Motive in Kafkas Werken. Biographische Referenzen und deren Umsetzung in "Kafkas Träume"


Facharbeit (Schule), 2017

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

(I) Einleitung

(II) Hauptteil

1. Motivik in Kafkas literarischen Werken
1.1 Motiv der Metamorphose – Regression des Protagonisten
1.2 Schuld und Strafe
1.3 Das Bettmotiv
1.4 Entwicklung des Vater-Sohn-Konfliktes - Gender Studies

2. Adaption der Motivik in „Kafkas Träume“

(III) Abschließendes Urteil und Fazit

(IV) Anhang

„Kafkas Träume“

Endnotenapparat

Quellenverzeichnis

Kurzfassung

Die vorliegende Arbeit geht der Fragestellung nach, inwiefern die motivische Gestal- tung Franz Kafkas in den Erzählungen „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ das Werk des Autors im Bezug auf biographische Elemente widerspiegelt. Ziel ist dabei nicht etwa, biographische Bezüge im Werk selbst darzulegen, sondern diese explizit mit den angeführten Motiven zu verknüpfen und anschließend herauszustellen, welches das für Kafkas Erzählungen wichtigste Motiv ist.

Im Fokus der Ausarbeitung stehen hierbei das Motiv der Metamorphose, das Motiv von Schuld und Strafe, das Bettmotiv und der Vater-Sohn-Konflikt als Kernmotiv in Kafkas Gesamtwerk. Die Ausarbeitung des Bettmotivs stellt dabei primär eine Vernetzung der Motive innerhalb der Arbeit dar und steht in keiner direkten Relation zu Kafkas Biogra- phie. Während im Motiv der Metamorphose die äußere Handlung im Fokus steht, be- spiegelt die Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition des Strafmotivs die Mentalität der jeweiligen Handlungsträger. Der Vater-Sohn-Konflikt wird im Verlauf der Arbeit in Verbindung mit den einzelnen Motiven verflochten und in den biographi- schen Kontext eingebettet. Im Konnex mit der Entwicklung desselben unter gendertheo- retischer Perspektive wird das Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes als solches in seiner Multifunktionalität definiert.

Die anschließende Verknüpfung mit Der Ws Kafkas Träume führt die erwähnten Moti- ve schließlich zusammen und bettet Franz Kafkas Wirken als Schriftsteller in die heuti- ge Zeit ein.

Zweifellos gilt Franz Kafka als einer der bedeutendsten und kontroversesten Schriftstel- ler seiner Zeit. Während die meisten seiner Werke erst posthum der literarischen Öffent- lichkeit zuteilwurden, brachte der Höhepunkt seines Schaffens zu seinen Lebzeiten be- reits einige Erzählungen hervor, die heute mit großer Ambivalenz rezipiert werden und dem Kanon der Weltliteratur angehören. Ziel dieser Arbeit ist es, die beiden Erzählun- gen Das Urteil (1913) und Die Verwandlung (1915) im Zuge einer aspektorientierten Analyse ausgewählter Motive, verknüpft mit autobiographischen Entsprechungen, in Einklang zu bringen und die Signifikanz der angewandten Motivik kohärent im Werk zu positionieren. Anschließend werden die Ergebnisse in den Kontext der musikalischen Adaption Kafkas Träume eingebettet und anhand inhaltlicher Bezüge erörtert. Das lite- rarische Motiv als sinnstiftendes, in sich einheitliches und wiederkehrendes Element der Diegese wird hierbei stets im Zentrum der Ausarbeitung stehen.

Da eine umfassende, präzise Untersuchung beider Werke den formalen Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird Das Urteil vorwiegend als Referenzmaterial zur differen- zierteren Betrachtung angeführt, während der Fokus sich auf Die Verwandlung richtet. Die Wahl des Themas wurde aus persönlicher Motivation heraus getroffen.

Kafkas Urteil reflektiert die Geschichte von Georg Bendemann, einem erfolgreichen, jedoch zaghaften Kaufmannssohn, der nach dem Tod seiner Mutter die Pflege und das Geschäft seines kranken Vaters übernimmt. Angesichts seiner Verlobung ist Georg im Begriff, einem entfremdeten Freund in Russland nach einigem Zögern seine Hochzeits- pläne zu verkünden und seinem Vater von dem Vorhaben zu berichten. Im Gespräch offenbart dieser, dass er selbst in reger Korrespondenz mit dem Freund steht und ihn fortlaufend über alle Ereignisse im Hause Bendemann unterrichtet hat. Daraufhin ent- brennt ein Streit zwischen Vater und Sohn, der im Suizid des Sohnes mündet.

