Lichtenberg als Leser


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: 1

Anonym


Leseprobe


Inhalt

I Wie man liest

II Goethe und die Empfindsamkeit

III Lichtenberg und Pope

IV Lichtenberg und Kant

V Lavater

VI Andere Schriftsteller

VII Lichtenberg und das Lesen

VIII Anhang

IX Literaturverzeichnis

1. Wie man liest

Lichtenbergs ‚Anweisungen’ oder Ratschläge, wie am besten zu lesen sei, weisen bereits wichtige Lese-Merkmale auf, die er wohl nicht nur seinem Leser an die Hand gibt, sondern die er gleichsam selbst schätzt und anwendet. Denn man kann davon ausgehen, dass er diese Ratschläge aufschrieb, weil er es für wichtig erachtete, dass nicht nur er sie befolgt, sondern auch andere nach ihm. Obgleich er selbst viele seiner Schriften verbrannt hat, denn „die letzte Hand an sein Werk legen, das heißt verbrennen“ (F 173). Er hatte wohl Angst, dass das heute Gelungene nicht dem kritischen Blick von morgen standhalten würde (vgl. Zitelmann S. 42). Im Gegensatz zu seinen Sudelbuch-Notizen, von denen er sich insgeheim ausmalte, dass sie später einmal publiziert würden, war er über andere damalige Publikation privater Briefpartien durch seinen Verleger Kästner durchaus erbost: „Es war nicht schön von Herrn Kästner gehandelt, daß er Dinge aus meinem Briefe hat drucken lassen, ohne daß ich es, ich will nicht sagen erlaubt, sondern nur gantz von Ferne gewünscht hätte“ (Joost, S. 255).

Die Eintragungen innerhalb der Sudelbücher können als Spiegel des ganzen Lichtenberg betrachtet werden. In den Sudelbüchern hat Lichtenberg seine Überlegungen festgehalten, ohne dass eine andere Distanz, z. B. diejenige des zensierenden Mitlesers zu berücksichtigen war. Sein Werk gilt demnach auch als ein Versuch des Autors sich selber zu schreiben und auf diesem Weg sich seiner Identität als Individuum zu versichern, d. h. sich selbst zu erkennen. „Auf dieses kognitive Moment weist er in seiner Notiz J 19 hin, wenn er schreibt, dass ‚jeder der je geschrieben hat, [...] gefunden haben [wird], daß Schreiben immer etwas erweckt was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag’. Schreiben sollte aber kein Ersatz für das Leben sein, sondern es sollte Hilfe sein, mit dem Leben zu Recht zu kommen“ (Schümmer, S. 54).

Eines seiner Hauptanliegen ist das gründliche Lesen, er möchte nicht, dass nur die Augen mit dem Umstand des Lesens beschäftigt sind, sondern er möchte, dass man sich aus einem Grund mit dem Lesen beschäftigt, nämlich, dass „der Geist etwas hinzugewinnt.“ (vgl. F 1212). Die Inhalte sollten zusammengefasst werden, am besten in eigenen Worten, und mit dem vorhandenen Wissen verglichen werden. „Wer so liest ist beschäftigt, und gewinnt“ (F 1212). Lichtenberg schätzt es sehr, das neue Wissen mit dem bereits vorhandenen Wissen zu vergleichen, und darüber hinaus, zu prüfen, ob das neue Wissen sich in das alte einpassen lässt oder nicht. Die geistige Auseinandersetzung des neu erworbenen Stoffes ist Lichtenberg sehr wichtig. Man könnte fast sagen, er unterscheidet zwischen echtem und unechtem Wissen, denn nur auswendig herunter Gesagtes kann nach Lichtenbergs Einstellung noch lange nicht als Wissen gelten. Lichtenberg war des Öfteren entsetzt über das Lernverhalten seiner Studenten, besonders dass sie nicht so sehr dem Wie und Warum der Wissenschaft interessiert seien, sondern sich auf das Fakten lernen stützten. Sein wichtigstes pädagogisches Ziel war, dass seine Schüler „alles auf [ihres] eignen Selbsts Weise und Erfahrung in der Welt verstehen lernen oder wenigstens zu verstehen suchen (JII 2107)“ (in Schümmer, S. 82). Wissen soll Lichtenbergs Ansicht nach produktiv zum Erfahren neuen Wissens benutzt werden. „In dem ‚Materialheft’, das er für seinen ‚Orbis pictus’ zwischen 1778 und 1779 anlegte, hält er beispielsweise fest: ‚Unsere Erziehung im Durchschnitt geht nicht aufs Erfinden und das Beobachten, sondern aufs Verstehen und Wissen, und der Geschwindigkeit wegen aufs Nachplaudern’“ (Schümmer S. 81). Erst der Vergleich und die Auseinandersetzung, die eigene Meinungsbildung – Lichtenberg ist Aufklärer – bringen Erkenntnis und Wissen und sorgen dafür, dass das Wissen sich im Geiste ‚ansetzt’, und nicht sogleich wieder vergessen wird. Denn „nichts erklärt Lesen und Studieren besser, als Essen und Verdauen“ (F 202). Nur auf diesem Wege ist eine qualitative Auseinandersetzung mit dem Lesestoff möglich.

