Djihadismus - Realität oder Ideologie?


Examensarbeit, 2005

87 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Islam
2.1 Grundriss
2.2 Der Koran
2.3 Sunna, Hadithe, Scharía und Fatwa
2.4. Islam contra Islamismus

3. Djihad im Islam – eine Analyse
3.1 Ursprung und Definition
3.2 Was besagt der Koran?
3.3 Historischer Kontext
3.4 Das Martyrium

4. Djihad – eine Frage der Interpretation?

5. Wirkungsgeschichte des Djihad
5.1 Djihad im Mittelalter
5.2 Djihad im Osmanischen Reich
5.3 Djihad der Neuzeit
5.3.1 „Djihad“ der Islamisten
5.3.2 Eine neue Quantität
5.3.3 Eine neue Qualität
5.3.4 Al Qaida – die Basis

6. Ergebnis

7. Fazit & Ausblick

8. Literaturverzeichnis

9. Anhang

1. Einleitung

„Tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie

und lauert ihnen überall auf (...) denn die Verführung zum Unglauben

ist schlimmer als töten.“[1] Es sind Koransuren wie diese, auf die sich Islamisten berufen, wenn sie Muslime auf Kampf und Terror einschwören. Die Auswirkungen solcher Beschwörungen sind spätestens seit den Terroranschlägen in den USA der ganzen Welt vor Augen. Besonders dort und in Europa herrscht seit dem 11. September 2001 eine offene oder unterschwellige Angst vor fanatischen Muslimen, welche der freiheitlich demokratischen Grundordnung den „Heiligen Krieg“, den „Djihad“, erklärt haben.

Tatsächlich scheint der Djihad im Aufwind zu sein, nehmen immer mehr islamistische Organisationen das Wort in ihren Namenszug auf, steigt die Zahl der Todesopfer durch deren Terrorakte signifikant.[2]

Ein weiterer Begriff taucht in diesem Zusammenhang immer häufiger auf: „Djihadismus“. Selbst Wissenschaftler sprechen im Zusammenhang mit Terror von Djihadismus und haben den Begriff längst als Schlagwort manifestiert. Doch hält der Inhalt des Wortes dessen Schlagkraft tatsächlich stand? Bedeutet das Suffix „-ismus“ nicht eine viel zu große Aufwertung, um es auf den Djihad anzuwenden? Und ist es nicht zugleich auch eine Abwertung – weckt das Wort Djihad bei Nichtmuslimen mehrheitlich doch eindeutig negative Assoziationen.

Politisch betrachtet steht die – nennen wir es – „Ismuisierung“ eines Wortes dafür, dass es sich um „ein Glaubenssystem, eine Ideologie“, zumindest aber um „eine geistige Strömung“ handelt.[3] Djihadismus – eine eigene Ideologie?

Bassam Tibi, namhafter Islamforscher und selbst Muslim, sieht genau das gegeben. Djihadismus, sagt er, sei eine Ideologie, mit dem Ziel, den Alleinanspruch des Islam weltweit durchzusetzen.

Es handle sich um eine der signifikantesten totalitären Weltanschauungen im 21.Jahrhundert.[4] Tibi folgt dabei der Totalitarismus-Definition Hannah Arendts, wonach ein Totalitarismus nicht nur aus „Herrschaft“, sondern auch aus einer nach der Macht strebenden „Bewegung“ entstehen kann.[5]

Und Tibi steht nicht allein. Auch für Islamkenner wie Andreas Schneider ist Djihadismus eine „totalitäre Ideologie, die mittels Unterwerfung anderer Nationen eine totale islamische Gesellschaft anstrebt.[6] Dementsprechend, so stimmt Mohammed Arcoun ein, habe, „alles, was im Koran gesagt wird, das Ziel, die bestehenden Religionssysteme vorerst zu disqualifizieren und letztlich zu eliminieren“.[7] Eine Schreckensvision, der auch Matthias Küntzel folgt, „Wer sich dem Djihadismus nähern will“, so Küntzel, muss „die Nestwärme des Gewohnten aufgeben und Einsichten in Kauf nehmen, die einen zwar frösteln lassen, aber gleichwohl durchzubuchstabieren sind.“[8] Ein Angstszenario, das inzwischen auch ganz seltsame Blüten treibt. So schreibt Michael Lüders gar vom „Djihad-Islam“[9] – eine Wortkombination, die mehr als gewagt ist.

Doch es gibt auch vorsichtige Stimmen. Erfahrene Experten wie Arnold Hottinger und Peter Scholl-Latour aber auch der Rechtswissenschaftler Hermann Janson mahnen zu Sensibilität im Umgang mit dem Islam. Sie erinnern an historische Fehlentwicklungen und verweisen auf die Masse muslimischer Staatsmänner und Religionsführer, die um Ausgleich bemüht sind; allen voran der Schejch-ul-Islam Sajjid Mohammed Tantawi, Rektor der Universität Al-Azhar zu Kairo, oberster Schriftgelehrter und höchste Autorität islamischer Orthodoxie. „Der Djihad-Begriff“, so Janson zudem, sei durch seine Flexibilität „stets neu und anders, aber doch >wahrhaftig<, zu verstehen.“ Auf diese Art, so der Jurist, hebe sich lebendige Religion ab von den starren Gedankenkonstrukten einer bloßen Ideologie“[10] also einer „Weltanschauung mit einer eigenen, ganz spezifischen Art des Denkens und des Wertesetzens“[11]

Doch keine Ideologie also? Aber was ist Djihadismus dann und – was auch immer er ist – hat er die Stufe von der Theorie zur Praxis bereits übersprungen? Ist er Realität, also „Wirklichkeit, existent und damit messbar“[12] ?

Dies herauszufinden, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. Folgenden Fragen muss dazu zwingend auf den Grund gegangen werden: Was genau – im Detail – bedeutet das Wort Djihad? Inwieweit lassen sich Gewalt, Kampf, Angriff mit dem Koran rechtfertigen?

