Lässt sich der Begriff der Kontrollgesellschaft auf das heutige deutsche Bildungssystem projizieren?


Seminararbeit, 2018

12 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Soziale Transformation von der Disziplinär- zur Kontrollgesellschaft
2.1. Definition und Hinführung zur Problematik
2.2. Sanktionierung und Strafe in der Disziplinargesellschaft
2.3. Der Panoptismus bei Foucault

3. Anwendung und Projektion der Kontrollgesellschaft
3.1. Die ,Kontrollgesellschaft‘ in der Pädagogik
3.2. Der Panoptismus im Kontext der Pädagogik und der Bildungslandschaft
3.3. Projektion der ,Kontrollgesellschaft’ auf (Hoch)Schulen

4. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

1.Einleitung

,,Foucault gilt nicht selten als der Denker der Disziplinargesellschaften und ihrer prinzipiellen Technik, der Einschließung. [...] Aber in Wirklichkeit gehört er zu den ersten, die sagen, dass wir dabei sind die Disziplinargesellschaft zu verlassen, dass das schon nicht mehr unsere Gegenwart ist. Wir treten ein in Kontrollgesellschaften, die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle [...].” 1

Dieser Wandel in eine Kontrollgesellschaft, der vom französischen Philosophen Gilles Deleuze proklamiert wurde, ist ist Gegenstand dieser Arbeit. Es soll untersucht werden, inwiefern der von Michel Foucault und Gilles Deleuze geprägte Begriff der Kontrollgesellschaft sich auf den heutigen Zustand der Bildungslandschaft und der Erziehung in Deutschland projizieren lässt. Dazu sollen charakteristische Eigenschaften von (Hoch)schulen und Universitäten gemäß einiger Texte der Pädagogen Ludwig A. Pongratz und Gerhard Patzner fundiert analysiert werden, um sie mit dem theoretischen Konstrukt ,Kontrollgesellschaft‘ zu vergleichen.

Strukturell ist anzuführen, dass im ersten Teil der Arbeit ausgehend einer ersten definitorischen Einordnung und inhaltlicher Einführung, zunächst ein Exkurs zu Sanktionierung und Strafe in der Disziplinargesellschaft stattfindet bevor der Panoptismus von Foucault erläutert werden soll. Im Zweiten Teil soll, ausgehend dieser Erkenntnis, die ,Kontrollgesellschaft‘ auf die Pädagogik in (Hoch)schulen und Gymnasien, also die deutsche Bildungslandschaft projiziert werden. Exemplarisch soll in diesem Aspekt die Zeppelin Universität herangezogen werden, um ggf. erfrischende praxisbezogene Impulse zuzulassen.

2.Die Soziale Transformation von der Disziplinär- zur Kontrollgesellschaft

2.1. Definition und Hinführung zur Problematik

Der Begriff ,Kontrollgesellschaft‘‘ wurde vom französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995) geprägt. Er skizziert ihn erstmals im Text „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, das 1990 erschien. Hier sieht Gilles Deleuze die Kontrollgesellschaft als neue Gesellschaftsform, welche die Disziplinargesellschaft ablöst. Dieser Begriff wurde von Michel Foucault geprägt, indem er ihn 1975 in seinem Hauptwerk ,Überwachen und Strafen. Über die Geburt des Gefängnisses‘ darstellte.

Nach Deleuze ist die Disziplinargesellschaft vor allem dem 18. und 19. Jahrhundert zuzuordnen und findet ihren Höhepunkt Anfang des 20. Jahrhundert.2 In der Disziplinargesellschaft durchlaufen Individuen verschiedene voneinander abgetrennte sogenannte ,Einschließungsmilieus‘, zuerst die Familie und die Schule, anschließend die Kaserne und Fabrik, sowie eventuell das Krankenhaus oder Gefängnis.3 Das ,Einschließungsmilieu‘ wird disziplinarisch organisiert und bildet gleichzeitig die Voraussetzung und den Rahmen für die Disziplinartechnik.4 Das Ziel dieser Distribution ist, dass „niemand aus dem Blick gerät“5 sowie eine Sanktionierung eines jeden Lebensbereiches möglich ist um die Produktivität, die Effizienz, sowie damit verbunden die Wirksamkeit zu erhöhen.6

