Die Sprache Goyas zwischen Text und Bild


Hausarbeit, 2011

42 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Spanien imZeitalterder Aufklarung
2.1.1 Staat und Gesellschaft im 18. Jahrhundert
2.1.2 Grundzuge derAufklarung in Spanien
2.2 Einfuhrung in Goyas Caprichos
2.2.1 Die Caprichos in der Biographie von Goya
2.2.2 Das Konzept des capriccio
2.2.3 Der Inhalt der Caprichos H
2.3 Das Capricho 2
2.3.1 Bildbeschreibung
2.3.2 Bildunterschrift und intermedialer Bezug zu Jovellanos
2.3.3 Das Verhaltnis von Text und Bild
2.4 Das Capricho 14
2.4.1 Bildbeschreibung
2.4.2 Bildunterschrift und intermedialer Bezug zu Moratin
2.4.3 Das Verhaltnis von Text und Bild
2.5 Das Capricho 23
2.5.1 Bildbeschreibung
2.5.2 Bildunterschrift
2.5.3 Das Verhaltnis von Text und Bild

3. Zusammenfassung

4. Literaturverzeichnis

5. Anhang
5.1 Capricho2
5.2 Capricho 14
5.3 Capricho 23
5.4 Werbeanzeige aus dem Diario de Madrid vom 6. Februar 1799
5.5 Gaspar Melchor de Jovellanos A Arnesto

1. Einleitung

Los Caprichos, die zwischen 1796 und 1798 entstanden sind, sind das Werk des spanischen Malers und Graphikers Francisco de Goya, das am meisten dazu betrug, seinen Namen und seine Kunst in ganz Europa bekannt zu machen. Goya gilt nicht nur als der einzige bedeutende Graphiker, den Spanien hervorgebracht hat, sondern markiert den Beginn der modernen Malerei und wird als Vorlaufer des Expressionismus und des Surrealismus angesehen.

Da er mitten in die Umwalzungen des spaten 18. und fruhen 19. Jahrhunderts hineingeboren wurde, muss sein Schaffen als Zeugnis des politischen, gesellschaftlichen und geistigen Lebens aufgefasst werden.

Nachdem er 1792 erkrankt und taub geworden war, schrieb er am 4. Januar 1794 in einem Briefan seinen Freund Don Bernardo de Iriarte Folgendes:

„Para ocupar la imaginacion mortificada en la consideracion de mis males, y para resarcir en parte los grandes dispendios que me han ocasionado, me dedique a pintar un juego de cuadros de gabinete, en que he logrado hacer observaciones a que regularmente no dan lugar las obras encargadas, y en que el capricho y la invencion no tienen ensanches.“1

Urn seinen „observaciones“ Ausdruck zu verleihen, beschrankte sich Goya allerdings nicht auf die bildliche Darstellung, sondern erganzte die Radierungen mit Legenden. Die Kombination von Druck und Bildunterschrift ist als eine von Goya entwickelte „Sprache“ zu verstehen, die die Einheit von Sichtbarem und Horbarem aufhebt, so dass man von einer Sprache zwischen Text und Bild sprechen kann. Diese Verbindung hat semantische Bruche zur Folge und lasst mediale Zwischenraume entstehen. Somit baut Goyas Sprache durch ihre Intermedialitat mehrdeutige und hochst ambivalente Sinnwelten auf, was exemplarisch an ausgewahlten Caprichos gezeigt werden soil.

Da Goyas Leben und Werk von zwei Epochen und ihres Ubergangs gepragt ist, soil der Analyse der Caprichos ein historischer Uberblick vorangestellt werden. Von besonderem Interesse ist dabei, welcher Stellenwert der Aufklarung in Spanien zukommt und inwieweit diese mit Goya in Zusammenhang gebracht werden kann. Ausgehend von einer kurzen Einfuhrung wird an drei Caprichos, die die Themenvielfalt von Goyas Werk widerspiegeln sollen, untersucht werden, wie Goyas Sprache funktioniert, welche Moglichkeiten sie bietet und welche Probleme sich ergeben. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei die Frage, in welchem Verhaltnis die Radierungen zu ihren Bildunterschriften und den Kommentaren stehen.