Unerlässlich dabei ist die hermeneutische Betrachtung der Koransuren. Wie eindeutig beziehungsweise uneindeutig sind Aussagen über Djihad, Selbstopferung, Gewalt und Angriff, Anders- und Nichtgläubige? Wie sehr sind sie interpretierbar und als religiöses Fanal zu missbrauchen?

Entscheidend wird hierbei sein, ob der „Heilige Krieg“ tatsächlich eine Pflicht der Muslime ist oder, wie Hermann Janson meint, eher „der Mottenkiste mittelalterlicher Konfliktsituationen entstammt.“[13]

Um all diese Fragen zu beantworten, werden in dieser Arbeit im Zuge der Analyse einschlägiger Koransuren die Interpretationen verschiedener Islamexperten diskutiert und gegeneinander abgewogen. Anschließend wird in einem zweiten großen Kapitel die Wirkungsgeschichte des Djihad analysiert – ausgehend vom Khalifat über das Osmanische Reich bis in die heutige Zeit. Besonderes Augenmerk wird dabei auf der Neuzeit liegen, um herauszufinden, ob hier eventuell eine Wandlung der Koran-Auslegung in Bezug auf den Djihad festzustellen ist.

Um den Begriff Islamismus zu definieren, der eng mit dem heutigen Djihad-Begriff verbunden ist, wird ihm zu Beginn der Ausführungen der Begriff des Islam zur Abgrenzung gegenübergestellt. Für ein besseres Verständnis einschlägiger Fachbegriffe wird zuvor ein Grundriss des Islam gezeichnet und die überragende Bedeutung des Korans für gläubige Muslime herausgearbeitet.

Auf eine detaillierte Darstellung der einzelnen Glaubensinhalte hingegen wird verzichtet, um den Focus nicht vom Kernthema der Arbeit wegzulenken. Regeln des Islam werden nur herangezogen, wenn sie der Beantwortung der zentralen Fragestellung dienen. Verzichtet werden muss leider auch auf eine ausführliche Untersuchung der Frage, wie bewusst islamische Dogmen aus politischem Kalkül heraus missbraucht werden – sowohl von Muslimen als auch von Nicht-Muslimen – und inwieweit dadurch tatsächlich ein Clash of Civilization[14] forciert wird.

Auch darauf, inwieweit selbst Medien – nicht selten durch stumpfe Übernahme und falsche Verwendung neuer Vokabeln – dazu beitragen, dass sich das Bild des Islam in Europa und Amerika in den vergangenen Jahren nachweisbar zu ungunsten der Muslime verändert hat[15], kann hier nicht eingegangen werden. Diesen fraglos spannenden Themen nachzugehen, würde den Rahmen dieser Examensarbeit leider deutlich sprengen.

2. Der Islam

2.1 Grundriss

Das Wort Islam ist arabischen Ursprungs und entstand aus den Begriffen „salem“ (Frieden) und „aslama“ (glauben, hingeben). Übersetzen lässt sich Islam folglich mit „Frieden finden durch die Hingabe (Unterwerfung) an Gott“. Menschen, die den Islam als ihre Religion annehmen, werden als „Muslime“ (auch „Moslems“/Gottergebene) bezeichnet. Sie glauben an Teufel, Engel und Dschinn – eine Art Mittelgestalten zwischen Mensch und Engel – und beten zu Allah als einzigem Gott. Allah hat in den Augen der Muslime weder Gestalt noch wurde er geboren oder „hat je geboren“. Jesus, für Christen der Sohn Gottes, ist für sie lediglich einer von 25 Propheten, ebenso wie Moses (Musa), Abraham (Ibrahim) oder Johannes (Jahja). Der endgültig letzte Prophet auf Erden war laut Islam Mohammed, der den Glauben im

7. Jahrhundert begründete.

Nach dem Tod Mohammeds spaltete sich der Glaube. Bis heute bestehen zwei Hauptgruppen: Sunniten und Schiiten, wobei letztere deutlich in der Minderheit sind. Sie glauben, dass allein die Familie des Propheten Anspruch auf die Führung der Muslime habe. Die Sunniten – 80 bis

90 Prozent aller Muslime – halten, im Gegensatz dazu, am Prinzip der Wahl ihrer Führer fest. Allen Muslimen gemein ist, dass sie ihren Glauben als den einzig wahren betrachten. Für sie hat der Islam durch die Offenbarungen des Propheten Mohammed das Christentum abgelöst, so wie das Christentum durch die Offenbarungen des Propheten Jesus zuvor das Judentum beendete. Thora und Bibel gehören daher zur muslimischen Geschichte: Sure 3/84: „Sag, wir glauben an Gott und an das, was auf uns und was auf Abraham, Ismail, Isaak, Jakob und die Stämme Israels herabgesandt worden ist, und was Moses, Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen einen Unterschied machen.“[16]

Wichtiges Kriterium für die Beurteilung des Islam ist dessen Alleinanspruch. Wie Christen im Christentum sehen Muslime im Islam den einzig wahren Glauben auf Erden.

Der Zweck des Lebens besteht für Muslime darin, sich im Diesseits durch Glauben und Sittsamkeit auf das wahre Leben im Jenseits vorzubereiten. Muslime glauben an den Jüngsten Tag, sie müssen sich im Jenseits für ihr Tun im Diesseits verantworten und kommen entsprechend ihrer Taten ins Paradies oder in die Hölle.[17]

Zur vollkommenen Gottergebenheit gehört die Befolgung der fünf Grundpflichten eines Muslims: 1. Das Glaubenszeugnis: „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet“. Durch bewusste Aussprache dieses Satzes in Gegenwart zweier muslimischer Zeugen nimmt ein Mensch den Islam an. 2. Das rituelle Pflichtgebet: Die Verrichtung von täglich fünf Gebeten zu festgelegten Zeiten.