Deleuze diagnostiziert 1990 in seiner Abhandlung „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ den Zerfall dieser für die Disziplinargesellschaften so charakteristisch elementaren Einschließungsmilieus. Seiner Meinung nach, seien sie in der ,Disziplinargesellschaft‘ aufgrund der ständig für notwendig erklärten Reformen, in eine Krise geraten.7 Er führt seinen Gedanken folgendermaßen fort:

,, […] Jeder weiß, dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen.“ 8

Aufgrund dieser Krise entstehe ein neues „Repertoire an Führungstechniken“9. „An [die] Stelle [von Disziplin und Norm] treten Flexibilität, Motivation, Zielvereinbarung oder Selbststeuerung“10. Nach Ansicht Deleuzes sei dies ein Wandel von der Fabrik zum Unternehmen, das dem Individuum nun nicht mehr im einen festen Platz zuordne (im Sinne der Disziplinierung), sondern sie aufgrund permanenter Rivalität und Konkurrenzkämpfe in einen Widerstreit versetzt.11

Statt jedoch nur die Fabrik abzulösen, werde das Unternehmen ,,zum verallgemeinerbaren Modell der neuen Kontrollformen“12.

So erläutert Deleuze:

„Familie, Schule, Armee, Fabrik sind keine unterschiedlichen analogen Milieus mehr, die auf einen Eigentümer konvergieren, Staat oder private Macht, sondern sind chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt“ . 13

Folgernd, müssen sich Erfolgsaspiranten den neuen Kontrollmechanismen hingeben, sich permanent anpassen, sowie ein hohes Maß an Selbstkontrolle entwickeln.14 Während in der Disziplinargesellschaft ein sog. ,Wächterprinzip‘ mit angeordneten Sanktionen vorherrschte, wird „das neue moralische Subjekt [nun] zu seinem eigenen Beobachter, Kontrolleur, Investor: kurz zum eigenen Unternehmer“15. Folglich ist es möglich, diese neuen Kontrollmechanismen, welche alle Lebensbereiche durchziehen, auch unter den Stichworten „lebenslanges Lernen, permanente Fort- und Weiterbildung, Flexibilität bei der Jobsuche sowie Konsum als Daueraktivität“16 zu subsumieren.

Konkludierend ist ein Umbruch der Regierungsform zu konstatieren, weg von den Disziplinarformen „hin zu neuen Formen der Gouvernementalität“17, wie Foucault es ausdrückt, also eine Regierungsform mit einer, an Regierungsziele gekoppelten, Förderung von ,Selbsttechnologien‘; etwa Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit. Diese Regierungsformen setzen setzen sogenannte Subjektivierungspraktiken ins Zentrum ihrer Machtpolitik, also ,,Praktiken, die […] zu permanenter Selbstprüfung, Selbstartikulation, Selbstdechiffrierung und Selbstoptimierung anstacheln.“18

Aus Regierungssicht (Gouvernement) ist das somit eine sehr effiziente Vorgehensweise, da der Mensch diese Ziele quasi zur persönlichen intrinsischen Motivation transformiert. Im besten Fall ist somit keine externe Kontrolle mehr nötig, zur Erreichung der erklärten Ziele.

2.2. Sanktionierung und Strafe in der Disziplinargesellschaft

Für das weitere Verständnis von Pädagogik und Erziehung in (Kontroll)gesellschaften und der deutschen Bildungslandschaft ist es nötig, die Evolutionen im Rechtssystem zu kennen. Diese fand im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft statt.

Wohingegen das mittelalterliche Rechtssystem, sich auf die Ausübung physischer Gewalt stützte, etablierten sich in der Aufklärung v.a in Westeuropa neue Techniken der Machtausübung, was sich auch im Wandel der Bestrafungsmechanismen manifestiert. Diese wurde oft durch sog. Spiegelstrafen‘ repräsentiert, mit dem Ziel der Widerspiegelung des verübten Verbrechens in der Sanktionierung. Als die Bewegungen der Aufklärung die Berechtigung der mediävalen Herrschaftsformen in Frage stellte und somit eine fundamentale Transformation der politischen Systeme initiierte, umfasste dies auch die Etablierung neuer Strafformen.