Darüber hinaus ermutigt Lichtenberg seine Leser, sich nicht von zu schwierig erscheinenden Texten abschrecken zu lassen, „dieses ist eine Schwachheit, die in eine völlige Untätigkeit ausarten kann. Man muss sich für nichts zu gering halten“ (in: Stary & Kretschmer, S. 74). Kein Text ist zu schwierig zu lesen. Auch Bücher, deren Inhalt und Autor bereits weitläufig bekannt sind, sollten nicht als Lektüre achtlos beiseite gelegt werden, „denn obgleich das Objekt einerlei bleibt, so ist doch das Subjekt verschieden“ (I/279,3). Einerseits vergleicht jeder Leser die Materie mit seinem eignen Wissen, andererseits haben sich seit Erscheinen des Buches die Zeiten verändert, und man betrachtet das Geschriebene unter ganz neuen Gesichtspunkten.

Zu guter letzt empfiehlt Lichtenberg, nicht nur Bücher einer Sparte zu lesen, sondern sein Horizont zu erweitern und Schriften anderer Art zu lesen, um einen besseren Überblick zu erhalten, um letztendlich mehr ‚Wissen’ zum Zwecke einer eigenen Meinungsbildung zu haben, denn‚ wer nur die Chemie gut kennt, kennt auch die Chemie nicht gut’.

2. Goethe und die Empfindsamkeit

Lichtenberg erweist sich in seinen Äußerungen als ein „empfindsamerer“ Leser, als man es von ihm erwarten würde, trotz seiner offenen Ablehnung Goethes und der überschwänglichen Empfindsamkeit. Goethe war einigermaßen erbost bei seiner ersten Begegnung mit Lichtenberg, denn er wurde Opfer der schlagkräftigen satirischen Äußerungen des Experimentalphysikers. Die Zeitgenossen kannten Lichtenberg nur als sprachmächtigen Polemiker, der mit seiner Schrift „Fragment von Schwänzen“ das derzeit beliebte Werk der Physiognomik, herausgegeben von Lavater, satirisch behandelte und letzteren damit der Lächerlichkeit Preis gab (vgl. Schäfer, S. 5). Auf Lavater werde ich später zu sprechen kommen. Goethe allerdings wurde bei Lichtenbergs satirischen Bloßstellungen nicht außen vor gelassen. In „Dichtung und Wahrheit“ spricht der Verspottete noch von „boshaften Mißdeutungen“, „albernen Späßen und niederträchtigen Verspottungen“, die Lavaters Lehre auf sich gezogen habe, meinte aber vorrangig Lichtenbergs „Fragment“ damit (vgl. Schäfer S. 6). Der Hauptgrund dafür mag darin zu sehen sein, dass Goethe den Schweizer Theologen Lavater, auch mit eigenen Beiträgen, tatkräftig bei seinen Vorhaben unterstützt hat. Des Weiteren stammten Goethe als auch Lavater aus der gleichen Reihe der so genannten Genies, die von späteren Literaturwissenschaftlern als Originalköpfe der Sturm und Drang Zeit eingeordnet wurden, von denen Goethe bis heute als maßgeblicher Kopf angesehen wird. Der in der Literatur eher unbedachte aber überaus konservative Lichtenberg hatte für diese Literaturströmung nicht viel übrig, denn er war eher für ältere Aufklärungspoetik von Gottsched, Kästner und Lessing zu begeistern. Goethe wäre sehr wahrscheinlich noch sehr viel wütender geworden, wenn er Zugang zu Lichtenbergs Sudelbüchern gehabt hätte, in denen er Goethe als „Gimpel“, „Nonsense-Sänger“ oder „Primaner“ beschimpft (vgl. Schäfer, S. 7). Auf der anderen Seite sprach ihm Lichtenberg keineswegs sein Können ab, er sprach Lob aus wenn er schreibt, dass der „Werther“ gewiss „meistermäßig geschrieben ist“ (F 494). Aber die Abhandlungen waren ihm bei weitem zu sentimental, weshalb Lichtenberg am meisten die Stelle im liebte, „wo er den Hasenfuß erschießt“ (F 512). In E 323 vergleicht er Goethes Werke sogar mit der gotischen Literatur, die er, in Assoziation an das dunkle, barbarische Mittelalter, als wirr, fremd, durcheinander und nicht musterhaft betrachtet. Mehr liegt ihm dagegen der Robinson Crusoe, der für ihn ‚anwendbar’, und darüber hinaus sehr britisch ist. Die Originalität, die er in britischen, und auch französischen Werken findet, vermisst er bei den deutschen Schriftstellern seiner Zeit, die seiner Meinung nach „die Kunst durch Nachahmen Original zu werden in der größten Vollkommenheit“ (E 68) besitzt.