3. Fasten im Monat Ramadan: Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dürfen Muslime, entsprechend dem Mondkalender,

30 Tage lang keine Nahrung zu sich nehmen. Auch Rauchen sowie Geschlechtsverkehr sind in dieser Zeit verboten.

4. Almosen geben: „Zakat“ zu zahlen bedeutet, einen Anteil seiner Besitztümer an bedürftige Menschen zu spenden.

5. die Wallfahrt nach Mekka: Jeder Muslim, der körperlich und finanziell dazu im Stande ist, muss einmal in seinem Leben die „Hadsch,“ die Pilgerfahrt an den heiligen Ort Mekka, unternehmen“[18], um sich von Sünden rein zu waschen.

Weltweit leben heute gut 1,2 Milliarden Muslime. Das entspricht rund einem Fünftel der gesamten Menschheit. In über 50 Staaten stellen sie die Bevölkerungsmehrheit. Nach dem Christentum ist der Islam damit die zweitgrößte Religionsgemeinschaft überhaupt.

Die beiden grundlegenden Quellen der islamischen Glaubenslehre und Religionsausübung sind Koran und Sunna.

2.2 Der Koran

Der Koran (al-Qur’an) ist die heilige Schrift des Islam und bedeutet übersetzt in etwa „Lesung“ oder „Vortrag“. „Für Muslime ist der Koran Urkunde der göttlichen Offenbarung sowie Hauptquelle und Maßstab des rechten Glaubens und Handelns.“[19] Er enthält Offenbarungen, die Allah an seinen Propheten Mohammed in der Zeit zwischen 610 und 632 nach Christus in Mekka und Medina richtete. Diese Offenbarungen sollen Mohammed durch den Engel Gabriel eingeflüstert worden sein.

Zunächst wurden sie nur mündlich überliefert. Nach dem Tode Mohammeds begannen seine Anhänger die Offenbarungen jedoch zu sammeln, bis sie schließlich 653 n.Chr. unter dem dritten Khalifen Osman zum Koran zusammengeschrieben wurden. Diese Version des Korans ist bis heute gültig. Dennoch muss man davon ausgehen, dass zahlreiche Varianten und nichtkanonische Versionen des Korans existieren.

Unterteilt ist der Koran in 114 Kapitel, so genannte Suren.

Über 90 Prozent dieser Suren befassen sich mit ethischen Werten, dem Aufbau und den Regeln der islamischen Gemeinschaft, mit Gott und seinen Eigenschaften, mit Propheten und Gesandten sowie der gesamten Schöpfung. Nur etwa sechs Prozent des Korans widmen sich konkreten Vorschriften: Verhaltensregeln für die Gläubigen, Familienrecht, Verhalten gegenüber Nichtmuslimen, Politik, Wirtschaft und Strafrecht.[20]

Als das heilige Buch Gottes steht der Koran im Zentrum des Islam: „Die mitgeschriebene Offenbarung des Gottesboten“, so Hermann Janson, „wurde zur ersten, wichtigsten und absoluten autoritativen Rechtsquelle. Im Heiligen Buch ist das Wesen der islamischen Theokratie verankert. Die in ihm enthaltenen Gebote, wenngleich als Glaubenssätze formuliert, haben weltliche Gesetzeskraft.“[21]

Damit, so der Forscher Dag Tessore, hat der „Koran im Islam eine weitaus bedeutendere und zentralere Rolle als die Bibel im Christentum. Er wird von allen Moslems als der erste und nahezu einzige absolute Anhaltspunkt ihrer Religion betrachtet.“[22] Diese überaus große Bedeutung des Korans hängt für Muslime mit seinem göttlichen Ursprung zusammen. Sie sind davon überzeugt, dass der Koran schon vor der Erschaffung der Welt bei Gott war.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts steht der Koran in nahezu jeder Sprache zur Verfügung, meist in Verbindung mit dem arabischen Original. Die arabische Form gilt als einzig „wahre“.[23] Nach islamischer Meinung sind Worte, Stil und Inhalt des Werkes im Original übermenschlich und deshalb von Philologen nicht einzuordnen. Eigens aus diesem Grund nimmt die arabische Sprache als einzige der Welt in der Sprachwissenschaft eine dreifache Einteilung vor: Neben „Prosa“ und „Dichtung“ existiert in der arabischen Philologie der „Qur´an“.

2.3 Sunna, Hadithe, Scharía und Fatwa

In der islamischen Geschichte trat früh die Sunna (Gewohnheit), das vorbildliche Reden und Handeln des Propheten Mohammed, als Quelle des Rechts neben den Koran. Die Berichte über Verhalten und Worte Mohammeds wurden in den Hadithen als Überlieferungen gesammelt. Sie gelten als Ergänzung zum heiligen Buch. Als zweite Quelle des islamischen Rechts (Scharía), sind sie dem Koran „in der Bedeutung nahezu gleichwertig“[24]. „Aischa bint Abu Bakr, die Lieblingsfrau des Propheten, die ihn um 34 Jahre überlebte, trug allein an die dreitausend solcher Hadithen (Traditionen) bei.“[25] Sie wurden genutzt, um den Gläubigen eine ausführliche Richtschnur für eine gottgefällige Lebenspraxis zu geben und möglichst viele Lücken zu schließen, die mit dem Koran offen geblieben waren.

Der Wahrheitsgehalt der Sunna ist jedoch nicht unumstritten. „Um die angesichts der Masse von Hadithen unvermeidlichen Fälschungen zu erkennen und auszusortieren, wurde bereits im 7. Jahrhundert eine eigenständige Hadith-Kritik notwendig. Die Gelehrten konzentrierten sich dabei weniger auf den Inhalt der Überlieferung als vielmehr auf die Überprüfung der Personen, die sie tradierte. Ihre Vertrauenswürdigkeit wurde zum Maßstab für die Gültigkeit der Hadithen. Was zählte, war also weniger der vermutliche Wahrheitsgehalt des Textes, als vielmehr der lückenlose Zusammenhang der Übermittlung durch Aufzählung derer, die sie von Mund zu Mund überlieferten. Dementsprechend bestehen die einzelnen Hadithen aus zwei Teilen: der Überlieferungskette („A hörte von B, dieser von C, etc.“) sowie dem eigentlichen Text.