2. Hauptteil

2.1 Spanien im Zeitalterder Aufklarung

2.1.1 Staat und Gesellschaft im 18. Jahrhundert

Der Tod des letzten Habsburgers Carlos II lost in dem abgewirtschafteten Land, das in groGen okonomischen und politischen Schwierigkeiten steckt, den Spanischen Erbfolgekrieg (1702-1714) aus, da der kinderlose Carlos II den Bourbonen Philippe d’Anjou, Enkel von Louis XIV, zum Thronfolger ernannt hatte, der deutsche Kaiser allerdings, unterstutzt von England und Holland, eine Ubermacht aus der Verbindung von Spanien mit Frankreich befurchtete und deshalb seinen Sohn Karl zum Konig von Spanien machen wollte. Daraufhin spaltet sich das Land in zwei Lager: Katalonien, Aragon und Valencia stellen sich auf die Seite von Karl, die anderen Regionen auf die Seite des Bourbonen. Im 1713 geschlossenen Frieden von Utrecht wird Philippe d'Anjou als Konig anerkannt und Spaniens Niedergang erreicht seinen vorlaufigen Tiefpunkt und Abschluss, da es alle seine europaischen Besitzungen verliert und mit Gibraltar seine Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer. Philippe d’Anjou leitet als Felipe V eine Phase der Neuorientierung ein. Nach franzosischem Vorbild will er Spanien in einen Zentralstaat umgestalten. Wahrend er sich auGenpolitisch neutral verhalt, fuhrt er innenpolitisch zahlreiche Veranderungen wie die Abschaffung der alten Sonderrechte der Provinzen Oder Verwaltungs- und Steuerreformen ein.

Auch sein Nachfolger Fernando VI fuhrt „diese Politik des auGeren Friedens und inneren Aufbaus"2 fort und verschafft dem Land einen okonomischen Aufschwung, indem er den StraGenbau, den Handel, die Industrie und die Kultur fordert. Unter seinem Nachfolger Carlos III erlebt Spanien eine Blutezeit des aufgeklarten Absolutismus, des Despotismo llustrado. Der unter dem Einfluss der Aufklarer stehende Konig erkennt die Ruckstandigkeit Spaniens und fuhrt mit seinem aus Italien mitgebrachten Gefolge umfangreiche Reformen durch, weshalb es haufig zu Konfrontationen mit dem Adel und dem Klerus kommt, die 1766 ihren Hohepunkt mit dem Madrider Hutaufstand, dem Motin de Esquilache, finden. Der Aufstand gegen seinen aus Italien stammenden Minister hat zur Folge, dass alle italienischen Berater des Konigs entlassen und durch spanische Aufklarer wie Floridablanca und Campomanes ersetzt werden, so dass Spanien nun einen franzosischen Einfluss der Aufklarung erfahrt. AuGerdem dient der Motin de Esquilache Carlos III als Vorwand zur Vertreibung der Jesuiten. Dadurch schaltet er zwar seine Reformgegner aus, doch bedeutet die Jesuitenvertreibung den Verlust einer intellektuellen, okonomischen und progressiven Elite, die eine fuhrende Rolle bei der Verbreitung der Naturwissenschaften innehatte.

1788 besteigt sein Sohn Carlos IV den Thron. Als im darauffolgenden Jahr in Frankreich die Revolution ausbricht, wird Spaniens Politik noch vorsichtiger und zuruckhaltender als zuvor. Aus Revolutionsangst nahert sich der Staat wieder an die Kirche an und die Inquisition wird reaktiviert und erhalt groGere Machtbefugnisse, urn die Verbreitung aufklarerischer Ideen und revolutionarer Schriften zu behindern. Im Februar 1792 wird jede aktuelle politische Berichterstattung verboten, da man durch Missernten Volksaufstande befurchtet. Carlos IV ubertragt Manuel de Godoy die Regierungsgeschafte, der sich zunehmend an Frankreich bindet, was zum Konflikt mit England fuhrt, in dem Spanien fast seine gesamte Flotte verliert. Dies ist ein besonders schwerer Schlag, da Spanien seine Verbindungen zu den Kolonien kaum aufrechterhalten kann. Der am 27. Oktober 1807 geschlossene Vertrag von Fontainebleau erlaubt Napoleon, mit seinen Truppen Spanien zu durchqueren, urn nach Portugal zu gelangen. Doch sein eigentliches Ziel ist die „Gleichschaltung“3 Spaniens. Er besetzt das Land, zwingt Carlos IV und seinen Sohn Fernando VII zur Abdankung und setzt seinen Bruder Joseph Bonaparte als Jose I auf den spanischen Thron. Am 2. Mai 1808 kommt es zu einem Volksaufstand gegen die franzosischen Besatzer und den von Napoleon eingesetzten Konig, der in einen sechs Jahre dauernden Unabhangigkeitskrieg mundet.