So sprach sich etwa der italienische Rechtsphilosoph Cesare Beccaria (1738-1794), in seinem Werk ,Über Verbrechen und Strafen‘ bereits 1764 für die Einführung rational begründeter und milderer Strafen aus:

„Der Zweck ist also kein anderer, als den Verbrecher daran zu hindern, seinen Mitbürgern neuen Schaden zuzufügen und die anderen von gleichen Handlungen abzuhalten. Es verdienen also die Strafen und die Art ihrer Auferlegung Vorzug, die unter Wahrung der Angemessenheit den lebhaftesten und nachhaltigsten Eindruck auf die Gemüter der Menschen machen und dabei dem Schuldigen möglichst geringes körperliches Leid zufügen.“ 19

Es ist zu konstatieren, dass in der Bestrafung bzw. der Sanktionierung von Machthabern (z.B. Auch Lehrer/ Pädagogen) ggü. Ihren Untergebenen eben ein Cleavage zwischen der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft existiert. Dieser soll im Folgenden noch weiter verdeutlicht werden.

2.3. Der Panoptismus bei Foucault

Zum Verständnis, wie das Prinzip der Transparenz und der Beobachtung in Kontrollgesellschaften eingesetzt werden, soll zunächst der Panoptismus definiert und anschließend auf die Bildungslandschaft in Deutschland projiziert werden.

Ebendieser Begriff prägte der Philosoph Michel Foucault (1926-­1984) in seinem 1975 veröffentlichten Werk „Überwachen und Strafen“. Die charakteristische Machttechnik des Panoptismus, mit fein strukturierten und ausgeklügelten Kontrollformen stellt so eine Abkehr dar, von den „rigiden, mechanischen Drilltechniken“20 der Disziplinierung im 19. Jahrhundert. Es ist festzuhalten, dass in den Disziplinargesellschaften des 20. Jahrhunderts die Machtausübung verstärkt anonym auftritt.

Die Grundlage dafür stellt ein architektonisches Konzept des britischen Philosophen Jeremy Bentham dar (1748-1832), welches als Blaupause für z. B. Bildungseinrichtungen, Fabriken oder Gefängnisse dienen sollte. Dieses, als ,Panopticon‘ bezeichnete Konzept, wird durch einen mittigen Beobachtungsturm dominiert, welcher einen Blick auf sämtliche, ringförmig um den Turm angeordneten, Raumeinheiten bietet. Das Licht, welches von außen in die Zellen eintritt, führt dazu, dass die lichtdurchfluten Zellen gut einsichtbar sind, und man gleichzeitig aus der Zelle hinaus wegen des Gegenlichts den Beobachtungsturm nicht klar identifizieren kann. So kann der Insasse nicht erkennen, ob der Turm besetzt ist, und fühlt sich ständig beobachtet. Somit führt auch ein unbesetzter Turm zu den gewünschten Disziplinierungseffekten; es ist hier von einem maximal effizienten Kontrollinstrument auszugehen. Wie sich das theoretische Konzept des Panoptismus auf das praktische Beispiel (Hoch)schule projizieren lässt, soll noch versucht werden.

3. Anwendung und Projektion der Kontrollgesellschaft

3.1. Die ,Kontrollgesellschaft‘ in der Pädagogik

Dass die Entwicklungen im disziplinargesellschaftlichen Rechtssystem (siehe 2.2) an der Pädagogik nicht spurlos vorbei gingen, zeigt schon Immanuel Kant. Mit der Problematik konfrontiert, wie sich die Irrationalität pädagogischer Gewalt mit dem Anspruch, Kinder zum Gebrauch Ihres eigenen Verstandes zu ermutigen, miteinander vereinbaren ließen fragt er sich: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“21. Folglich wurden körperliche Bestrafungen durch subtilere Strafformen ersetzt, welche auf die Seele des Bestraften abzielten,22 und der „allgemeinen und vernünftigen Sittlichkeit dienen soll“23.

