Betrachtungen über den Versuch die biologische Erkenntnistheorie Humberto Maturanas und Francisco Varelas auf den pädagogischen Konstruktivismus von Horst Siebert zu übertragen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eine erkenntnistheoretische Vorschau
2.1 Grundfragen der Erkenntnistheorie
2.2 Vom Zweifel an der Erfahrbarkeit einer objektiven Welt
2.3 Die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie

3. Biologische Grundlagen der Erkenntnistheorie Maturanas und Varelas
3.1 Die Organisation von Lebewesen – eine Darstellung des Modells von Maturana und Varela
3.1.1 Voraussetzung für die Existenz von Lebewesen
3.1.2 Autopoiese und Viabilität
3.1.3 Strukturkoppelung
3.1.4 Strukturdeterminiertheit
3.1.5 Operationale Geschlossenheit des Nervensystems
3.2 Die Erkenntnistheorie Maturanas und Varelas
3.3 Kritikpunkte an diesem Entwurf

4. Möglichkeiten der Übertragung der biologischen Erkenntnistheorie Maturanas und Varelas auf den pädagogischen Konstruktivismus Sieberts
4.1 Einordnung des pädagogischen Konstruktivismus
4.2 Auswahl von Begriffen aus der Neurobiologie
4.3 Schlussfolgerungen für die Erwachsenenbildung
4.3.1 Von Autopoiese und operationaler Geschlossenheit ausgehend
4.3.2 Von Strukturkoppelung ausgehend
4.3.3 Von Strukturdeterminiertheit ausgehend
4.3.4 Ethische Implikationen

5. Schluss/Fazit

6. Literaturliste

1. Einleitung

Betrachtet man Möglichkeiten der Didaktik der Erwachsenenbildung, wird man auf ein neues Paradigma treffen: den pädagogischen Konstruktivismus. Sieht man sich dessen Voraussetzungen an, stellt man fest, dass dieser sich neben philosophischen und psychologischen Begründungen, zu einem wesentlichen Teil auf biologische Begründungen stützt. Dieses Vorkommen von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist in der Pädagogik eher eine Seltenheit.

Dass die Naturwissenschaften philosophischen und auch pädagogischen Fragen nachgehen ist relativ neu. Erst im 19. Jh. nahmen sie sich solcher Fragen an. Sie wähnten sich in der Rolle der Welterklärer, welche vorher die Philosophie innehatte. Seit dem 20. Jh. gibt es vermehrt Versuche, naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse mit einander zu verbinden oder sie doch zumindest gegenseitig zu berücksichtigen.

Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit einem solchen Versuch. Hier geht es um die Verwendung der biologischen Erkenntnistheorie Humberto Maturanas und Francisco Varelas für den pädagogischen Konstruktivismus nach Horst Siebert.

Um die Erkenntnistheorie dieser Neurowissenschaftler einordnen zu können, gebe ich zunächst einen groben Überblick über ein zentrales Problem der Erkenntnistheorie. Dieser Ausschnitt führt dann geradehin zu den Erklärungsversuchen der Naturwissenschaften (2. Kapitel). Aus diesen allgemeinen Voraussetzungen greife ich dann die – für den pädagogischen Konstruktivismus zentrale – biologische Erkenntnistheorie Maturanas und Varelas auf (Kapitel 3.1). Das Vorstellen der von diesen Neurowissenschaftlern gesetzten biologischen Voraussetzungen bildet die Ausgangsbasis für ihre Erkenntnistheorie. Diese wird in Anbetracht der erkenntnistheoretischen Vorschau auf Stärken und Schwächen hin untersucht (Kapitel 3.2-3.3). Wie die biologischen Begrifflichkeiten dieser Erkenntnistheorie dann von dem pädagogischen Konstruktivismus verwendet werden, betrachte ich im 4. Kapitel. Eine Voraussetzung dafür schaffe ich mit dem Vorstellen des Konstruktivismus (Kapitel 4.1).

2. Eine erkenntnistheoretische Vorschau

2.1 Grundfragen der Erkenntnistheorie

Traditionell definiert sich die Erkenntnistheorie durch zwei Aufgaben. Die erste geht davon aus, dass Erkenntnis möglich ist und will daher über ihr Wesen, ihren Ursprung und ihre Grenzen aufklären. Zumeist beginnt diese Aufklärung explikativ, indem die Begriffe aufgeschlüsselt werden, die eng mit Erkenntnis zusammenhängen (z.B. Wissen, Meinen, Glauben …).

Die zweite Aufgabe hingegen berücksichtigt die Möglichkeit, an Erkenntnisfähigkeit zu zweifeln. Sie versucht daher aufzuzeigen, dass es Erkenntnis geben kann und gibt (Ricken, S. 55f.).

Diese Fragen über das ob und wie von Erkennen sind sehr ursprüngliche, philosophische Fragen. Bis ins 19. Jh. hinein hieß dieser Teil der Philosophie Metaphysik. Darunter verstand z.B. Aristoteles die Wissenschaft von den Gründen und Ursachen alles dessen, was ist. Die Erkennbarkeit jener wurde mehr oder minder vorausgesetzt.