Die Verwandlung verweist sowohl strukturell als auch inhaltlich auf Parallelen zum früher erschienenen Urteil und rückt die beiden Erzählungen somit in einen sich ergän- zenden Nexus. Handlungsträger der 1915 erschienenen Erzählung ist Gregor Samsa, ein reisender Tuchhändler, der sich eines Morgens zu einem Ungeziefer verwandelt in sei- nem Bett wiederfindet und so eine nachhaltige Wende der Familiendynamik auslöst. Der aus der prekären Situation erwachsene Kampf zwischen Vater und Sohn spitzt sich im Laufe der Handlung immer weiter zu, sodass Gregor am Ende verwahrlost und schwach aufgibt und schließlich stirbt. Während die Zeitspanne der Erzählung im Urteil lediglich ein paar Minuten beträgt, überdauert die Leidensgeschichte der Familie Samsa mehrere Monate.

1. Motivik in Kafkas literarischen Werken

1.1 Motiv der Metamorphose - Regression des Protagonisten

Unlängst ist in der Forschungsliteratur zu Franz Kafka die Annahme einer nicht nur physischen Metamorphose des Protagonisten, sondern auch einer metamorphischen Überführung der Familie in diametrale Verhältnisse allgegenwärtig. Die Familie Samsa, welche zu Beginn der Erzählung noch von den beruflichen Erzeugnissen des Sohnes getragen wird, gerät durch Gregors Verwandlung unmittelbar in eine Situation, welche ein radikales Umdenken erfordert. So verwandelt sich der Vater vom kranken, müden Mann und Nutznießer der Familie1 zum arbeitstüchtigen Versorger (vgl. V 49f.). Die Schwester, welche zu Beginn noch für Gregors Wohlbefinden sorgt und deren Lebens- weise „daraus bestanden hatte, sich nett zu kleiden, lange zu schlafen […] und vor allem Violine zu spielen“ (V 39), verwandelt sich im Laufe der Erzählung zu seiner erbitterts- ten Feindin und Verbündeten des Vaters (vgl. V 64f.). Auch die Mutter übernimmt be- rufliche Verantwortung für die Familie, indem sie „feine Wäsche für ein Modenge- schäft“ (V 52) näht. Mit jeder dieser Verwandlungen geht eine Stärkung der Machtposi- tion im Beziehungsgefüge der Familie einher2. Die Familie Samsa transmutiert zu ei- nem familiären Ideal, das durch den beruflichen Ehrgeiz und die inzwischen „zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht[e]“ (V 72) Tochter wieder gesellschaftsfähig ist, während Gregor zu einem Ungeziefer, einem Schädling degradiert wird und „kre- piert“ (V 68).

Der Regressionsprozess Gregors ist mit seiner Verwandlung zum Käfer jedoch keines- falls abgeschlossen, der regressive geistige Verwandlungsprozess setzt erst nach der Metamorphose ein. So ist Gregor zu Beginn der Erzählung noch imstande, sich halb- wegs verständlich zu artikulieren und versucht, seine neue Gestalt gemäß der ihm ge- wohnten menschlichen Physis zu beherrschen, woran er jedoch scheitert (vgl. V 12-14). Seine Artikulationsfähigkeit verliert er augenscheinlich erst im Laufe des sukzessiven Regressionsprozesses; während er zunächst wirkungsvoll versucht „seiner Stimme [durch die sorgfältige Aussprache und lange Pausen] alles Auffällige zu nehmen“ (V 12), erkennt der Prokurist später seine „Tierstimme“ (V 21). Darüber hinaus fühlt Gre- gor sich unter dem engen Kanapee „gleich sehr behaglich“ (V 32) und das Kriechen an den Zimmerwänden empfindet er als natürlich (vgl. V 42). Auch sein Appetit auf Ver- dorbenes (vgl. V 33f.), die geradezu hypnotische Anziehungskraft der Musik3 und der Verlust von Scham (vgl. V 46f.) verweisen auf eine Hinwendung zum Käferdasein und die damit verflochtene Regression des Helden4.