Vor diesem Hintergrund lasst sich die Aufklarung in Spanien als zwiespaltige Epoche begreifen: Nach dem Wechsel der Dynastie offnete sich Spanien nach Frankreich und nahm von dort aufklarerisches Gedankengut auf. Doch mit der Invasion Napoleons wurde Frankreich nicht mehr langer als Vorbild, sondern als Besatzungsmacht angesehen. Auch wenn die Bourbonen einen Zentralstaat anstrebten und es zahlreiche Reformen gab, die einen wirtschaftlichen Aufschwung mit sich brachten, so kam es nicht zu radikalen Veranderungen wie in anderen europaischen Landern.

Der Adel stellt im 18. Jahrhundert einen hohen Prozentsatz der Gesamtbevolkerung dar, auch wenn der alte Hochadel zahlenmaGig zuruckgegangen war. Durch Verkaufe von Adelspradikaten wurde den groGen Adelshausern eine Gruppe von neuen Hochadeligen gegenubergestellt, die durch okonomische Aktivitaten zu Reichtum gekommen waren, was dem alten Adel verboten war. Auch Angehorige der mittleren Schicht des Adels, die Caballeros, unterschieden sich finanziell stark voneinander. Der niedere Adel ging, vor allem im Norden, gewohnlichen bauerlichen, handwerklichen Oder kommerziellen Tatigkeiten nach. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts geriet der Adel immer mehr in Kritik. Selbst in den Reihen der Adeligen fand sich die aufklarerische Vorstellung wieder, dass Adel durch personliche Verdienste und nicht durch Geburt erreicht werden sollte.

Auch wenn der Klerus ebenfalls groGe soziale Unterschiede aufweist, bildete er einen privilegierten Stand. Das Zeitalter der Aufklarung konnte seine Attraktivitat nicht beeintrachtigen, vielmehr war sein Anteil an der Gesamtbevolkerung in der Mitte des 18. Jahrhunderts grower geworden als in alien anderen Epochen. Die Kirche besaG nicht nur graven Reichtum wie beispielsweise Immobilien, sondern auch oft die besten Boden, deren Jahresertrag fast ein Viertel der spanischen Gesamtproduktion ausmachte. Auch auf sozialer Ebene war der Einfluss der Kirche groG. Das Schulwesen, die Armen- und Krankenfursorge, die Waisen- und Altenbetreuung lagen ebenso in Handen des Klerus wie viele Bibliotheken. AuGerdem pragte die Kirche durch religiose Feste, Prozessionen und Zeremonien das offentliche Leben, die Volkskultur sowie den Lebenszyklus der Menschen.

Mitte des 18. Jahrhunderts stellte das Volk 90% der Gesamtbevolkerung dar. Die Mehrheit lebte auf dem Land. Auch wenn die meisten von ihnen kleine Landbesitzer waren, so konzentrierte sich der Landbesitz nach Suden hin auf wenige GroGgrundbesitzer. Das gemeine Volk machte nur einen sehr geringen Teil der Stadtbevolkerung aus, die in Zunfte organisiert war. Haufig bildeten die einfachen Leute Randgruppen wie Zigeuner, verarmte Witwen Oder Invaliden.

