Zu Simmels Individualisierungstheorie. Individualisierung als ein genuin modernes Phänomen


Hausarbeit, 2019

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Vorstellung der These

2. Individualisierung bei Georg Simmel
2.1. Vergesellschaftung
2.2. Sozialer Kreis
2.3. Konzentrische Kreise
2.4. Zentrifugale Kreise
2.5. Zusammenfassung.

3. Voraussetzung der Individualisierung
3.1. Moderne
3.2. Soziale Differenzierung
3.3. Undifferenzierte Gesellschaften
3.4. Übergang zu einer differenzierten Gesellschaft

4. Fazit

Literatur

1. Einleitung und Vorstellung der These

Die Individualisierung ist wohl einer der bedeutendsten gesellschaftlichen Trends des 20. und 21. Jahrhunderts. Insbesondere in unserer heutigen, technologisch fortgeschrittenen Zeit hat diese Entwicklung weitreichende Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche. Hierfür muss man nur die gängigen Social-Media-Plattformen, welche von unzähligen Nutzern hauptsächlich zur Darstellung der eigenen Individualität genutzt werden, betrach- ten. Auch in der Arbeitswelt lassen sich die Folgen leicht erkennen. Stets muss man mög- lichst facettenreich sein, um sich somit von anderen Mitbewerben abheben zu können. Das Streben nach Individualität ist heutzutage dementsprechend allgegenwärtig.

Doch wann genau begann diese Entwicklung? Ist sie eine Ausprägung unserer modernen Gesellschaft oder waren Menschen schon in den vergangenen Jahrhunderten bestrebt, möglichst individuell zu sein? Was bewegt Menschen überhaupt dazu, sich zu individuali- sieren und welche Vorgänge stehen hinter der Individualisierung?

Zu den bedeutendsten Soziologen, die sich mit der Individualisierung beschäftigt haben, gehören Émile Durkheim (1858-1917) und Georg Simmel (1858-1918). Beide legten am Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Ansätzen eine Individualisierungstheorie vor.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, angelehnt an Simmels Individualisierungstheorie, zu untersuchen, ob und inwiefern es sich bei der Individualisierung um ein genuin modernes Phänomen handelt. Dies soll anhand der These geschehen, dass die Individualisierung erst durch eine zunehmende gesellschaftliche Entwicklung und Arbeitsteilung ermöglicht wur- de.

Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich zunächst dem Begriff der Vergesellschaftung, der für das Verständnis der gesamten Thematik zentral ist. Darauf aufbauend wird im nächsten Teil die Individualisierung eines Einzelnen nach Simmel näher betrachtet. Sodann wird der Begriff der Moderne kurz definiert.

Im Fokus des dritten Teils dieser Arbeit steht die Untersuchung der gesellschaftlichen Vor- gänge, welche eine Individualisierung des Einzelnen überhaupt erst ermöglichen. Im Rah- men der Untersuchung der gesellschaftlichen Vorgänge, werden zum einen die auslösenden Faktoren näher beleuchtet, zum anderen auch historische Bezüge hergestellt. Gleichzeitig soll auch eine erste Antwort auf die Frage, ob die Individualisierung überhaupt mit der Moderne in Verbindung gebracht werden kann, gegeben werden. Abschließend werden die gesamten Vorgänge, die eine Individualisierung erst ermöglichen zusammenfassend darge- stellt, um schließlich eine Antwort auf die Aufgabenstellung dieser Arbeit geben zu kön- nen.

2. Individualisierung bei Georg Simmel

Um die Frage beantworten zu können, ob und inwiefern es sich bei der Individualisierung um ein genuin modernes Phänomen handelt, ist es zunächst erforderlich, Simmels Indivi dualisierungstheorie zu beleuchten. Hierfür muss im ersten Schritt auf den Begriff der Ver- gesellschaftung, mit welchem sich Georg Simmel in seinem im Jahr 1908 erschienen Werk „Sociologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ beschäftigt hat, näher eingegangen werden.

2.1. Vergesellschaftung

Der Begriff der Vergesellschaftung hat bei Simmel eine zentrale Bedeutung. Vergesell- schaftung beschreibt den Prozess, in dem Individuen wechselseitig auf sich einwirken und somit in eine Beziehung zueinander treten (vgl. Abels 2017: 141). Sie ist also gekenn- zeichnet durch Wechselwirkungen zwischen Individuen. Wechselwirkungen können viele unterschiedliche komplexe Geschehen wie z. B. das Bewirken und Bewirktwerden, Tun und Erleiden oder das Verfügen und Verfügtsein umfassen (vgl. Abels, König 2016: 4). Solche Wechselwirkungen entwickeln sich allerdings nicht zufällig. Vielmehr entstehen sie „immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen“ (Simmel 1908: 17 f.). Diese Triebe können nach Simmel altruistischer oder egoistischer Natur sein, dürfen jedoch nicht moralisch wertend verstanden werden, sondern vielmehr als Motiv für ein bestimmtes Handeln (vgl. Abels, König 2016: 5 f.).