Ähnlich wie in der Verwandlung stellt Kafkas Urteil ebenfalls eine Umkehr der Macht- verhältnisse zu Ungunsten des Sohnes dar: Indes der Vater zu Beginn der Erzählung noch in seinem „schwere[n] Schlafrock“5 Zeitung zu lesen pflegt (vgl. auch V 23) und über seine schwindende Geistesstärke klagt6, erhebt er nach der Revelation seiner Ab- sichten und dem Wortgefecht mit Georg seinen Anspruch als „Riese“ (U 12) und rich- tet den Sohn zugrunde7.

Mit dieser Inversion des Machtgefüges geht freilich ebenfalls eine Regression des Pro- tagonisten einher. Georg Bendemann agiert passiv, zieht sich zurück (vgl. U 17), „macht[ ] Grimassen, als glaube er das nicht“ (U 18) und gibt sich unverständlichen Gedankenspielen hin (vgl. U 18), während auch er gleichsam seine Stimme verliert8. Das auferstandene „Schreckbild seines Vaters“ (U 16) degradiert ihn zum viel Kleine- ren, zum Kind und schließlich zum Todgeweihten. Das Erstarken des Vaters steht in beiden Erzählungen in unmittelbarer, sich bedingender Korrelation zur Degradation des Sohnes.

Das Motiv der Metamorphose, oder im engeren Sinne das Changieren zweier diametra- ler Zustände, spiegelt sich über Franz Kafkas schriftstellerische Existenz hinaus auch in seiner Biographie wider.

Zeit seines Lebens hat Kafka versucht, der väterlichen Gewalt zu entfliehen9 und sich in ein anderes Leben zu flüchten. Den Wunsch nach einer einschneidenden Veränderung macht er dabei an einer Heirat fest, wie er vermehrt im Brief an den Vater zum Aus- druck bringt: „In Wirklichkeit aber“, so schreibt er, „wurden die Heiratsversuche der großartigste und hoffnungsreichste Versuch Dir zu entgehn [sic], entsprechend großartig war dann allerdings auch das Misslingen.“10. Das Scheitern seiner Beziehungen bezieht er dabei primär auf seine eigene „geistig[e] [U]nfähig[keit]“ (B 497), die sich in der Erziehung des Vaters dergestalt widerspiegelt, dass indoktrinierte „Beschämung, Müdigkeit, Schwäche [und] Schuldbewusstsein“ (B 477; Herv.: L.M.) das Selbstwertge- fühl des Sohnes zugrunde gerichtet haben. Nach der Bekanntgabe der Verlobung mit Julie Wohryzeck 1919 habe Hermann Kafka in etwa zu seinem Sohn gesagt: „Sie [Julie] hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen […] und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen sie zu heiraten“ (B 495f.), was mit der Aussa ge des Vaters im Urteil korrespondiert (vgl. U 17). Die „positiven Kräfte“ (B 492), die Kafka aus der Hoffnung auf Selbstverwirklichung und Autonomie schöpft, unterliegen schließlich den „negativen Kräfte[n]“ (B 492), die als „Mitergebnis [der väterlichen] Erziehung […] einen Kordon zwischen [Kafka] und der Heirat [ziehen].“ (B 492).

Die angestrebte Ebenbürtigkeit (vgl. B 498) bleibt schließlich ein nicht erfüllbarer Wunsch, eine naive Hoffnung, die in Perspektivlosigkeit und „grenzenlose[m] Schuld- bewusstsein“ (B 484) mündet11.

1.2 Schuld und Strafe

Ungewöhnlich an Gregors Schicksal ist, dass das Geschehene in keinster Weise rationa- lisiert wird, die Verwandlung des Sohnes wird weder hinterfragt noch umzukehren ver- sucht. Die Darstellung einer Degradationsmetamorphose als Vergeltungsakt hat sowohl in literarischer als auch in religiös-mythologischer Tradition einen langen kulturellen Wert. Schon bei Ovids Metamorphoseon libri gilt die Verwandlung mythologischen Ursprungs mitunter als eine von göttlicher Macht erzwungene Erniedrigung, die oftmals gleichermaßen in einem Verlust von Mobilität, Artikulation und Geistesstärke mündet12. Im Gegensatz zu den Metamorphosen des Ovid, die den Akt der Verwandlung und die unmittelbaren Folgen schildern, setzt Kafkas Erzählung erst nach der Verwandlung ein, was den Fokus auf das Verwandlungsopfer Gregor und die folgenden Episoden der Fa- milieninteraktion legt.