Die westliche Orientalistik steht dieser Methode skeptisch gegenüber, einzelne Wissenschaftler betrachten sogar mehr oder minder sämtliche Überlieferungen bis zum Beweis des Gegenteils als Fälschungen. „Unverkennbar“, so der Politikwissenschaftler Walter M. Weiss, „wurde jedenfalls ein beträchtlicher Teil der Hadithe in offen tendenziöser oder sektiererischer Absicht nachträglich verfasst.“[26]

Trotz dieses schlechten Rufes, die die Hadithen bereits während ihrer Sammlung genossen, setzten sie sich aus praktischer Notwendigkeit durch und sind Muslimen heute wichtige Rechts- und Alltagsquelle.[27]

„Das herausragendste Ergebnis islamischer Rechtsschöpfung jedoch ist die Scharía. Im Sinne der Universalität des Islam enthält sie Vorschriften für alle Lebenslagen, Glaubens- und Jugendlehre, Kulturordnung, sowie das daraus entwickelte Staats-, Zivil- und Strafrecht. Allerdings ist die Scharía kein Paragrafenwerk wie etwa das Strafgesetzbuch. Erschwerend für ihre Anwendung ist der Umstand, dass sie wegen nicht klar abgegrenzter, vor allem geographisch unterschiedlicher, Interpretation uneinheitlich gehandhabt wird.

Für viele muslimische Staaten, die sich zunehmend am Rationalismus und Humanismus der westlichen Welt orientieren, ist die Scharía heute – auch aus diesem Grund – nicht mehr allgemein tragbar. Mit Ausnahme Saudi-Arabiens führten sie im Laufe der Zeit weltliche Gesetze ein oder reduzierten die Gültigkeit der Scharía auf das Ehe-, Güter- und Erbrecht. Erst in jüngster Zeit kamen einzelne Staaten dem um sich greifenden Fundamentalismus durch Wiedereinführung von Geboten der Scharía als Verfassungsrecht entgegen.“[28] Dazu zählen Marokko, Libyen, der Sudan, Saudi-Arabien, Pakistan und der Iran.

Als eine Ergänzung der Scharía lässt sich die Fatwa verstehen – sie ist von wachsender Bedeutung. Als Fatwa bezeichnet man die Antwort auf eine Anfrage, eine Auskunft auf Grundlage der Scharía. Derartigen Rat suchen kann jeder Muslim. Auskunft erteilt ein Großmufti, der sich zuvor als Kenner von Koran, Sunna und Scharía einen Namen gemacht haben muss. Gegenstand einer Anfrage kann alles sein, was für Muslime von Bedeutung ist. Das mag ein winziges Detail aus dem Gebetsritus sein oder die hochpolitische Frage, ob der Abschluss des Camp-David-Abkommens islamrechtlich zulässig war. Die Antwort ergibt sich aus einem Analogieschluss, also durch Folgerungen aus früheren Erkenntnissen. Sie muss nach den anerkannten Argumentationsformen der Scharía nachvollziehbar begründet werden.

Die Fatwa hat keine rechtsverbindlichen Folgen, sie kann lediglich klarstellen und empfehlen. Dennoch sind Fatwas bekannter Persönlichkeiten oder Institutionen wie der Al-Azhar-Universität in Kairo – „seit Jahrhunderten eine maßgebliche Instanz für das islamische Denken“[29] – allgemein von großem Gewicht und Einfluss, „gestatten sie doch“, so Janson, „dem modernen Mohammedaner, ihm genehme westliche Lebensgewohnheiten dem Pflichtenkodex des ursprünglichen Islam anzupassen“.[30]

2.4 Islam contra Islamismus

„Islam ist nicht gleich Islam. Islam ist nicht identisch mit Islamismus. Und Islamismus steht nicht notwendigerweise für Gewalt – von Terror ganz zu schweigen.“[31] Dieses Wissen ist mittlerweile fast Allgemeingut.

Die Orientierung aber fällt nach wie vor schwer. Das gilt besonders für den Islamismus, der sich von Marokko bis Malaysia in den unterschiedlichsten Formen zeigt, hier die Einführung der Scharía fordert, da karitative Einrichtungen unterhält, dort Frauen jeglicher Rechte beraubt. Nicht ohne Grund ist am Islamismus von seiner religionsgeschichtlichen Einordnung bis zu seiner politischen Bewertung fast alles umstritten.

Unumstritten ist das zentrale Anliegen der Islamisten, im politischen Sprachgebrauch oft auch als Fundamentalisten bezeichnet. Sie wollen den Islam zur Grundlage allen Denkens und Handelns machen, das heißt, ausnahmslos alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens – Religion, Recht und Politik – ausschließlich auf die Religion gründen. „Der Islam, so lautet ihre Überzeugung, bietet dafür nicht nur moralische Maßstäbe, sondern konkrete Anweisungen – die Scharía.“[32] Bei fünf bis sieben Prozent liegt derzeit der Anteil der Islamisten unter den Muslimen.[33]

Während zwar auch die übrigen 93 bis 95 Prozent der Muslime die Gültigkeit islamischer Werte nicht in Frage stellen, wollen sie – im Gegensatz zu Islamisten – dennoch nicht, dass die Bestimmungen des islamischen Rechts eins zu eins auf die Gegenwart angewandt werden und Rechts- und Religionsgelehrte – von Führern islamistischer Bewegungen ganz zu schweigen – über die gesellschaftliche und politische Ordnung ihres Landes entscheiden.[34] „Die meisten“, so

Walter M. Weiss, „wünschen sich eine auf islamische Werte gegründete Gesellschaft, aber keinen islamischen Staat nach dem Muster des Iran, Saudi-Arabiens oder – wie bis zum Winter 2001 – Afghanistans.“[35]

Nur der Islam ist die Lösung, skandieren hingegen Islamisten. Der „wahre Islam“ allerdings – in diesem Punkt erweisen sie sich als Erbe der Reformbewegung des späten 19. und des früheren

20. Jahrhunderts – muss zunächst von allen Verfälschungen und „unzulässigen“ Neuerungen gereinigt werden, die ihn im Laufe der Jahrhunderte entstellt haben. Erst dann, so die Vision, wird er den frommen Geist der Frühzeit wieder erstehen lassen.