Auch im Sozialgefuge Spaniens kommt es im 18. Jahrhundert kaum zu Veranderungen. Adel und Klerus konnen ihre privilegierte Stellung gegen die erstarkende Handelsbourgeoisie verteidigen, doch eine wachsende Durchlassigkeit der Standesgrenzen ist zu erkennen. Zum einen wurden unter Carlos III Nicht- Adelige in Regierungsamtern tatig und teilweise aufgrund ihrer Verdienste in den Adelsstand erhoben. Zum anderen war die spanische Aristokratie in die Gesellschaft integriert. Wahrend sie die volkstumlichen Trachten majos und majas imitierte, orientierte sich der Lebensstil des Burgertums am Adel, da seine Finanzkraft zunahm. Das Spiel der Uberschreitung der Standesgrenzen beschrankte sich allerdings auf die Stadte. Die Landbewohner waren, wie auch bei politischen, sozialen und kulturellen Veranderungen, kaum daran beteiligt, auch wenn sie den groGten Anteil an der Gesamtbevolkerung ausmachten.

2.1.2 Grundzuge der Aufklarung in Spanien

Der Begriff der Aufklarung wurde von Immanuel Kant gepragt, den er 1784 in seinem

Aufsatz Beantwortung derFrage: Was istAufklarung? folgendermaGen definiert:

„Aufklarung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmundigkeit. Unmundigkeit ist das Unvermogen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmundigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der EntschlieBung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch derAufklarung.“4

Der Rationalismus, der sich durch eine Vernunftorientierung und somit durch vernunftgeleitetes Handeln auszeichnet, fand in der Metaphorik des Lichts seinen Ausdruck. In klarer Abgrenzung vom „finsteren“ Mittelalter soil dieses „Licht der Vernunft" die geistige Dunkelheit erhellen.

Die Aufklarung sieht den Menschen in der Lage, sich selbst zu helfen, urn so das Ziel, die Mundigkeit, zu erreichen. Der Mensch gilt an sich als wertvoll und gleich, so dass neben eine universale Weltoffenheit ein Toleranzgebot gestellt wird. Ein kosmopolitisches Interesse druckt sich in der Suche nach einem Dialog mit anderen Kulturen aus, so dass Reisen mit Bildung gleichgesetzt wird. Eine neue Gattung, der Reisebericht, kommt auf. Als Beispiel dafur lassen sich die Cartas marruecas von Jose Cadalso y Vazquez anfuhren, in denen aus der Sicht eines Orientalen auf die Missstande in Spanien hingewiesen wird.

Da das einzelne Individuum in den Vordergrund ruckt, gewinnt die schulische und universitare Ausbildung an Wert, was sich auch in der Grundung von Bibliotheken und akademischen Gesellschaften wie der Real Academia Espanola widerspiegelt. Von besonderer Bedeutung sind die entstehenden tertulias, eine Art Debattierclub, in denen neben wirtschaftlichen, politischen Themen und literarischen Texten, auch die Ideen der Aufklarung diskutiert werden, was eine Verbreitung des aufklarerischen Gedankenguts bewirkte.

Zusammenfassend lasst sich sagen, dass die Reichweite der Aufklarung in Spanien strittig ist. Im Gegensatz zu anderen Landern wie Frankreich, behielt die Kirche ihre machtvolle Position, was sich bereits auf sprachlicher Ebene auGerte. Das „Licht“ konnte aus Sicht der Kirche nur von Gott gesendet werden, so dass es zu einer Begriffsbegrenzung kam. Wahrend das Verb ,iluminar‘ auf die religiose Erleuchtung beschrankt blieb, wurde ,ilustrar‘ im Sinne der Aufklarung verwendet. Gefordert wurde die Bewegung, wie die Reformen der Bourbonen gezeigt haben, von der spanischen Krone. Doch auch Kleriker wie der Benediktinermonch Feijoo Oder der Jesuit Isla vertraten die aufklarerischen Ideen, so dass man von einem Paradox sprechen kann. Die Kritik derAufklarer richtete sich gegen Missstande wie Korruption Oder die Verbreitung von Aberglauben durch die Kirche, doch der Glaube an Gott und der Respekt vor den Institutionen der Kirche wurden nicht in Frage gestellt. Diese grundsatzlich kirchenbejahende Haltung der spanischen Aufklarer ist eine weltweite Besonderheit und kann als llustracion cristiana bezeichnet werden.