Die bestehenden Wechselwirkungen können sich schließlich zu einer Form verfestigen und sich somit zu einer Einheit, z. B. in Gestalt einer Gruppe, verdichten. Mehrere solcher Gruppen, welche miteinander in einer Wechselwirkung stehen, bilden schließlich eine Ge- sellschaft (vgl. Simmel 1890: 131).

Die Gesellschaft besteht folglich aus Wechselwirkungen und hat deshalb einen dynamischen Charakter. Aus diesem Grund vermeidet Simmel den Begriff der Gesellschaft und bevorzugt es stattdessen, von Vergesellschaftung zu sprechen. Denn „Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen“ (Simmel 1890: 131).

Simmel nahm an, dass eine zunehmende Vergesellschaftung und die Individualisierung Hand in Hand gehen (vgl. Kippele 1998: 68). In seinem Aufsatz „Das Problem der Socio- logie“ führte er sogar auf, dass „[…] die Untersuchung der Kräfte, Formen und Entwick- lungen der Vergesellschaftung, des Mit-, Für- und Nebeneinanders der Individuen, das ein- zige Objekt einer Sociologie als besonderer Wissenschaft sein kann […]“ (Simmel 1894: 57, Anm.). Simmel gilt deshalb auch als Begründer der formalen Soziologie.

2.2. Sozialer Kreis

Wechselwirkungen können sich also zu bestimmten Formen verfestigen. Eine der für die Individualisierung wichtigsten solcher Formen erblickt Simmel im sozialen Kreis. Soziale Kreise sind gekennzeichnet durch Individuen, die aufgrund von gemeinschaftlichen Aspek- ten in eine Wechselwirkung zueinander treten und diese sich sodann zu einem sozialen Kreis verfestigt (vgl. Lahusen/Stark 2000: 262). Als Beispiele hierfür lassen sich die Fami- lie, Berufsgruppe, Sippe oder auch der Staat aufführen. Schließlich unterscheidet Simmel zwischen konzentrischen und zentrifugalen sozialen Kreisen. Diese Unterformen werden im Folgenden kurz vorgestellt.

2.3. Konzentrische Kreise

Simmel sieht den Ausgangspunkt der phylo- und ontogenetischen Entwicklung einer Per- son in seiner Geburt, „[…] in einer Umgebung, die, gegen seine Individualität relativ gleichgültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zusammensein mit denjenigen auferlegt, neben die der Zufall […] ihn gestellt hat […]“ (Simmel 1890: 237). So wird man beispielsweise in eine bestimmte Familie geboren, ohne dass man sich diese aussuchen kann. Die Familie bildet somit einen primären konzentrischen sozialen Kreis. Konzentri- sche soziale Kreise sind durch eine enge und solidarische Verbindung der Personen zuein- ander gekennzeichnet (vgl. Kippele 1998: 72). Sie lassen deshalb auch entsprechend wenig Spielraum für die Individualität des Einzelnen offen.

Neben dem ersten, durch Zufall der Geburt bestimmten, konzentrischen sozialen Kreis können allerdings auch weitere solche Kreise hinzutreten. Diese Kreise sind dann Teil ei- nes großen sozialen Kreises und können sich unter Umständen gegenseitig ausschließen (vgl. Lahusen/Stark 2000: 263). Zur Veranschaulichung dient folgendes Beispiel: Wie schon erwähnt, wird der Einzelne durch Zufall der Geburt Mitglied eines ersten konzentri- schen sozialen Kreises, nämlich der Familie. Diese Familie lebt in einer Dorfgemeinschaft, welche der Einzelne sich ebenfalls nicht aussuchen konnte. Diese gehört wiederum zu ei- ner bestimmten Nation. Die Kreise schließen sich also, bildlich gesprochen, ein. An diesem Punkt setzt Simmel auch den nächsten Schritt der Individualisierung einer Person an:

„Mit fortschreitender Entwicklung aber spinnt jeder Einzelne derselben ein Band zu Persönlichkeiten, welche außerhalb dieses ursprünglichen Assoziationskreises liegen und statt des- sen durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten usw. eine Beziehung zu ihm besitzen; die Assoziation durch äußerliches Zusammensein wird mehr und mehr durch eine solche nach inhaltlichen Beziehungen ersetzt.“ (Simmel 1890: 238)

2.4. Zentrifugale Kreise

Es kommt im nächsten Schritt zur Entstehung zentrifugaler Kreise. Maßgebliche Faktoren hierfür sind die Interessen, Neigungen oder andere Umstände wie z. B. die berufliche Tä- tigkeit des Einzelnen. Diese bestimmen, mit welchen Personen der Einzelne in Verbindung tritt. Auf solchen Gemeinsamkeiten beruhenden Verbindungen zwischen Personen zeich- nen sich, wie oben erläutert, durch Wechselwirkungen aus, die sich zu einem sozialen Kreis verfestigen können. Es lässt sich also eine Veränderung von sozialen Kreisen erken- nen, die aufgrund von rein äußerlichen und durch den Einzelnen wenig beeinflussbaren Umständen bestehen, hin zu solchen, die maßgeblich durch den Einzelnen bestimmt wer- den können.