Und noch etwas ist für Islamisten bezeichnend: ihr klares Feindbild. Die Bedrohung kommt aus islamistischer Sicht hauptsächlich von außen. Namentlich ist es „die >intellektuelle Aggression< des Westens, das neue >Kreuzfahrertum<, mit dem die Muslime ihrer >Werte< beraubt werden sollen.“[36] Aber auch gegen die eigenen Eliten, die seit der Unabhängigkeit ihrer Länder an der Macht sind, richtet sich der Kampf. Sie, so lautet ihr Vorwurf, seien auf ganzer Linie gescheitert und näherten sich dem „Westen“ immer weiter an.

Doch wer steckt hinter diesem Gedankengut? Marginalisierte, frustrierte Jugendliche ohne Perspektive und Halt? Wer Islamisten nur so wahrnehme, so Walter M.Weiss, mache es sich zu leicht.[37] Islamistisches Denken – „ein strenger Dualismus von Gut und Böse; xenophobische Tendenzen gegenüber der westlichen Welt und der Juden, ein Isolieren der eigenen Kultur sowie Verschwörungstheorien, die davon ausgehen, dass der Islam zerstört werden soll“[38] – ist überall zu finden, meint auch der Journalist und Autor Hadayatullah Hübsch. Unter den Islamisten gäbe es gut situierte Akademiker, Richter, Ärzte, Gewerkschafter. Seit den siebziger Jahren seien die Intellektuellen sogar tonangebende Kraft, besonders sichtbar und artikuliert.

Zum Wiederaufstieg verhalf dem Islamismus Ende der 1970-er Jahre ein ägyptischer Intellektueller: Der Muslimbruder Sayyid Qutb. Sein Wahlspruch: „Der Koran ist unsere Verfassung, der Prophet ist unser Führer. Ein Tod zum Ruhme Gottes ist unser höchstes Ziel.“[39]

„Seine Schriften“, so Matthias Küntzel, „werden zwischen Marokko und Mindanao gelesen und wurden in fast alle Sprachen der islamischen Welt übersetzt.“[40] Verbreitung und Einfluss seien „ohne Übertreibung mit dem Kommunistischen Manifest in der Zeit der frühen Arbeiterbewegung in Europa vergleichbar“.[41] „Der Einfluss von Qutb auf die Dschihad-Gruppierungen in Ägypten“, so auch der Forscher Peter L. Bergen, „und in der Folge auf den heutigen Innbegriff des Islamismus, Osama Bin Laden, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden“.[42] Militante Fundamentalisten, zitiert Küntzel den Experten Bassam Tibi, seien mit Qutbs Schriften weit vertrauter, als mit dem Korantext selbst. Oft würden sie nur die von Qutb selektiv zitierten Koranstellen kennen.

Entscheidend ist: Auch das Gros der Islamisten lehnt Gewaltanwendung für seine Mission kategorisch ab. Sei es, dass sie den Islam als Religion des Friedens verstehen – auf die sprachliche Verwandtschaft von „Islam“ und „Frieden“ (arab. Salam) wird gern verwiesen. Oder sei es, dass sie Gewalt grundsätzlich als islamwidrig ablehnen, „weil sie sie als selbstzerstörerisch betrachten, also eher pragmatisch argumentieren.“[43] Der Anteil gewaltbereiter Fanatiker unter den Muslimen dieser Welt liegt bei unter einem Prozent.[44] Dieses knappe Prozent jedoch ist gemeint, wenn von Djihadismus die Rede ist.

3. Djihad im Islam – eine Analyse

3.1 Ursprung und Definition

Betrachten wir en détail, was sich hinter dem Begriff Djihad verbirgt. Ist Djihad (auch „Jihad“ oder „Dschihad“) tatsächlich der wieder aufflammende „heilige Krieg“ der Muslime gegen Anders- oder Ungläubige? Oder liegt hier vielleicht nur ein einziges großes Missverständnis vor? Um dies zu beantworten, ist eines dringend zu beachten: Abstrakte Wörter – und dazu zählt der Begriff Djihad – haben fast nie präzise Bedeutungen. Vielmehr besitzen sie Bedeutungssphären, die mehrere miteinander verwandte Begriffe umfassen. Entsprechend sensibel sind sie zu übersetzen.

„Djihad ist abgeleitet vom arabischen Verb „erstreben“*[45], woraus über die sprachliche Brücke „fleißig“, „eifrig sein“ das Substantiv „Streben“ (nach vollkommener Gottergebenheit) entwickelt wurde.“[46] Djihad lässt sich also am besten mit „Anstrengung“ oder „Einsatz“ übersetzen.[47] Diese „Anstrengung“ besteht im islamischen Kontext darin, „sich religiös (gegenüber Gott) und moralisch (gegenüber den Menschen) so zu verhalten, wie es der Islam vom Gläubigen verlangt“.[48]

„Entsprechend umfasst das Begriffsfeld von Djihad in seiner umfassenden Form jeden großen Einsatz für ein gottgefälliges Ziel mit einem ähnlichen Spektrum wie das deutsche Wort >Kampf <

– Kampf gegen Korruption oder Analphabetismus als moralisch hoch stehende Handlung zum Beispiel.“[49]

Djihad ist also – will man es möglichst knapp ausdrücken – eine allgemeine „Kampfesbemühung“ unter islamischem Vorzeichen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Begriff Djihad immer mehr in die rechtliche Fachsprache einbezogen. Er entwickelte sich zum Kernbegriff der Gottesjuristen.[50] Für nichtreligiöse Kriegsanstrengungen wurde noch in den ersten Jahrhunderten der Begriff „Ghaz“ eingeführt. Er ist ursprünglich dem Beduinenleben entnommen und bedeutet „Beutezug“; „Raubüberfall“ ohne jede religiöse Verbrämung. Ghaz bezeichnet, ähnlich wie das bereits erwähnte Wort „Qatala“, die handgreiflichen Aspekte des sehr konkreten und blutigen Grenzkrieges.