In literarischer Tradition einer Degradationsmetamorphose steht auch die Gattung des Märchens, Beispiele hierfür wären unter anderem Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich und Die sieben Raben der Brüder Grimm. Monika Schmitz-Emans beschreibt Kafkas Verwandlung als einen „in die Realität dringenden Alptraum“13, weist zugleich aber auch auf Parallelen zu „märchenhaften Verwandlungen“13 hin. Sie setzt Die Ver- wandlung mit Märchen in Beziehung, in denen der Protagonist eine weibliche Partnerin hat, die ihn zu entzaubern vermag und macht diese Funktion an Gregors Schwester Gre- te fest, welche ihn schließlich jedoch verrät und der Erzählung durch diese Inversion so ihre Präzision verleiht14. Gregors Schwester nimmt zwar eine Rolle größter Signifikanz in der Erzählung ein, ist aber unqualifiziert Gregor zurückzuverwandeln, da der Urheber der Verwandlung, konträr zu den von Schmitz-Emans angeführten Märchen Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich und Die Schöne und das Biest, nicht genannt wird. Schmitz-Emans verweist durch ihren Vergleich weiterhin auf eine Liaison, die Schwester und Sohn im Verlauf der Handlung eingehen müssten, jedoch ist Gegenteili- ges der Fall; Grete wendet sich von Gregor ab und diffamiert ihn ganz und gar als un- menschlich (vgl. V 64f.).

Nun kann man der Verwandlung zwar auch einige märchentypische Elemente entneh- men, wie etwa die Degradationsmetamorphose als literarisches Motiv und die darauf- folgende existenzielle Krise des Helden, das obligatorische Tiermotiv, die Dualität von Gut und Böse, dargestellt durch den innerfamiliären Konflikt, als klassisches Märchen kann die Erzählung jedoch nicht gelten. Während in Märchen meist eine Rückverwand- lung der Kreatur stattfindet, fehlt diese in der Verwandlung gänzlich und der Protagonist „krepiert“ (V 68) stattdessen; das märchentypische glückliche Ende der Erzählung bleibt aus. Die Lage wird durch die Inversion der Machtverhältnisse innerhalb der Fa- milie zu einer für den Helden unüberwindbaren Prüfung, an der er schließlich zugrunde geht.

Eine mögliche Anspielung auf Leopold von Sacher-Masochs Novelle Venus im Pelz (1870)15 spiegelt im Hintergrund der Kafka’schen Darstellungskunst den Ausdruck von Schuld und Selbstbestrafung wider . In der Verwandlung heißt es „Über dem Tisch […] hing das Bild, […] [e]s stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff […] dem Zuschauer entgegen- hob.“ (V 9). Die sexuelle Konnotation dieses Satzes ist kaum zu übersehen. Das Bild der Dame im Pelzmantel steht, auch im Hinblick auf Kafkas Korrespondenz mit Felice Bauer, figurativ für Gregors voluptuöses Verlangen und seinen Wunsch nach Zweisam- keit16, der aufgrund seines Schicksals jedoch (auch vor der Verwandlung) unerfüllbar zu sein scheint. Dennoch versucht Gregor rigoros, an diesem festzuhalten: Nach diversen Säuberungsaktionen entschließen die Mutter und Grete, Gregor das Kriechen durch ein Entfernen der Möbel zu erleichtern. Gregor versucht daraufhin verzweifelt, sich wenigs- tens das Bild der Dame im Pelz zu bewahren (vgl. V 46f.), was dessen hohen Stellen- wert zum Ausdruck bringt. Verknüpft man diese Episode mit Sacher-Masochs Novelle, so wird ein Zusammenhang deutlich; Severin, von seiner Herrin erhält er den Namen Gregor, verliert sich im Laufe der Novelle zwischen Liebe und Leid. Er ersehnt und verabscheut das Bestraftwerden zugleich. In ähnlicher Weise empfindet Gregor Samsa die Ambivalenz zwischen der platonischen Liebe zu seiner Familie und seinem Leid17. Im Brief an den Vater schreibt Kafka immer wieder von einem „Schuldgefühl“ (B 470; 478) oder häufiger: „Schuldbewusstsein“ (B 473; 475; 477; 484f.), welches ihn fortwäh- rend durchläuft. Im literarischen Kontext der Verwandlung könnte diese autobiogra- phisch begründete Schuld, welche sich auch in der „Schuld der Eltern“ (V 11), später der „Schuld des Vaters“ (V 38), widerspiegelt, die Gregor noch immer abbezahlen muss und die ihn daran hindert, selbständig zu werden (vgl. V 10f.), für Gregor die Rechtfer- tigung seiner Strafe darstellen. Denn hinterfragt hat er seine Verwandlung nur marginal. Hartmut Binder beschreibt die Verwandlung Gregors in seinem Buch Motiv und Gestal- tung bei Franz Kafka als „Folge unmenschlicher Lebensbedingungen, ein[en] Vorgang also, der die verfehlte Existenz[18 ]nun auch äußerlich sinnfällig macht“19