Der zweite Entwicklungsschritt manifestierte sich im 19. Jahrhundert in der zunehmenden „Mechanisierung der Sanktionsformen“24,um Konformität durch Drill, Intensivierung und Wiederholung herzustellen25. Als dritten Entwicklungsschritt seit der Aufklärung sieht der Pädagoge Ludwig Pongratz das reformpädagogische panoptische Strafen, das sich „weicher, flexibler Kontrollformen“26 bedient.

Für Disziplinargesellschaften so zentrale Schwerpunkte verlieren seit den 1980er Jahren zunehmend an Importanz; so Pongratz: „Disziplin und Norm garantieren heute längst keine Produktivität mehr“27. Stattdessen verschieben sich die Werte stets mehr in Richtung Eigenverantwortlichkeit und Flexibilität.

Gilles Deleuze hingegen charakterisiert diese Verschiebung anhand der Transformation von einer Fabrik, welche als klassisches Einschließungsmilieu gilt, zu einem modernen Unternehmen (exemplarisch für Selbstverantwortung und intrinsischer Motivation). So ist der Mensch nicht mehr als Glied einer eindeutig konturierten Gemeinschaft zu sehen, sondern wandelt sich in einen Entrepreneur mit adäquatem Leistungs- und Adaptionsdruck.

Ein weiterer Transformationsprozess stellt etwa die Ablösung der Schule durch die permanente Weiterbildung dar und die Tendenz vom Examen zu kontinuierlicher Kontrolle.28

Analysiert man „Vorzeigeprojekte“ in der Bildungspolitik, etwa, der ,Europäische Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen‘ oder die ,Bologna-Reform‘, erweisen sich Deleuzes Analysen als sehr visionär.

Der Pädagoge Ludwig Pongratz schreibt zu dieser Entwicklung:

„Kennzeichen des aktuellen Umbruchs sind also nicht nur ökonomische oder soziale Deregulierungsprozesse; Kennzeichen ist auch eine parallel laufende .moralische Aufrüstung'. Denn gefordert wird nicht nur ein ökonomische kalkulierendes Selbstverhältnis, sondern der beständige Ausweis von Eigenverantwortlichkeit, privater Vorsorge und selbsttätiger Prävention.“29

Wohingegen das Kennzeichen der Disziplinargesellschaften somit die ständige Beobachtung durch umgebende Personen war, verlagert sich dieser „vervielfachte, permanente, panoptische Blick“30 ins Innere des Individuums und wird zu dessen eigenem Kontrolleur.

...


1 Deleuze 1993, S. 250

2 vgl. Deleuze 1993

3 vgl.ebd.

4 vgl. ebd.

5 Balzer 2015, S. 13

6 vgl. Foucault 1994a

7 vgl. Deleuze 1993

8 Deleuze 1993, S.254

9 Pongratz 2010b, S.125

10 Pongratz 2010, S. 66

11 vgl. ebd

12 Pongratz 2010b, S.125

13 Deleuze 1993, S. 260

14 vgl. Balzer 2015

15 Pongratz 2010 S.24

16 Maurer 2006, S.133

17 Pongratz 2010, S.68

18 ebd.

19 Beccaria 1851, S. 41

20 Pongratz 2010, S. 65

21 Kant 1964, S. 711

22 Pongratz 2010a, S. 187

23 ebd., S. 187

24 ebd., S.187

25 vgl. ebd.

26 Pongratz 2010, S. 65

27 Pongratz 2010, S. 66

28 Deleuze 1993, S. 256

29 Pongratz 2010, S. 68

30 ebd.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Lässt sich der Begriff der Kontrollgesellschaft auf das heutige deutsche Bildungssystem projizieren?
Hochschule
Zeppelin University Friedrichshafen
Note
2,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
12
Katalognummer
V476735
ISBN (eBook)
9783668961845
ISBN (Buch)
9783668961852
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gesellschaft, soziologie, kontrolle, organisation, bildung
Arbeit zitieren
Andreas Evers (Autor:in), 2018, Lässt sich der Begriff der Kontrollgesellschaft auf das heutige deutsche Bildungssystem projizieren?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/476735

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