Demgegenüber steht der religiös motivierte Djihad. Moderne islamische Autoren unterscheiden im Djihad vor allem drei Erscheinungsformen:

1. Persönliche Opfer gegen einen äußeren Feind. 2. Kampf gegen die eigenen schlechten Eigenschaften. 3. Kampf für die Verwirklichung höherer Werte.[51] Unter diese, sagen wir, „grobe“ Sichtweise jedoch fiele nahezu jeder erdenkliche Aspekt, sie ist daher kaum praxistauglich.

Islamexperten unterscheiden deshalb etwas klarer zwischen einem geistigen, so genannten‚ „großen Jihad“ und einem physischen „kleinen Jihad“.[52] Bereits Mohammed soll dies im Sinne des Korans einer Überlieferung zufolge getan haben.[53]

Mit dem Begriff großer Djihad (Djihad akbar) „sind alle friedlichen Bemühungen gemeint, die ein Muslim aufbringen soll, um die moralischen Maßstäbe des Islam in die Wirklichkeit umzusetzen“.[54]

Der große Djihad ist so etwas wie der innere Kampf gegen eigene unmoralische Gelüste, der nötig ist, um zum Beispiel egoistische Verhaltensweisen zu überwinden, menschliche Schwächen zu besiegen, Wut oder Hass zu zügeln, keine Gesetze zu brechen, kein Rauschgift zu sich zu nehmen und auch sonst bestmöglich nach den Geboten Allahs zu leben. Der große Djihad muss nicht ausgerufen werden[55], er ist fortwährend gültig.

Die Bedeutung Kampf im Sinne von „Krieg“ beinhaltet das Wort Djihad allerdings auch. „Der kleine Djihad (Djihad asghar)“ so Hermann Janson, bedeutet „com grano salis, den >heiligen Krieg<“[56], der sich, Dag Tessore zufolge, „substanziell mit dem >gerechten Krieg< im Christentum deckt“[57]. Gemeint ist der kämpferische Einsatz für die Aufrechterhaltung und – nach überwiegender wissenschaftlicher Auffassung auch – Verbreitung des islamischen Herrschaftsbereichs;

und zwar unter Einsatz von Vermögen und Leben.[58]

Dieser kleine Djihad muss, vor seinem Vollzug, zwingend ausgerufen werden. „Bedingung ist“, so Schejch Muhammad Hisham Kabbani, dass Muslime „einen Führer haben, einen Imam, der den Jihad im Krieg ausruft“, und die Notwendigkeit dazu „ausführlich begründet.“[59]

Der kriegerische Aspekt des Djihad ist, wie das Attribut „kleiner“ zeigt, zweitrangig. „In der Regel ist heute dennoch dieser >kleine Jihad< gemeint, wenn im allgemeinen von Jihad gesprochen wird. Dies gilt sowohl für Muslime als auch für Islamforscher. Ein Phänomen, dass sich allerdings bereits in der Frühzeit der Religion zeigte.“[60]

Dass der Begriff Djihad besonders in der westlichen Welt oft allgemeingültig mit „Heiliger Krieg“ übersetzt wird, halten eine Reihe von Wissenschaftlern trotzdem für fatal. Es widerspreche dem koranischen Wesensgehalt von Djihad vollkommen, ihn mit „Krieg“ zu übersetzen oder gar als „Heiligen Krieg“ zu bezeichnen, meinen die Islamwissenschaftler Monika und Udo Tworuschka. Kriege, sagen sie, seien niemals heilig. Und Djihad beinhalte in seiner wörtlichen Bedeutung weder „Krieg führen“ noch „töten“, im Gegensatz zu dem Wort „Qatala“ (dt. Krieg führen, töten). Dafür aber hätten „die Worte Islam und Salam (Frieden) dieselben Wurzeln.“[61]

In keinster Weise, so argumentiert auch Hadayatullah Hübsch, werde außerdem im Koran ein „Heiliger Krieg“ erwähnt, nicht als Synonym für Djihad, noch anderweitig. Der „Heilige Krieg“, so Hübsch, sei ein Begriff aus der Bibel: „Ruft den Heiligen Krieg aus! Bietet eure Kämpfer auf! Alle Krieger sollen anrücken und heraufziehen. Schmiedet Schwerter aus euren Pflugscharen und Lanzen aus euren Winzermessern.“[62] Im Koran, so der Islamexperte Moustafa Maher, sei eine der Hauptaufgaben eines gläubigen Muslims das Friedenstiften: „Oh ihr Gläubigen, nehmt alle den Frieden an! Seid friedlich miteinander, und folgt nicht den Machenschaften des Teufels (...).“[63]

Janson allerdings relativiert diese Friedfertigkeit des muslimischen Glaubens und verweist auf die Geschichte des Islam: „Da nun das Vorgehen des Gottesboten mit dem auf Erfahrung beruhenden Erfordernis zu erklären war, seine Ziele durch Überwindung von äußeren Widerständen in Angriffskriegen zu erreichen, ließ sich Djihad in seiner ursprünglichen Form als >Heiliger Krieg< ausdeuten.“[64] Dies, so Janson, hing wahrhaft eng mit der Persönlichkeit Mohammeds zusammen, mit seinen Vorsätzen als Religions- und Staatsgründer.