2.2 Einfuhrung in Goyas Caprichos

2.2.1 Die Caprichos in der Biographie von Goya

Francisco de Goya y Lucientes wurde am 30. Marz 1746 in Fuendetodos, einem Dorf in der Nahe von Saragossa, geboren. Als Sohn eines Vergolders und einer verarmten Adligen, lebte er in bescheidenen Verhaltnissen. Nachdem er in der Werkstatt des provinziellen Malers Jose Luzan Martinez gelernt hatte, verlasst er 1763 seine Heimat, urn nach Madrid zu gehen, wo er erfolglos an zwei Wettbewerben urn ein Stipendium der Koniglichen Akademie San Fernando teilnimmt, bevor er 1770 nach Italien geht. Als er ein Jahr spater nach Saragossa zuruckkehrt, erhalt er seinen ersten Auftrag. Seine 1773 geschlossene Ehe mit Josefa Bayeu, eine Schwester zweier Maler, sowie das Interesse des Ersten Hofmalers ermoglichen Goya, ab 1775 in der Koniglichen Teppichmanufaktur Santa Barbara zu arbeiten. Goya knupft Kontakte zu Kunstlern und Schriftstellern, zu Architekten und Musikern, die ihm nicht nur Auftrage beschaffen, sondern ihn auch mit den Gedanken der Aufklarung vertraut machen. 1780 wird er in die Academia de San Fernando aufgenommen. Funf Jahre spater wird er zum stellvertretenden Direktor der Akademie fur Malerei ernannt und 1786 zum Maler des Konigs. In dieser Zeit lernt er einflussreiche Reformpolitiker und Aufklarer am Madrider Hof kennen. Nach dem Tod Carlos III wird er von dessen Nachfolger Carlos IV zum Hofmaler ernannt. Als in Frankreich die Revolution ausbricht, finden sich Goyas befreundete Aufklarer und Reformer in einer ungewissen Lage. Nachdem der Graf Caburrus eingekerkert und Jovellanos und Saavedra verbannt wurden, verlasst Goya 1792 ohne Einholung einer offiziellen Urlaubsgenehmigung Madrid. Er reist nach Andalusien, wo er im Januar 1793 schwer erkrankt. Diese Krankheit fuhrt zu einem dauernden Verlust des Gehors. Zuruck in Madrid muss er seine kunstlerische Tatigkeit stark einschranken. Doch scheint die Taubheit, die zu Goyas Vereinsamung fuhrte, seine visuelle Wahrnehmungsfahigkeit gescharft zu haben, denn in der Zeit von 1796 bis 1798 arbeitet er an den Caprichos, die er 1799, in dem Jahr, in dem er zum Ersten Hofmaler ernennt wurde, veroffentlicht. In einem Likor- und Parfumladen im Stadtzentrum von Madrid werden die 80 Caprichos am 6. Februar zum Verkauf angeboten. Da Goyas Radierungen nicht wie ublich in Buchhandlungen verkauft wurden, erscheint im Diario de Madrid eine Werbeanzeige, in der das „Produkt der Einbildungskraft" eine Metamorphose ,,in einen Konsumartikel"5 durchmacht. Das Produkt wird als

,,Coleccion de estampas de asuntos caprichosos, inventadas y grabadas al aguafuerte por D. Francisco de Goya“6

beschrieben und Goyas Absicht, die „errores y vicios humanos"7 zu verhohnen, genannt. Die Gesellschaft habe dem Kunstler und seiner Einbildungskraft nicht nur die Themen geliefert, sondern auch das „material para el ridfculo"8. AuGerdem wird die Notwendigkeit eines Paktes mit den „inteligentes“9 genannt. Zum einen sollen die „inteligentes“ begreifen, dass es sich nicht um eine simple Abbildung der Natur, sondern um eine neue und innovative Technik handelt. Zum anderen sollen sie erkennen, dass die Arbeit des Kunstlers darin besteht,

„exponer a los ojos formas y actitudes que solo han existido hasta ahora en la mente humana, oscurecida y confusa por la falta de ilustracion o acalorada por el desenfreno de las pasiones.“10