Im Urteil ist nicht nur die Regression Georgs, sondern auch der Strafvollzug mit der Inversion des Machtgefüges verflochten, was beide Motive unweigerlich in denselben Sachzusammenhang rückt. Die Verwandlung des Sohnes zum Devastierten und dessen durch den Vater angekündigte Strafe ergänzen sich zu einem homogenen Aspekt der motivischen Gestaltung. Bestraft wird Georg Bendemann für sein verfehltes Leben20 ; er habe den Freund verraten, das Andenken seiner toten Mutter geschändet und die Krank- heit seines Vaters ausgenutzt, um das Geschäft an sich zu reißen (vgl. U 17). ebenso wie in der Verwandlung wird er von seinem Vater zugrunde gerichtet (vgl. U 19), wenn dies auch in beiden Fällen nicht direkt geschieht21. Während Georg selbst derjenige ist, der das Urteil des Vaters vollstreckt und Suizid begeht22, erliegt Gregor Samsa in der Ver- wandlung gegen Ende seinen Verletzungen. In beiden Fällen wird der Vater zumindest scheinbar von jeglicher Schuld freigesprochen.

1.3 Das Bettmotiv

Das Bett hat in Kafkas literarischen Werken stets eine symbolhafte Sonderrolle einge- nommen, es steht laut Gerhard Kurz „leitmotivisch [für den] Ort des Todes und der Wiedergeburt, der Wahrheit und der Offenbarung“23, zugleich spiegelt es Krankheit und Schwäche wider. Im Urteil stellt das Bett ebendiesen Zustand dar; zentrale Handlungen erfolgen stets in unmittelbarer Nähe des Bettes, dabei wird diesem zugleich eine Schlüs- selfunktion zugesprochen, die das Zusammenspiel von Leben und Tod darstellt. Dass der Vater im Urteil, der „[noch nicht] zugedeckt“ (U 16) ist, und der Sohn, der „das Bettzeug besser um ihn [legt]“ (U 16), hier im übertragenen Sinne einen tödlichen Machtkampf eingehen24, bestärkt Kurz‘ These. In dem Szenario steht das Bett leitmoti- visch für den Tod Georgs und die Wiedergeburt des Vaters. Die Szene am Bett des kranken Vaters läutet nachhaltig eine Inversion der Machtverhältnisse ein und stellt im Kontext der Erzählung das Moment größter Spannung dar. Die enorme Gewalt des Va- ters wird durch die Bettdecke, die sich „im Fluge ganz entfaltete“ (U 17) und den darauf folgenden Passus zum Ausdruck gebracht: „Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich.“ (U 17; Herv.: L.M.). Der Vater, der nach diesem letzten Kraftakt mit voller Gewalt zurück „aufs Bett stürzt[ ]“ (U 19; Herv.: L.M.), wird hierbei mit dem sterbenden Sohn gleichgesetzt25.

Auch im Sachzusammenhang der Verwandlung ist das Motiv des Bettes (ersatzweise des Kanapees) ein zentrales Thema der Deutung. Nach seiner Verwandlung erwacht, findet sich Gregor in seinem Bett wieder, aus dem er sich gar nicht mehr recht zu be- freien weiß (vgl. V 13f.). Er verkörpert ebenso wie der Vater im Urteil, der sich zu Be- ginn der Erzählung noch im „Schlafrocke“ (U 12) befindet, zu diesem Zeitpunkt das Bild des trägen, kranken und hilfsbedürftigen Mannes. Die im Kontext literarischer Me- tamorphosen angesprochene Degradationsmetamorphose lässt sich gleichermaßen mit dem Bettmotiv vereinen; der Übergang vom Bett zum Kanapee steht in der Verwand- lung leitmotivisch für die Umkehr der Machtverhältnisse innerhalb der Familie, ausge- löst durch Gregors Verwandlung. Dass er sich unter dem Kanapee jedoch „gleich sehr behaglich“ (V 32) fühlt, scheint auf ein langsames Abfinden mit seiner Situation hinzu- deuten oder den fortschreitenden (auch geistigen) Verwandlungsprozess Gregors und die damit einhergehende Regression des Protagonisten26.