Goethe andererseits war der Stern am literarischen Himmel, als Autor des „Götz von Berlichingen“, des „Clavigo“, und nicht zuletzt des „Werther“. Trotz dessen blieb er für Lichtenberg nur ein „Abgott junger Zeitungsschreiber“, „der in unseren Kuchen-Zeiten“ wieder anfängt „Wurzeln roh zu fressen“, der seine paar „Prunkschnitzer gegen Sprache und Sitten“ für unvergleichlich hält und mit „des Teufels Gewalt“ ein „Original“ sein will. Schwärmereien lehnte Lichtenberg sowieso ab. So glaubte er, dass „der Geruch eines Pfannkuchens [...] ein stärkerer Bewegungsgrund [ist] in der Welt zu bleiben, als alle mächtig gemeinten Schlüsse des jungen Werthers sind aus derselben zu gehen“ (in Schäfer, S. 8). Goethes und Lichtenbergs Gesinnungen konnten also unterschiedlicher nicht sein. Und doch treffen sich beide, nicht aus literarischen, sondern auch naturwissenschaftlichen Gründen, bei Lichtenberg zur Präsentation physikalischer Kunststückchen. Doch der Kontakt verlor sich, die beiden gingen sich weiterhin aus dem Weg. Sieben Jahre nach diesem Besuch bei Lichtenberg schickte ihm Goethe seine „Beiträge zur Optik“ und eröffnete damit einen Briefwechsel zwischen den beiden. Goethe erhoffte sich dadurch professionellen Rat und Beistand vom mittlerweile berühmtesten Physiker der damaligen Zeit, denn seine Thesen hinsichtlich des Zusammensetzens von Farben standen im Gegensatz zu Newtons Thesen (vgl. Schäfer, S. 8-9). Lichtenberg jedoch gestand sich ein, mangels fehlenden Wissens und überzeugenderer Gegenthesen kein eigenes Bild von der Materie machen zu können und befürwortete demnach vorerst Newtons These. Dass er sich nicht für Goethes Aussagen erwärmen konnte, schrieb er selbigem natürlich nicht, denn dieser hatte sogar auf eine positive Nachricht von Lichtenberg gehofft. „Von wem ließ sich wohl mehr Beyhülfe, Aufmunterung und Berichtigung erwarten, so bald sie den Gegenstand für wichtig genug halten ihm einiges Nachdenken zu widmen, und den Forscher so werth, um ihm ihre Gedanken mitzuteilen“. Andererseits wertete Lichtenberg Goethes Aussatz vom Ansatz her als positiv: „Der gute Kopf leuchtet überall hervor“ (in Schäfer, S. 10). Doch Lichtenberg sah eine Unverträglichkeit der beiden Gesinnungen und brach den Kontakt ab. Ihr Verhältnis begann mit Differenzen und endete mit selbigen, denn Lichtenberg ließ Goethe seine „Ausführlichen Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche“ zukommen, mit denen nun Goethe nichts anfangen konnte.

„Kein Wunder, Hogarths ‚modern moral subjects’, diese zwischen gewalttätiger Groteske und derbem, detailscharfem Realismus angesiedelten Kupferstiche, und Lichtenbergs ingeniöse Erklärung dazu wollten mit Goethes mittlerweile zur Klassik sublimierten Ästhetik ganz und gar nicht harmonieren“ (Schäfer, S.12).

Die Literatur des Sturm und Drang und auch die deutsche Klassik gingen an Lichtenberg vorbei, als hätte sie es nie gegeben. „Es war die Weltabgewandtheit beider, die sein Missfallen erregte. Stürmer und Dränger überhitzten das Gefühl, die Klassiker überhöhten es, beide auf Kosten der gesellschaftlichen Realitäten: Nirgends war für den ‚geringen Mann’ mitgesorgt, beide Male verkam Literatur zum Illusionsprodukt“ (Zitelmann, S. 252).

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Lichtenberg als Leser
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Lichtenberg und die Anfänge der deutschen Aphoristik
Note
1
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V46951
ISBN (eBook)
9783638440257
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Literaturverzeichnis beinhaltet 9 Einträge. Der Anhang besteht aus 4 Seiten/einzeilig/Schriftgröße 10 und zeigt eine Großzahl an Lichtenbergs Aphorismen, die mit dem Lesen / Literatur / Schriftstellern zu tun haben. Eine themenorientierte Aphorismensammlung ist mir nicht bekannt. Somit dürfte diese von mir 'zusammen-gelesene' Liste für das Thema "Lichtenberg als Leser" eine Menge Zeit beim Suchen sparen.
Schlagworte
Lichtenberg, Leser, Lichtenberg, Anfänge, Aphoristik
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Anonym, 2004, Lichtenberg als Leser, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46951

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