Somit lasst sich die Werbeanzeige als eine Anspielung auf die Notwendigkeit einer „Erleuchtung“ im doppelten Sinne auffassen: „das ,ans Licht bringen' (veroffentlichen), was verborgen ist, das ,klaren‘, was unklar (dunkel) ist.“11 Diese Notwendigkeit ist wohl der Grund dafur, dass der Kreis potentieller Kaufer von den „inteligentes“ auf „el publico"12 ausgeweitet wird. „Die Mehrzahl der gewohnlichen Leute [sah] die Caprichos als eine pure Laune des Kunstlers. Diejenigen aber, die etwas mehrVerstand [hatten], [realisierten] ziemlich rasch, dass die Bilder im Grunde eine ratselhafte Bedeutung haben."13 Bereits die von Goya gewahlte Technik deutet darauf hin, dass die Caprichos als symbolische „Zeichen“ wahrgenommen werden mussen, denn das Atzen ist nicht nur eine Technik, „die nicht so einfach auszuloschen war"14, sondern auch „keine oberflachliche Angelegenheit."15 Insgesamt wurden von den 300 Radierungen nur 27 verkauft. Nach wenigen Tagen stellt Goya den offentlichen Verkauf seiner Caprichos ein, da er eine Verfolgung durch die Inquisition furchtet. Im Juni 1803 schenkt er die Kupferplatten sowie die restlichen Exemplare der ersten Auflage dem Konig Carlos IV. Im Gegenzug erhalt Goya eine Rente fur seinen Sohn. Dass Goya ohne Schaden aus dieser gefahrlichen Situation davonkam, liegt daran, dass er zu diesem Zeitpunkt den Hohepunkt seiner Laufbahn als Hof- und Gesellschaftsmaler erreicht hatte. AuGerdem stellte er auf diese Weise sicher, dass die Caprichos, die im Ausland sehr begehrt waren, nach seinem Tod nicht in „fremde Hande" fielen, was man als patriotische Motivation auffassen konnte.

1806 genehmigt Godoy die erste offizielle Veroffentlichung der Caprichos durch die Konigliche Calcografie.

Als 1808 die Abdankung von Carlos IV erzwungen wird, die Franzosen in Spanien einmarschieren und der Unabhangigkeitskrieg ausbricht, bleibt Goya in Madrid, wo er dem neuen Konig Joseph Bonaparte, Napoleons Bruder, den Treueeid leistet.

Der Krieg sturzt Goya erneut in eine Krise. Er wird Zeuge des „Widerspruchs zwischen seinen aufgeklarten, liberalen und damit frankophilen Uberzeugungen und der grauenvollen Realitat der Invasion, der von den franzosischen Besatzungstruppen verubten Greuel."16 Die Irrationalitat des Krieges erschuttert seinen Glauben an die Macht der Vernunft und die Ideale der Aufklarung. Goya wird vorsichtig und versucht, sich jeder extremen Parteinahme zu enthalten. 1811 verleiht ihm Joseph Bonaparte den Koniglichen Orden von Spanien. 1814 fertigt Goya die beiden Werke Der 2. Mai 1808 und Der 3. Mai 1808 an, die neben den Caprichos einen Hohepunkt seines Schaffens darstellen und in denen er die Realitat deformiert, „um den Ausdruckswert zu verstarken und uberschreitet so die Grenzen des Zeitgebundenen, Zufalligen und Anekdotischen; er erhebt die Anklage gegen jede Art von Gewalt auf eine universale Ebene.“17 Goya gelangt zu der Erkenntnis, „daR> aller Schmerz und alle Anstrengungen des Krieges vergeblich waren“18, was seine zunehmende Vereinsamung und eine immer pessimistischere Sicht der Welt verursacht. 1823 wird Goyas Lage mit der Restauration des Absolutismus in Madrid immer unsicherer. Nachdem er ein paar Monate aus Angst vor Repressalien und Denunziationen im Hause des Priesters Duaso verbracht hat, bittet er beim Hof urn Genehmigung, nach Frankreich zu reisen. In Bordeaux trifft er sich mit dem in der Emigration lebenden Moratfn und verbringt zwei Monate in Paris, bevor er sich mit Leocadia Zorrilla, die nach dem Tod seiner Frau seine Lebensgefahrtin wurde, in Bordeaux niederlasst. 1826 reist er nach Madrid, wo er seine Pensionierung als Hofmaler unter Weiterzahlung seines Gehalts erwirkt. Bis zu seinem Tod am 16. April 1828 malt Goya unablassig.