Descartes stand einer so hingenommenen Möglichkeit einer objektiven Seinserkenntnis skeptisch gegenüber. Sinnestäuschungen und die Vorstellung von einem bösartigen Gott, in dessen Traum wir – als Subjekt – nur als Gespinste vorkommen, galten ihm hierfür als Indizien. Dieser Skeptizismus wirkt bis heute nach – in dem Sinne, dass man methodisch den Beginn mit dem Zweifel für unvermeidlich hält.

2.2 Vom Zweifel an der Erfahrbarkeit einer objektiven Welt

Vom methodischen Zweifel ausgehend postuliert Descartes, dass wir nur von den Zuständen unseres Bewusstseins Gewissheit haben können und fragt, wie wir wissen können, ob unsere Bewusstseinszustände die Welt richtig repräsentieren. Wäre es nicht möglich, dass die Realität ganz anders ist, als wir sie (in uns) abbilden?

Ein großer Teil der traditionellen Erkenntnistheorie besteht im Versuch, dieses Problem zu lösen. So wurde Erkenntnistheorie schließlich die allen Einzelwissenschaften vorgeordnete Disziplin, welche die jeweilige Wissenschaft begründet, indem sie zeigt, wie sie möglich ist. Die Erkenntnistheorie fragt also, wie wir sicher sein können, dass die für die Einzelwissenschaften spezifischen Repräsentationen mit der Realität in Kontakt stehen.

Dies hat ein Bild von Philosophie als Grundlagendisziplin hervorgebracht. Doch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. kam dieses Selbstverständnis ins Wanken. Es kam der Zweifel auf, ob Erkennen ein Repräsentieren der Wirklichkeit darstellt (Ricken, S. 57).

Doch dieses Bedenken ist schon älter. Der populärste Zweifler einer bis dahin geltenden repräsentativen Abbildtheorie der Wirklichkeit war Kant. Seine Gedanken verglich er selbst mit der „kopernikanischen Wende“ (Kant, S. 21). Diese Analogie ist nicht inhaltlich, sondern formal. Sie liegt in einem revolutionären Perspektivenwechsel. Ende des 18. Jh. (1787) untersuchte er in seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“ die subjektiven Bedingungen und Grenzen menschlicher Erkenntnis überhaupt, um zu überprüfen, ob die nunmehr umstrittene Metaphysik als Wissenschaft noch möglich sei.

Der „formale“ Perspektivenwechsel bei Kant bestand darin, dass bei ihm jetzt das Subjekt die zentrale Rolle im Erkenntnisprozess einnimmt, indem es aktiv für das Erkennen zuständig ist. Zuvor nahm man an, dass sich das Erkennen nach den zu erkennenden Objekten richtet, dass das Subjekt also nur Empfänger von Abbildern der Realität ist. Und so formuliert nun Kant: „Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“ (S. 21f.) und später noch konkreter: „Wir kennen nichts, als unsere Art, sie [die Gegenstände, Anm. R.T.] wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist.“ (ebd., S. 116f.).[1]

2.3 Die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie

Etwa seit dem 18. Jh. bildete sich neben der einen – Philosophie genannten – Wissenschaft das heraus, was wir heute Einzelwissenschaften nennen (Physik, Chemie, Biologie …).

Als wissenschaftlich zählte nun, wer nach anerkannten Methoden empirisch forschte. Um die Mitte des 19. Jh. galten schließlich nur noch empirische Disziplinen als wissenschaftlich. Die Philosophie verlor ihre Definitionsmacht darüber, was als wissenschaftlich gelten könne und musste nun selbst erst einmal ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen (Schnädelbach, S. 11f.).[2]

Bezeichnend für diese Krisenzeit der Philosophie war, dass jetzt umgekehrt sich die Naturwissenschaften der philosophischen Probleme annahmen und sie durch empirische Forschung zu lösen bzw. zu klären suchten. Interessant für diese Arbeit ist, dass auch das Erkenntnisvermögen zum Gegenstand empirischer Forschung wurde. So ist es heute z.B. eines der Hauptthemen der kognitiven Psychologie (mit Jean Piaget beginnend). Aber auch in der Biologie (Gregory Bateson, Humberto Maturana und Francisco Varela), der Physik (Erich Jantsch und Fritjof Capra), in der Kybernetik (Heinz von Foerster und Ernst von Glaserfeld), sowie in den Geisteswissenschaften wie der Kommunikationswissenschaft (Paul Watzlawick) und der Soziologie (Niklas Luhmann) wurde zu diesem Thema geforscht.

Fast allen genannten Wissenschaftlern ist gemein, dass sich ihre Modelle unter den „Klassifikationsbegriff einer allgemeinen Systemtheorie subsumieren lassen und mitunter als ‚radikaler Konstruktivismus’[3] bezeichnet werden.“ (Schneider, S. 197).