Tatsächlich benutzen heute unzählige Experten den Begriff „Heiliger Krieg“. So spricht der Orientalist Hans-Peter Raddatz in seinem Werk „Von Allah zum Terror?“ vom Djihad als „Heiligen Krieg des Islam, den die Vertreter des >Dialogs< als eine >Anstrengung im Glauben< verharmlosen, während die Muslime selbst ihn historisch und aktuell als religiös unverzichtbaren Kampf gegen den Unglauben fordern.“[65]

Eine ganze Reihe weitere Eigenschaften des Djihad sind unter Wissenschaftlern nicht unumstritten. Zum Beispiel die Frage, ob sich der kleine Djihad auch gegen Muslime richten darf. Bassam Tibi stellt in seinem Werk „Kreuzzug und Djihad“ fest: „Djihad führen Muslime nur gegen Nichtmuslime.“[66] Kriege gegen den „Abfall des Islam“ hingegen, so Tibi, seien eine innerislamische Angelegenheit und damit kein Djihad. Sie würden als Riddah-Kriege bezeichnet. Die erbitterten Kämpfe gegen die des Unglaubens bezichtigten, schiitischen Perser im 16. Jahrhundert würden unter diese Definition fallen.

Überliefert ist allerdings, und das widerspricht Tibis These, dass das sunnitische Zentralkhalifat schiitische Gebiete bei seinen Eroberungszügen nicht-muslimischen grundsätzlich gleichsetzte. „Folgerichtig erklärten fünf Fatwa des Schejch-ul-Islam (des höchsten muslimischen Geistlichen – Einfügung U.K.) einen Feldzug gegen den Schah von Persien im 18. Jahrhundert zum Heiligen Krieg“[67]. „Die Regeln des Djihad“ so Hermann Janson, „kamen auch hier zur Anwendung“.[68]

Andererseits erklärt der Koran in Sure 4/92: „Kein Gläubiger darf einen anderen Gläubigen töten, es geschehe denn aus Versehen (...).“[69]

Oder noch klarer in Sure 4/93: „Wer einen Gläubigen vorsätzlich tötet, wird mit der Hölle bestraft.“[70] In Bezug auf diese Suren erstellte Schejch Yousef al-Qaradawi, anerkannter Islamgelehrter, eine Fatwa zu den Anschlägen vom 11.September 2001. Seine Position ist eindeutig: Er brandmarkt die Tötung unschuldiger Muslime als schweres Verbrechen – wenn jedoch ausdrücklich nur diese.

Der mit Abstand größte Streitpunkt heutiger Experten aber ist der über die Ausdehnung des Djihad-Begriffes. Umfasst dieser bloße Verteidigung und Gegenwehr oder beinhaltet er ebenso gut Angriffskriege zur Ausweitung des Glaubens?

So steht für den zum Christentum konvertierten einstigen muslimischen Theologen der namhaften Kairoer Al-Azhar-Universität, Mark A. Gabriel, außer Frage, dass der Koran zu Angriffskriegen aufruft: „Djihad bedeutet schlicht, dass Muslime gegen die Feinde Allahs kämpfen müssen, bis entweder die Feinde oder die Muslime sterben.“[71] Als pure Verteidigungsformel wollen naturgemäß auch radikale Islamisten den Koran nicht verstanden wissen. Geistliche, die das heilige Buch in diesem defensiven Sinne interpretieren, hält Osama Bin Laden, Kopf der wohl bekanntesten Terrorgruppe Al Qaida, für „zu weich in ihrer Nachfolge des Propheten Mohammed“[72]. Bin Ladens Koran-Interpretation lässt keinen Zweifel: „Wir sind aufgefordert, zu töten – und zwar so lange, bis die Ungläubigen bereit sind, zu schwören, daß sie sich Allah unterwerfen! Unser Terrorismus ist ein von Allah gesegneter Terrorismus.“[73]

Für den pakistanischen Wissenschaftler Moulavi Cheragh Ali hingegen steht das genaue Gegenteil fest, nämlich dass der Koran keinerlei Angriff billigt und nur Selbstverteidigung erlaubt: „All the fighting instructions in the Koran are, in the first place, only in self-defence, and none of them has any reference to make warfare offensively.”[74] In diesem Sinne sieht Shejch Muhammad Hisham Kabbani als alleinige Voraussetzung für einen Djihad, dass „kriegerische Absichten gegen den Islam bestehen, dass Muslime von ihrem rechtlich erworbenen Besitz vertrieben werden sollen oder dass ein Kriegsfeldzug begonnen worden ist, um sie auszurotten.“[75]

3.2 Was besagt der Koran?

Bei der Analyse des Korans ist, sobald es sich nicht um das arabische Original handelt, die Wahl der richtigen Übersetzung entscheidend. Legt man den Koran in verschiedenen, rein deutschen oder englischen Versionen gegenüber, ergeben sich für einzelne Passagen völlig verschiedene Sinnzusammenhänge. Erstens, weil es tatsächlich nicht leicht ist, das – historisch und lyrisch betrachtet – einzigartige Arabisch des Korans zu übersetzen. Schon aus Nuancen ergeben sich hier oft grundverschiedene Aussagen. Zweitens aber auch, weil davon auszugehen ist, dass nicht alle Koranübersetzer die gleiche Intention verfolgen: Aufklärung.

Alle im folgenden betrachteten Suren sind dem arabisch-deutschen Koran der Al-Azhar-Universität Kairo entnommen, (es sei denn, es handelt sich um eine Gegenüberstellung verschiedener Übersetzungen). Aus folgendem Grund: Die Al-Azhar-Universität gilt als „höchste Glaubensinstanz und Lehrautorität“[76] in der gesamten muslimischen Welt. Ihre Übersetzung geht auf den Obersten Rat für Islamische Angelegenheiten zurück. Sie sollte dem arabischen Original damit am nächsten kommen. Dieses Original ist für Muslime bindend – und das ist für die Untersuchung des Djihad-Begriffes von größter Bedeutung.