2.2.2 Das Konzept des capriccio

Caprichos geht auf das italienische Wort .capriccio' zuruck und hat sich in den romanischen Sprachen „als gleichbedeutend mit Phantasie eingewurzelt."19 Man versteht darunter, dass es keine Schranken fur die Malerei gibt, was bedeutet, dass die Caprichos eine Antipode derVernunft entwerfen. Der Maler kann ganz aus seiner Phantasie schopfen, was der aus Italien stammende spanische Schriftsteller Vicente Carducho zu einem Vergleich mit Ziegen (it. la capra) veranlasste, „weil sie auf schwierigen steilen Wegen dahinziehen, wo sie neuen Spitzfindigkeiten nachspuren und mit ihrem Willen uberdas Gebrauchliche und Gewohnliche hinausstreben [,..].“20 Vergleicht man Goyas Caprichos mit den capricci des 17. und 18. Jahrhunderts, wie etwa denen von Callot Oder Tiepolo, so fallt auf, dass sich die Atmosphare der Schilderungen verandert hat. Wahrend die fruhen capricci, die mit Humor den Absonderlichkeiten und den pittoresken Situationen des Lebens und der Sagenwelt gewidmet waren, einen heiteren Charakter haben, so steilen Goyas Caprichos eine verzerrte Sicht der Wirklichkeit dar. Sei es als Darstellung von Phantastischem, Eingebildetem und Unwirklichem Oder als „Hinweis auf die grotesken, lasterhaften Oder niedrigen Aspekte der Menschen."21

Wenn sich Goya in die kunstlerische Tradition des capriccio einschreibt, dann macht er aufmerksam auf die strukturellen Unbestimmtheiten und thematischen Grenzgange, die seine Radierungen entwickeln werden. Da ein Teil der Radierungen auf Vorzeichnungen beruhen, die als eine Serie von Suehos konzipiert waren, knupft Goya auGerdem an die literarische Tradition von „Traumerzahlungen“ an, die einen ahnlich grenzuberschreitenden Charakter besitzen.

Seit Jaques Callot treten capricci in der Regel nicht als Zyklus, sondern als Reihe auf. Diese lasst sich beliebig verlangern und verandern, so dass es keinen Anfang und kein Ende gibt. Auch bei Goyas Caprichos ist das der Fall. Das Prinzip dieser losen Aneinanderreihung kann als grotesk-karnevaleske Verfahrensweise aufgefasst werden, die ,,eine Widerstandigkeit des Radierungszyklus gegen die neoklassizistische Kunstdoktrin"22 akzentuiert.

[...]


1 http://gl.j azz.openfun.org/wiki/Goya

2 Neuschafer, Hans-Jorg [Hrsg.]: Spanische Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler 20063 S.186

3 Neuschafer20063, S. 187

4 http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1366&kapitel=l#gb_found

5 Stoichita, Victor I./ Coderch, Anna Maria: Goya. Der letzte Karneval. Paderbom: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 168

6 http://es.wikipedia.org/wiki/Los_caprichos

7 ebda

8 ebda

9 ebda

10 ebda

11 Stoichita 2006, S. 172

12 http://es.wikipedia.org/wiki/Los_caprichos

13 Stoichita 2006, S. 173

14 Stoichita 2006, S. 176

15 ebda

16 Perez Sanchez, Alfonso E./ Gallego Julian: Goya. Das druckgraphische Werk. Munchen, New York: Prestel 1995, S. 9

17 ebda

18 ebda

19 Goyay Lucientes, Francisco Jose de/ Lafuente Ferrari, Enrique: Samtliche Radierungen undLithographien. Wien, Munchen: Verlag Anton Schroll 1961, S. 12

20 ebda

21 ebda

22 Schlunder Susanne: Karnevaleske Korperwelten Francisco Goyas. Zurlntermedialitat der Caprichos. Tubingen: StauffenbergVerlag2002, S. 117

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Die Sprache Goyas zwischen Text und Bild
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1,0
Jahr
2011
Seiten
42
Katalognummer
V468465
ISBN (eBook)
9783668930353
ISBN (Buch)
9783668930360
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sprache, goyas, text, bild
Arbeit zitieren
Anonym, 2011, Die Sprache Goyas zwischen Text und Bild, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/468465

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