Als systemtheoretisch kann man das – für diese Arbeit relevante – Modell Maturanas bezeichnen, da Erkennen als ein internes, in sich geschlossenes relationales Gefüge betrachtet wird. Maturana untersucht die Mechanismen und Prozesse, die innerhalb des interneuronalen Netzwerkes eines lebenden Systems ablaufen (vgl. Maturana und Varela, S. 9). Kognition wird bei ihm also nicht mehr unter dem Gesichtspunkt abbildtheoretisch gefasster Realitätsaneignung aufgefasst und ist somit in die Tradition Kants (s.o.) einzuordnen.

3. Biologische Grundlagen der Erkenntnistheorie Maturanas und Varelas

Maturanas und Varelas gemeinsames Hauptwerk: „Der Baum der Erkenntnis“ setzt sich das wenig bescheidene Ziel, die biologischen Wurzeln des Erkennens aufzuzeigen: „Das Buch … ist ein vollständiger Entwurf für einen alternativen Ansatz zum Verständnis der biologischen Wurzeln des Verstehens.“ (Maturana und Varela, S. 7).[4]

Wenig bescheiden nenne ich dieses Ziel, weil die Geschichte der Erkenntnistheorie zeigt (vgl. Kap. 2), wie wenig gesicherte Resultate es dort gibt. Die verwirrende Vielfalt der Meinungen und die Tatsache, dass wohl jede denkbare Ansicht und sei sie noch so abwegig vertreten wurde[5], lässt die Möglichkeit definitiver Einsichten auf diesem Gebiet zumindest zweifelhaft erscheinen (vgl. Kutschera, S. XII).

Im Folgenden sollen daher zunächst die biologischen Auffassungen Maturanas und seine Schlussfolgerungen für eine Erkenntnistheorie dargestellt werden, um daraufhin nachzufragen, ob sie das wenig bescheidene Ziel erreichen kann.

3.1 Die Organisation von Lebewesen – eine Darstellung des Modells von Maturana und Varela

3.1.1 Voraussetzung für die Existenz von Lebewesen

Maturana und Varela behaupten die biologischen Grundlagen des Erkennens seien verständlich, wenn man deren Verwurzelung im Ganzen des Lebewesens sucht. Sie beginnen daher damit, die Voraussetzungen für die Existenz von Lebewesen darzulegen:

Nach der Entstehung der Erde entwickelte sich in einem ständigen Prozess chemischer Transformationen eine Vielfalt von molekularen Substanzen. Diese Kohlenwasserstoffverbindungen waren fähig allein oder mit anderen Elementen eine unbegrenzte Anzahl von unterschiedlichen Verbindungen zu bilden, welche sich hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, Größe und Verzweigung unterschieden.

Diese immense chemische und morphologische Mannigfaltigkeit der organischen Moleküle ermöglichte die Bildung von Netzwerken, welche die selbe Klasse an Molekülen, aus denen sie selbst bestehen, erzeugen konnten, wobei sie sich gegen den umliegenden Raum abgrenzten. Unter diesen Umständen wurde die Existenz von Lebewesen möglich (S. 47ff.).

Doch was bedeutet für die Neurowissenschaftler Leben?

[...]


[1] 13 Jahre später formulierte es Fichte noch treffender: „I n a l l e r W a h r n e h m u n g n i m m s t d u

l e d i g l i c h d e i n e n e i g n e n Z u s t a n d w a h r.” (S.48).

[2] Ein Weg dorthin, war ihre Neudefinition als Erkenntnistheorie. Sie sollte nun das logische und methodologische Gewissen der Wissenschaften sein.

[3] Was unter ‚radikaler Konstruktivismus’ zu verstehen ist, wird in Kap. 4.1 ausgeführt.

[4] Im 3. Kapitel beziehen sich alle Literaturangaben – soweit nicht anders angegeben – auf Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, (erstes © 1984), (Scherz Verlag), Bern und München.

[5] Schon Cicero meinte, dass es überhaupt keine denkbare Ansicht gebe, die Philosophen nicht vertreten hätten, und seitdem hat man fast zweitausend Jahre weiterphilosophiert.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Betrachtungen über den Versuch die biologische Erkenntnistheorie Humberto Maturanas und Francisco Varelas auf den pädagogischen Konstruktivismus von Horst Siebert zu übertragen
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Erziehungswissenschaften)
Veranstaltung
Didaktik und Methodik der Erwachsenenbildung
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V47588
ISBN (eBook)
9783638445030
Dateigröße
609 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Betrachtungen, Versuch, Erkenntnistheorie, Humberto, Maturanas, Francisco, Varelas, Konstruktivismus, Horst, Siebert, Didaktik, Methodik, Erwachsenenbildung
Arbeit zitieren
Ronny Teschner (Autor:in), 2004, Betrachtungen über den Versuch die biologische Erkenntnistheorie Humberto Maturanas und Francisco Varelas auf den pädagogischen Konstruktivismus von Horst Siebert zu übertragen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47588

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