An dieser Stelle schreibt Simmel die Individualisierung eines Einzelnen fest. Je höher die Anzahl der sozialen Kreise, in die eine Person eingebunden ist, „desto unwahrscheinlicher ist es, dass noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, dass diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkt schneiden“ (Simmel 1890: 240). Indi- vidualität entsteht folglich aus einer spezifischen Kombination sich überschneidender so- zialer Kreise.

Es kann hierbei von objektiver Individualität gesprochen werden. Eine solche „besteht in der einzigartigen Konstellation des Individuums im Schnittpunkt sozialer Kreise“ (Abels 2017: 146). Die Gesamtheit aller sozialen Kreise, deren Teil der Einzelne ist, ergeben bild- lich gesprochen ein gewisses Koordinatensystem der Individualität. Jeder weitere zu die- sem Koordinatensystem hinzutretende soziale Kreis bestimmt folglich die objektive Indi- vidualität der Person genauer.

Eine hohe Anzahl sozialer Kreise hat allerdings eine geringe Bedeutung eines jeden einzelnen für die subjektive Individualität einer Person zur Folge (vgl. Abels 2017: 146). Denn subjektive Individualität wird durch die subjektive Bewertung der Erwartungen eines jeden Kreises bestimmt (vgl. ebd.: 146). Je höher die Anzahl der sozialen Kreise ist, umso weniger fühlt sich die Person durch einen sozialen Kreis bestimmt (vgl. ebd: 146). Zu- sammenfassend lässt sich sagen, dass mit einer steigenden Anzahl an sozialen Kreisen, zu denen eine Person gehört, die objektive Individualität steigt, die subjektive Individualität dagegen jedoch sinkt.

Ausschlaggebend ist schlussendlich auch die Größe der Kreise, deren Teil eine Person ist. Die Größe der sozialen Kreise bestimmt nämlich die sozialen Erwartungen, welche an eine Person gestellt werden (vgl. ebd.: 146). Je enger ein sozialer Kreis ist, desto homogener ist dieser und umso geringer ist die Freiheit der Individualität eines jeden Einzelnen innerhalb dieses Kreises (vgl. ebd: 146 f.). Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings, je größer der soziale Kreis ist, umso größer sind auch die Möglichkeiten der Entwicklung von Individua- lität (vgl. ebd: 147).

2.5. Zusammenfassung

Die Individualisierung einer Person beginnt also mit einem homogenen Kreis, der durch den Zufall der Geburt bestimmt wird. Sodann kommt es zu einer Erweiterung dieses Kreises. Der Einzelne wird Teil mehrerer konzentrischer Kreise. Schließlich knüpft er im Verlauf seiner Entwicklung, geleitet von seinen Interessen, Neigungen sowie anderen indi- viduellen Umständen, Verbindungen zu anderen Personen. Die dabei stattfindenden Wech- selwirkungen verfestigen sich zu sozialen Kreisen. Das Individuum wird Bestandteil von einer unbestimmten Anzahl zentrifugaler sozialer Kreise, welche sich letztendlich über- schneiden und somit seine Individualität bilden.

3. Voraussetzung der Individualisierung

Es bleibt allerdings die Frage offen, ob die soeben beschriebene Individualisierung einer Person ein genuin modernes Phänomen ist oder ob die Individualisierung, wie sie Simmel beschreibt, auch schon in der Vormoderne vorzufinden waren. Um diese Frage beantworten zu können, wird im Folgenden Simmels Begriff der sozialen Differenzierung und die mit ihr einhergehenden Veränderungen der Gesellschaft näher betrachtet. Dabei soll vor allem aufgezeigt werden, weshalb erst mit einer steigenden Arbeitsteilung in der Gesellschaft eine Individualisierung des Einzelnen ermöglicht wird. Zunächst soll allerdings der Begriff der Moderne kurz definiert werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Zu Simmels Individualisierungstheorie. Individualisierung als ein genuin modernes Phänomen
Hochschule
Universität Potsdam
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
12
Katalognummer
V470501
ISBN (eBook)
9783668954434
ISBN (Buch)
9783668954441
Sprache
Deutsch
Schlagworte
simmels, individualisierungstheorie, individualisierung, phänomen
Arbeit zitieren
Roman Rodionov (Autor:in), 2019, Zu Simmels Individualisierungstheorie. Individualisierung als ein genuin modernes Phänomen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/470501

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