1.4 Entwicklung des Vater-Sohn-Konfliktes - Gender Studies

Im Verlauf der Arbeit sind die Kernaspekte des Vater-Sohn-Konfliktes bereits eruiert und in den biographischen Kontext eingebettet worden, weshalb die folgende Rubrik die Entwicklung desselben in den Fokus rückt.

Der Kampf zwischen Vater und Sohn zeichnet sich im Gesamtkontext der Verwandlung durch drei beziehungsweise vier Entwicklungsphasen aus27.

Die Ausgangssituation, noch bevor die Erzählung einsetzt, ist die durch den beruflichen Erfolg gegebene Dominanz des Sohnes, welche nach seiner Verwandlung zu Gunsten des Vaters annulliert wird. Gregor hat nach dem geschäftlichen Misserfolg seines Vaters gewissermaßen dessen Platz in der Familie einnehmen müssen, während jener vergreist und jegliche Verantwortung ablegt. Der Sohn ist durch die Versorgerrolle, die er in der Familie übernimmt, unverzichtbar und somit dem Vater, der „gar nicht recht imstande war, aufzustehen“ (V 49) deutlich überlegen. Die zweite Phase tritt unmittelbar nach Gregors Verwandlung ein. Die Hierarchie in der Familie durchläuft einen Wandel, die Beziehung zwischen Vater und Sohn bleibt dabei weiterhin durch Distanz und Kühle gekennzeichnet. Fast scheint es, als würde Gregors Vater die prekäre Situation missin- terpretieren; rigoros hält er an der Schuld des Sohnes fest und macht ihn selbst für sei- nen Zustand verantwortlich. Wenngleich er von Gregors verwandelter Gestalt zu diesem Zeitpunkt noch nichts weiß, nimmt er bereits kurz nach der vagen Erkundigung nach dessen Befinden wieder Platz am Frühstückstisch, während Grete und die Mutter be- sorgt auf eine Erklärung insistieren (vgl. V 12). Auch im Dialog mit dem Prokuristen nimmt der Vater zunächst eine passive Rolle ein. Die Phasen der Entwicklung weisen dabei keine vollkommen definierten Grenzen auf und gehen zum Teil ineinander über. Die nachträgliche Besinnung des Vaters (vgl. V 52) verweist auf eine komplexe Vernet- zung der verschiedenen Stadien. Erst im späteren Verlauf der Erzählung wird der Kon- flikt zwischen Vater und Sohn offen ausgefochten. Dieser Umschwung stellt die dritte und letzte Entwicklungsphase des Beziehungsgefüges dar, welche in der zurückgewon- nenen Dominanz des Vaters und der vollständigen Vernichtung Gregors resultiert. Durch das Kontrastieren der väterlichen Attribute vor und nach der Verwandlung illus- triert Kafka das Erwachen des Vaters, gipfelnd in der Frage Gregors „war das noch der Vater?“ (V 49) und dem darauffolgenden Passus. Sein Blick „[dringt] frisch und auf- merksam hervor“ (V 49), erfasst Gregor und richtet ihn. Die Dominanz des Vaters wird durch das Hinaufschauen des Sohnes auf die „Riesengröße“ (V 50) des Vaters, bezie- hungsweise seiner Sohlen, nun auch äußerlich sinnfällig. Die Klimax väterlicher Gewalt stellen der Apfelwurf und die daraus resultierenden Verwundungen des Sohnes dar, die bildhaft auch für den seelischen Schmerz Gregors stehen können, an dem er schließlich zugrunde geht.

[...]

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Motive in Kafkas Werken. Biographische Referenzen und deren Umsetzung in "Kafkas Träume"
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
22
Katalognummer
V476726
ISBN (eBook)
9783668953611
ISBN (Buch)
9783668953628
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Franz Kafka, Motivik, Der W, Stephan Weidner, Musik, Lyrik, Literaturtheorie, Gender Studies, Die Verwandlung, Das Urteil, Brief an den Vater, Ovid, Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, Adaption
Arbeit zitieren
Luca Maurer (Autor:in), 2017, Motive in Kafkas Werken. Biographische Referenzen und deren Umsetzung in "Kafkas Träume", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/476726

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