschlichen Anlagen entwickeln und allumfassende Moralität ermöglichen.

Die im Titel konstatierte „allgemeine Geschichte“ verdeutlicht den Anspruch, eine umfassende Geschichte der gesamten Menschheit als einheitlichen Verlauf darzustellen, anstatt das Augenmerk nur auf eine Nationalität oder einen Staat zu richten. Im Folgenden werde ich nun auf den Inhalt des Aufsatzes näher eingehen und die Besonderheit der kantschen Theorie verdeutlichen.

2.1. Teleologie, Natur, Vernunft und Kultur

Zunächst weist Kant darauf hin, dass bei der Betrachtung der allgemeinen Menschheitsgeschichte nicht ohne weiteres ein auf ein Ziel hin ausgerichteter Fortschritt feststellbar ist. Sie erscheint vielmehr als Chaos, das statt Höherentwicklung nur Leid hervorzubringen scheint: „Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man...bei...anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet...“8. Die offensichtliche Sinn- und Richtungslosigkeit wird von Kant jedoch als irreführend zurückgewiesen. Da keine eigene vernünftige Absicht des Menschen auszumachen ist, die eine Kontinuität von Geschichte begründen könnte, versucht er, diese in einer Naturabsicht zu finden, die den Menschen, der keinen eigenen Plan im Großen zur Maxime seiner Handlungen macht, unbewusst an einem Leitfaden lenkt und so seiner Bestimmung, der vollkommenen Entwicklung seiner Naturanlagen, zuführt.

„Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.“9 Hier kommt das naturteleologische Prinzip Kants zum Einsatz: die Natur setzt den Menschen selbst als ihren Endzweck. Sie stellt die Anlagen bereit, die zur vollständigen Vernünftigkeit, Moralität und Freiheit entwickelt werden müssen. Erst dann ist die Natur des Menschen (sein Wesen) verwirklicht und er kann seiner Bestimmung gemäß existieren.

Die menschlichen, auf den Vernunftgebrauch gerichteten Naturanlagen können sich nur innerhalb der Gattung, nicht innerhalb des Individuums entfalten, denn die Vernunft braucht, im Gegensatz zu bloß tierischen Instinkten, „Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten.“10Die dafür nötige Lebenszeit steht dem sterblichen Individuum jedoch nicht zur Verfügung, so dass sich die vollständige Anlagenentwicklung langfristig nur in der potentiell unsterblichen menschlichen Gattung vollzieht.

Das Wesen des Menschen bezeichnet Kant als die Fähigkeit zur freien, vernunftgeleiteten Praxis, die in Kontrast zur unbewussten, instinktmäßigen Neigung der Tierwelt steht. Hier wird nun der dialektische Naturbegriff im Verhältnis von Freiheit und Determinismus offenkundig: einerseits liegt die Bestimmung des Menschen in der vollständigen Entwicklung der Vernunft, die die unabhängige Tat als Folge des freien Willens ermöglichen soll,

andererseits übernimmt die Natur die Leitung und lenkt ihn, ohne, dass er es bemerkt, auf dieses Ziel hin. Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft findet gleichsam durch unser Zutun, jedoch ohne unsere Planung statt. Scheinbar verwirklicht die Natur ihre Absicht ohne oder gegen den Menschen: „(Er) will Eintracht,...sie (=die Natur, d. Verf.) will Zwietracht.“11 Es stellt sich die Frage, weshalb der Mensch unter diesen Voraussetzungen überhaupt etwas tun soll, bzw. inwieweit es seinem Wesen entspricht, wenn die Natur ihn augenscheinlich determiniert und sich ihr Telos quasi „automatisch“ einstellt. Die Antwort auf diesen Widerspruch liegt in der Absicht der Natur, mit der menschlichen Geschichte sich selbst zu überwinden. Am Ende des Prozesses steht die bürgerliche Gesellschaft, die eine vollständige Entfaltung des Wesens des Menschen erlaubt und er so wiederum seiner Natur gerecht wird. Dieser Mensch, als Endzweck der Natur und gleichsam Herr über sie, kann diese letztendlich überwinden. Die Natur selbst schafft keine Vernunft, sondern stellt Möglichkeiten und Anlagen dazu bereit. Vernunft ist nicht instinktmäßig vorprogrammiert, sondern der Mensch hat den Auftrag, sie selbst aus eigener Kraft zu entwickeln. Die Natur kreiert dafür die förderlichen Rahmenbedingungen, so z.B. die körperliche Ausstattung: da er nicht über „die Hörner des Stiers,(...) die Klauen des Löwen, noch das Gebiß des Hundes, sondern bloß seine Hände“12verfügt, muss er die elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung, Verteidigung etc. mittels Venunfteinsatz befriedigen. In dem Maße, in der die Entwicklung der menschlichen Autonomie voranschreitet, tritt die Natur als handelndes Subjekt immer weiter in den Hintergrund und transzendiert sich in letzter Konsequenz selbst, da nun der Mensch die Rolle des zweckbestimmt Handelnden ausfüllt. Mit der sich erhöhenden Selbstständigkeit nimmt die Bedeutung menschlicher Aktivität immer mehr zu. Die letzten Schritte zur Vollkommenheit sind seiner freien Entscheidung überlassen.

Da die vollständige Anlagenentwicklung nur unter der Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Zustandes erfolgen kann, ist Kultur, die Entwicklung eines sozialen Gefüges, unabdingbar. Um diese voranzutreiben, bedient sich die Natur eines Antagonismus, der „ungeselligen Geselligkeit der Menschen“13. Sie neigen einerseits dazu, sich zu vergesellschaften, da sie so ihre Bedürfnisse besser befriedigen können. Andererseits sind sie disponiert, sich zu vereinzeln, da sie sich gegen den eventuellen Widerstand anderer durchsetzen wollen und durch Eigenschaften wie „Ehrsucht, Herrschsucht...Habsucht“14bestrebt sind, sich in Konkurrenz (auch kriegerisch) zu behaupten. Der Antagonismus fungiert als Motor, der die

[...]


1 Angehrn, Emil: Geschichtsphilosophie, S.18f.

2 Voltaire spricht 1765 erstmals explizit von philosophie de l`histoire

3 Vico konstatiert 1744, dass die Geschichte für Menschen erkennbar sei, da sie von ihnen gemacht werde, in: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker

4 Zu den Vertretern dieser neukantianischen Schulen gehören u.a.:W. Windelband, E. Lask, H. Rickert, G. Simmel

5 Vertreter sind z.B. Spengler, Toynbee, Jaspers

6 daneben befassen sich noch andere Texte mit diesem Thema, z. B. Kritik der Urteilskraft, Streit der Fakultäten, Zum ewigen Frieden, Was ist Aufklärung?, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte u. a.

7 Höffe, Otfried: Immanuel Kant, S. 242

8 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ( im folgenden Idee) , S.17-18

9 Idee, S.18

10 Idee, S.19

11 Idee, S.21

12 Idee, S.19

13 Idee, S.20

14 Idee, S.21

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die "Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Zur Geschichtsphilosphie Immanuel Kants
Hochschule
Universität Leipzig
Note
2,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
18
Katalognummer
V47769
ISBN (eBook)
9783638446440
ISBN (Buch)
9783640238002
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Idee, Geschichte, Absicht, Geschichtsphilosphie, Immanuel, Kants
Arbeit zitieren
Vera Ohlendorf (Autor:in), 2004, Die "Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Zur Geschichtsphilosphie Immanuel Kants, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47769

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