Das Wort Djihad, inklusive seiner insgesamt 14 Abwandlungen und Ausformungen wie zum Beispiel „Mudjahid“ (Djihadkämpfer) oder „wajahidu“ (kämpft!), erscheint in insgesamt 36 Versen des Korans[77]. Es steht dort entweder mit eigener innerer Selbstkontrolle oder mit der äußeren Ausübung von Gewalt in Verbindung, steht also für beide, den großen und den kleinen Djihad.

Da sich der Koran durch häufige Wiederholungen auszeichnet, werden im Folgenden nicht alle 36 „Djihad-Verse“ zitiert. Die ausgewählten Suren beinhalten – sinngemäß – jeden Aspekt des Djihad und ergeben, in Bezug auf den „Kampf“ der Muslime (sei er nun figurativ oder tätlich), ein vollständiges Bild.

[...]


[1] Tworuschka, Monika u. Udo (2002a), S.108f

[2] Vgl. Waldmann, Peter (2001), S.391

[3] o.A. i-Lexikon: http://www.ilexikon.com/-ismus.html, 06.04.05

[4] Vgl. Tibi, Bassam (2004), S.12

[5] ebd. S.10

[6] Schneider, Andreas, http://www.ostrakismos.net/kommentar.html 09.04.05

[7] Vgl. Arcoun, Mohammed (1999), S.7

[8] Küntzel, Matthias (2003), S.8

[9] Lüders, Michael (2001), S.59

[10] Janson, Hermann (2002), S.9f

[11] o.A. http://www.bpb.de/publikationen, 06.04.05

[12] o.A. i-Lexikon: http://www.ilexikon.com/Realitaet.html, 06.04.05

[13] Janson, Hermann (2002), S.12

[14] Vgl. Huntington, Samuel (1996), S.34 sowie Fürtig, Henner (2002), S.19

[15] Bakr, Salwa u.a. (2004), S.29

[16] Tworuschka, Monika u. Udo (2002a), S.116

[17] Vgl. Hübsch, Hadayatullah (2001), S.27-29

[18] Tworuschka, Monika u. Udo (2002a), S.79

[19] ebd. S.25

[20] Vgl. Janson, Hermann (2002), S.27

[21] ebd.

[22] Tessore, Dag (2004), S.91

[23] Vgl. Hofmann, Murad Wilfried (2001), S.10ff

[24] Weiss, Walter M. (2002), S.53

[25] Janson, Hermann (2002), S.29

[26] Weiss, Walter M. (2002), S.53

[27] Vgl. Janson, Hermann (2002), S.29

[28] ebd. S.34

[29] Bergen, Peter L. (2001), S.262

[30] Janson, Hermann (2002), S.30f

[31] Weiss, Walter M. (2002), S.214f

[32] ebd. S.215

[33] Vgl. Hirschmann (2003), S.63

[34] Vgl. Weiss, Walter M (2002); S.215f

[35] ebd. S.215f

[36] ebd. S.217

[37] ebd. S.218

[38] Hübsch, Hadayatullah (2001), S.52

[39] Bergen, Peter L. (2001), S.260

[40] Küntzel, Matthias (2003), S.80

[41] ebd. S.80

[42] Bergen, Peter L. (2001), S.262

[43] Weiss, Walter M. (2002), S.219

[44] Vgl. Hirschmann (2003), S.61

[45] * im Arabischen wird ein Verb immer in der 3. Person Singular Perfekt zitiert

[46] Vgl. Tworuschka, Monika und Udo (2002a), S.100

[47] ebd.

[48] o.V. http://www.im.nrw.de/psch/592.htm; 05.11.04

[49] Tworuschka, Monika und Udo (2002a), S.101

[50] Vgl. Janosn, Hermann (2002), S.7ff

[51] Vgl. Tworuschka, Monika u. Udo (2002a), S.101

[52] Vgl. o.A. http://www.im.nrw.de/psch/592.htm; 05.11.04

[53] Vgl. Tworuschka, Monika und Udo (2002a), S.101

[54] o.A. http://www.im.nrw.de/psch/592.htm; 05.11.04

[55] ebd.

[56] Janson, Hermann (2002), S.7

[57] Tessore, Dag (2004) S.91

[58] Vgl. o.A. http://www.im.nrw.de/psch/592.htm; 05.11.04

[59] Kabbani, Shejch Muhammad Hisham http://www.livingislam.org/n/j_d.html; 04.04.05

[60] o.A. www.im.nrw.de/psch/592.htm; 5.11.04

[61] Vgl. Tworuschka, Monika u. Udo (2002a), S.100

[62] Buch Joel, Altes Testament, 4/9-10, zitiert nach: „Hübsch, Hadayatullah (2001), S.44

[63] Maher, Moustafa u.a. (1999), S.49

[64] Janson, Hermann (2002), S.48f

[65] Raddatz, Hans-Peter (2001), S. Cover-Innenseite links

[66] Tibi, Bassam (2001), S.149

[67] Vgl. von Hammer-Purgstall, Joseph (1963), S. 51

[68] Janson, Hermann (2002), S.47

[69] Maher, Moustafa u.a. (1999), S.130

[70] Yücelen Yüksel (2001), S.136

[71] Gabriel, Mark A. (2004), S.48

[72] Konzelmann, Gerhard (2003), S.385

[73] ebd.

[74] Ali, Moulavi Cheragh (1977), S.114f

[75] Kabbani, Shejch Muhammad Hisham http://www.livingislam.org/n/j_d.html; 04.04.05

[76] Dietl, Wilhelm (1983), S.12

[77] Ali, Moulave Cheragh (1977), S.14

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Djihadismus - Realität oder Ideologie?
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
87
Katalognummer
V47317
ISBN (eBook)
9783638442923
Dateigröße
736 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dschihad Dschihadismus Jihad
Arbeit zitieren
Ulrike Kassem (Autor:in), 2005, Djihadismus - Realität oder Ideologie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47317

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Djihadismus - Realität oder Ideologie?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden