Schulabsentismus und der Einfluss der Familie. Wie wirkt sich die familiäre Situation auf Schulschwänzer aus?


Fachbuch, 2019

76 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Übersichtsgegenstand: Schulabsentismus

2 Zugrundeliegende Theorie: Kontrolltheorie nach Travis Hirschi

3 Die Entwicklung von Werten, Normen und Moral
3.1 Werte, Normen und Moral: Begriffsdefinitionen
3.2 Lawrence Kohlberg: Theorie der moralischen Entwicklung

4 Familiale Einflüsse im Lichte der Theorie
4.1 Strukturmerkmale
4.2 Innerfamiliale Merkmale

Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Tom Sawyer, Pippi Langstrumpf und Emils Detektive – schulschwänzende Heranwachsende, die durch ihre abenteuerlichen Erlebnisse fernab von Schulglocke und Hausaufgaben eine Vielzahl an Lesern zum Schmunzeln bringen. Im 18. und 19. Jahrhundert noch Gegenstand literarischer Unterhaltung, rückt der Schulabsentismus im 21. Jahrhundert zunehmend in den Fokus der Medien und zieht damit auch die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft auf sich (Dunkake, 2010). Folglich stellt der Schulabsentismus kein Randphänomen dar, welches unbeachtet von der Bildfläche verdrängt werden kann. Dies äußert sich nicht zuletzt in europäischen Initiativen, die sich eine Senkung der Schulabbrecherquote als Ziel setzen. Weiterhin nehmen sich auch Bund und Länder dieses Problems an (Ricking, 2014), denn im Jahr 2017 lag die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Schulabschluss in der Bundesrepublik Deutschland bei 52.685 (6,3%) (Statistisches Bundesamt, 2018).

Während Tom, Pippi und die Detektive in den meisten ihrer Abenteuer nahezu unversehrt davonkommen, stellt der Schulabsentismus für Kinder und junge Erwachsene trotz gesetzlich verankerter Schulpflicht in der Gegenwart eine reale Versuchung und damit einhergehend auch eine reale Gefahr dar. Durch regelmäßiges Fernbleiben erreichen Schülerinnen und Schüler in der Regel keinen Schulabschluss und müssen sowohl mit beruflichen, als auch finanziellen Nachteilen im weiteren Verlauf ihres Lebens rechnen (Wagner, 2007). Besonders alarmierend ist jedoch die Tatsache, dass Schulabsente in Gefahr laufen, kriminelle Wege einzuschlagen: Drogendelikte, Diebstahl oder Sachbeschädigungen stellen dabei die häufigste Form krimineller Akte dar (Wilmers et al., 2002).

Schulabsentes Verhalten weist keine homogenen Strukturen auf. Ursachen und Einflüsse könnten – genau wie Schülerinnen und Schüler – unterschiedlicher nicht sein.

In der vorliegenden Bachelorarbeit im Rahmen des Studiengangs Bachelor of Education soll der Schulabsentismus im Zusammenhang mit einer speziellen Einflussgröße betrachtet werden: der Familie. Als Lehrperson hat man nicht nur täglichen Kontakt mit Schülerinnen und Schülern, sondern auch mit deren Eltern und Familien. In den letzten 30 Jahren sind die Leistungsanforderungen in Deutschland gestiegen. Dynamiken im Bildungs- und Wissenschaftssystem mit kontinuierlichen Änderungen bedeutet für Erziehungsberechtigte, alte Erziehungsnormen zu überdenken und gegebenenfalls neue zu übernehmen (Nave-Herz, 2008). Neben innerfamilialen Merkmalen ändern sich auch familiale Strukturmerkmale. Geschuldet ist dies einer zunehmend voranschreitenden Globalisierung, welche stetig zur Veränderung von Lebens- und Gesellschaftsformen beiträgt (Blasius & Schmitz-Roden, 2014). Als Folge sind Erziehungsberechtigte oftmals nicht mehr in der Lage, Probleme innerhalb der Familie und Erziehung mit angemessener Ruhe und Geduld zu lösen. Die dadurch hervorgerufene Unsicherheit der Eltern führt zu einer Art Anspruchsdenken gegenüber Lehrpersonen. Erleben Kinder und Jugendliche Probleme in der Schule und ihren Sozialisationsprozessen, tragen in Augen der Eltern oftmals die Lehrerinnen und Lehrer Schuld (Nave-Herz, 2008). Tatsächlich gilt jedoch die Familie als der Ort, an dem das Individuum schon im Kleinkindalter mit gesell­schaftlichen Vorstellungen und Erwartungen in Berührung kommt. Die Familie ist der Ursprungsort aller Gesellschaften und allen Zusammenlebens – in allen Kulturkreisen. Zu ihren primären Aufgaben gehören neben der Kindszeugung auch die Erziehung des Nachwuchses, um die Gesellschaft zu erhalten. Ferner ist es der Familie Pflicht, Kulturleistungen zu vermitteln. Dazu gehören unter anderem Sprache, aber vor allem geltende Normen und Werte (Blasius & Schmitz-Roden, 2014). Weisen Kinder und Jugendliche von Normen und Werten abweichendes Verhalten auf, so werden die Blicke auf die Familie gerichtet (Dunkake, 2010).

Welchen Einfluss übt die Familie, wenn Schülerinnen und Schüler die Schule trotz gesetzlicher Schulpflicht nicht regelmäßig besuchen?

Zur Beantwortung dieser Frage findet im ersten Kapitel eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Schulabsentismus statt. Dabei liegt der Fokus auf zwei Formen schulabsenten Verhaltens: dem klassischen Schulschwänzen und der elterlichen Zurückhaltung. Beide Formen stellen abweichendes Verhalten dar. Das zweite Kapitel widmet sich abweichendem Verhalten im Kontext der sozialen Kontrolltheorie nach Travis Hirschi. Seiner Meinung nach liegt abweichendes Verhalten dem Individuum inne – zu Konformität müsse es erst erzogen werden. Relevant dafür sind vor allem konventionelle Wert-, Norm- und Moralvorstellungen. Wie diese sich entwickeln und begründen, ist Thema des dritten Kapitels. Dazu wird das stufenweise Entwicklungsmodell der Moral nach Lawrence Kohlberg vorgestellt. Das vierte und abschließende Kapitel beschäftigt sich mit den Ergebnissen ausgewählter Studien zu Struktur- und innerfamilialen Merkmalen bei Familien schulschwänzender Kinder. Dabei werden die familialen Einflüsse mit der Kontrolltheorie Hirschis und der Moralentwicklung nach Kohlberg verbunden.

1 Übersichtsgegenstand: Schulabsentismus

Das Schulschwänzen stellt im rechtlichen Kontext eine Ordnungswidrigkeit dar, da es die in Deutschland herrschende Schulpflicht verletzt. Vollendet ein Kind bis zum jeweils 30. Juni eines Jahres sein sechstes Lebensjahr, so ist es verpflichtet, die Schule ohne Abbruch zu besuchen. Dabei beträgt die gegenwärtige Schulpflicht in Deutschland 12 Jahre. Dieser Wert setzt sich zusammen aus neun Vollzeit- und drei Teilzeitschuljahren (Wagner, Dunkake & Weiß, 2004). Der Schulbesuch ist eine von der Gesellschaft institutionalisierte Erwartung an schulpflichtige Kinder und Jugendliche. Wird diese Erwartung verletzt, verstößt das Individuum durch seine unentschuldigten Fehlzeiten gegen die Norm der Schulpflicht und somit des regelmäßigen Schulbesuchs (Dunkake, 2010).

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff Schulschwänzen negativ konnotiert. Oftmals erweckt er den Eindruck, Schülerinnen und Schüler nehmen die bekannte „Null-Bock-Haltung“ ein und vergnügen sich außerhalb der Unterrichtszeit und des Schulgebäudes. Dass der Stuhl im Klassenzimmer leer bleibt, kann jedoch durchaus andere Motive und Gründe haben als das klassische Schwänzen. Schulschwänzen, Schulverweigerung, Schulversäumnis, unregelmäßiger Schulbesuch; Begrifflichkeiten, die alle ein verwandtes Phänomen beschreiben, in ihrer Betrachtung und Definition jedoch unterschiedliche Schwerpunkte setzen (Dunkake, 2010). Familiäre Lebens- und Erziehungsbedingungen, individuelle psycho-soziale Merkmale der Heranwachsenden, schulische Lehr- und Lernbedingungen, Gleichaltrige und die sogenannten Peers spielen – je nach Form und Kategorie des Schulabsentismus – ebenfalls eine entscheidende Rolle (Ricking, 2014).

Um sich auf das Phänomen des Schulabsentismus einzulassen, empfiehlt es sich, den Begriff Schulabsentismus zunächst wertfrei als Fehlzeit in Unterricht und Schule zu definieren, unabhängig von rechtlicher Legitimation (Seeliger, 2015).

Zentrales Moment des Absentismus ist folglich die körperliche Abwesenheit der Schülerinnen und Schüler aus dem gesamten Wirkbereich der Schule als Institution.

Als eine Art „Vorform“ des Schulabsentismus kann zu Beginn ein schulablehnendes Verhalten beobachtet werden. Die körperliche Anwesenheit der Betroffenen ist zwar gegeben, den schulischen Anforderungen und Abläufen stehen sie jedoch mit ablehnender Haltung gegenüber. Sie haben innerlich abgeschaltet und folgen dem Unterrichtsgeschehen nicht mehr. Diese anfängliche Aversion äußert sich weiterhin unter anderem durch Schulunlust, Unterrichtsstörungen, Zuspätkommen, Schulversagen, Motivationsproblemen und Angst. Mit der Schulaversion beginnt eine Art Entkopplung der Kinder und Jugendlichen von der Schule (Ricking, 2014).[1] Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, wird der Schulabsentismus in diesem Kapitel in zwei Unterkategorien gegliedert, die für die weitere Diskussion relevant sind: Schulschwänzen und elterliches Zurückhalten.

Schulschwänzen

Der Begriff des Schulschwänzens wird am meisten in unserer Alltagssprache verwendet. Er bezeichnet das unmissverständliche Wegbleiben im Unterricht ohne (schul)rechtlich legitimen Grund (Seeliger, 2015). Dabei finden die Versäumnisphasen in unterschiedlicher Intensität, jedoch wiederkehrend statt (Ricking, 2014). Bis zu einem gewissen Grad spiegelt das Schulschwänzen kein ungewöhnliches Verhalten wider, denn vereinzeltes Fehlen wird oft als ein Bestandteil in der Entwicklung Jugendlicher gesehen (Dunkake, 2010; Seeliger, 2015). Die Fehlzeiten können auch im Nachhinein noch über ein formales Entschuldigungsschreiben der Eltern legitimiert werden. Dabei handelt es sich bei den versäumten Tagen oder Stunden nicht selten um das Meiden ungeliebter Schulfächer oder dem einfachen Grundbedürfnis von Schülerinnen und Schülern, sich eine Auszeit vom schulischen Alltag nach ihren individuellen Bedürfnissen zu nehmen (Seeliger, 2015). Dennoch kann das Schulschwänzen auch auf weniger harmlosen Absichten gründen. In vielen Fällen herrscht eine aversive Einstellung gegenüber der Schule als Institution.

Damit einhergehend ist ebenfalls eine gewisse Abneigung gegen die Lehrpersonen und das Unterrichtsgeschehen gegeben – sowohl inhaltlich, als auch formal. Durch das regelmäßige Wegbleiben, Zuspätkommen oder die nicht vorhandene Mitarbeit positionieren die Schülerinnen und Schüler sich klar gegen die Schule.

Während sie sich nicht in der Schule und deren Wirkungsbereich befinden, verbringen die Schwänzenden ihre Zeit beispielsweise auf abgelegenen Sportplätzen oder in den Einkaufsmeilen der Innenstadt. Einerseits, um ihren Erziehungsberechtigten nicht zu begegnen; andererseits, um am Vormittag attraktiveren Beschäftigungen außerhalb ihres Elternhauses nachgehen zu können. Somit liegt der Fokus des Schwänzens nicht nur allein auf dem Meiden des Unterrichts, sondern auf dem Wunsch, spaßigeren, leichteren und „sinnvolleren“ Beschäftigungen nachzugehen. Dies resultiert vorallem daraus, dass Schülerinnen und Schüler sich aufgrund allgemein wachsender Perspektivlosigkeit unwohl in der Schule fühlen und den Sinn in dem, was sie tun (müssen), nicht erkennen (Ricking, 2014).

Elterliches Zurückhalten

Dem gegenüber steht eine weitere Form des Schulabsentismus: das elterliche Zurückhalten. Dabei handelt es sich um das Zurückhalten von schulpflichtigen Kindern durch die Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen, die über das Sorgerecht des jeweiligen Kindes verfügen. Diese Abwesenheit vom Unterricht geht nicht vom Kind aus. Bisher wurde diese Form von Schulabsentismus in der Wissenschaft nur wenig untersucht, Tendenz jedoch steigend (Seeliger, 2015).

Nichtsdestotrotz fand man in der Vergangenheit heraus, dass die Motive elterlichen Zurückhaltens vielfältig sind. So wie das Schulschwänzen erfährt auch das elterliche Zurückhalten unterschiedliche Intensitäten. Ganz ähnlich wie Schülerinnen und Schüler, die ihr gelegentliches Fernbleiben als harmlose Geringfügigkeit darstellen, argumentieren auch Eltern und Erziehungsberechtigte, wenn sie beispielsweise nach eigenem Ermessen dazu greifen, die Ferien ihrer Kinder zu verlängern oder vorzuverlegen, um so günstigere Flugtickets oder Pauschalreisen zu buchen. Darüber hinaus erfahren junge Heranwachsende nicht selten eine gewisse Gleichgültigkeit seitens der Erziehungsberechtigten gegenüber ihrer schulischen Ausbildung. Oft geschieht dies vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen.

Kulturelle Differenzen führen dazu, dass Kinder, vorallem Mädchen, der Schule ferngehalten werden, da Eltern die Zeitspanne der Schulpflicht als unnötig lang empfinden. Des weiteren sorgen auch psychische Erkrankungen, übermäßiger Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit dazu, dass Eltern nicht in der Lage sind, ihre erzieherischen Pflichten wahrzunehmen. Dadurch können Kinder und Jugendliche sich verantwortlich und verpflichtet fühlen, auf ihre Eltern oder weitere Geschwister aufzupassen oder sich um den Haushalt zu kümmern. Ein Schulbesuch am Vormittag lässt sich folglich einerseits zeitlich, andererseits auch psychisch nicht realisieren. Ferner können Bindungsängste der Eltern dazu führen, dass sie eine Trennung von ihren Kindern kaum bis gar nicht akzeptieren (Ricking, 2014). Weiterhin kann schlicht und ergreifend das Unwissen über die in Deutschland herrschende Schulpflicht dazu führen, dass Eltern ihre Kinder nur unregelmäßig zur Schule schicken (Seeliger, 2015). Für die Kinder und Jugendlichen tritt die gesetzliche Schulpflicht dann außer Kraft, sobald die elterliche Erlaubnis oder sogar die Aufforderung eintritt, der Schule fernzubleiben (Ricking, 2014).

Fazit

Weder Eltern, noch Kinder sind sich daüber im klaren, was in den Momenten des regelmäßigen Fernbleibens tatsächlich passiert. Um in Deutschland einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit nachgehen zu können, ist ein erfolgreicher Schulabschluss unabdingbar. Können Schülerinnen und Schüler ebendiesen nicht vorweisen, erhöht sich das Risiko, eine berufliche Beschäftigung im Niedriglohnsektor ausüben zu müssen oder sogar von sozialen Transferleistungen Gebrauch zu machen (Seeliger, 2015). Voraussetzung für die Erlangung eines Schulabschlusses sind die Teilnahme am Unterrichtsgeschehen sowie die körperliche Anwesenheit vor Ort. Geschieht beides nicht auf geregelter Basis, wird es für die Heranwachsenden unmöglich, sich für einen Schulabschluss zu qualifizieren. Aber nicht nur die biographischen Folgen sind verheerend. Mit einem regelmäßigen Fernbleiben wird auch gegen gesellschaftliche Werte und Normen verstoßen, vor allem aber gegen die gesetzliche Schulpflicht. Folglich stellt der Schulabsentismus – irrelevant, ob durch Schwänzen oder Zurückhalten der Eltern gekennzeichnet – eine Form abweichenden Verhaltens dar (Dunkake, 2010). Was es mit der Begrifflichkeit des abweichenden Verhaltens auf sich hat, wird im nächsten Abschnitt diskutiert.

Bis dahin soll für dieses Kapitel festgehalten werden: Der Schulabsentismus stellt ein facettenreiches Phänomen innerhalb unserer Gesellschaft dar, welches eine Vielzahl möglicher Gründe, individueller Verläufe, spezieller Intensitäten und persönlicher Folgen birgt (Dunkake & Ricking, 2017).

2 Zugrundeliegende Theorie: Kontrolltheorie nach Travis Hirschi

Abweichendes Verhalten. Der Überbegriff für unterschiedliche Verhaltensweisen, die eine Gemeinsamkeit teilen: Sie alle verstoßen gegen Vorstellungen von Werten, Normen und Moral einer sozialen Gemeinschaft und haben negative Reaktionen sowieso Sanktionen zur Folge (Oberwittler, 2018). In der Soziologie wird abweichendes Verhalten auch als Devianz bezeichnet. Dieser Begriff bezieht sich auf „Verhaltensweisen, die mit geltenden Normen und Werten nicht übereinstimmen“ (Lautmann, 2007, S. 132). Neben Verhalten können auch Personen, soziale Lagen (z.B. Armut), Einstellungen und sogar Erscheinungsformen von Körpern als abweichend gelten. Verhalten Menschen sich abweichend, so grenzt sich ihr Verhalten eindeutig von einer geltenden Toleranzgrenze ab. Dementsprechend bewertet eine soziale Gruppe eine Handlung als abweichend, sobald sie gegen öffentlich anerkannte, vorherrschende und bis dato durchgesetzte Verhaltensregeln verstößt. Darüber hinaus gilt das Abweichende als das „sozial Unerwünschte“ (Luedkte, 2008, S. 186). Der Begriff Delinquenz beschreibt abweichende Verhaltensweisen, die straf- und sozialrechtliche Sanktionen hervorrufen können. Schulpflicht stellt sowohl eine Norm, als auch einen Wert dar. Gleichzeitig – sofern der Gesetzesgeber es vorsieht – gilt sie auch als Gesetz. Regelmäßiges Schulschwänzen gilt demnach als deviante, aber auch delinquente Handlung.

Wie aber kommt es dazu, dass Menschen von gesellschaftlichen Moral-, Norm- und Wertvorstellungen abweichende Handlungen vollziehen?

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit ebendieser Fragestellung und beleuchtet dabei die sogenannte Kontrolltheorie. Sie wird definiert als

„theoretische Richtung in den Untersuchungen über Delinquenz und abweichendes Verhalten, die […] die Ursachen für delinquentes und deviantes Verhalten in einer reduzierten Bindung der Täter an die Gesellschaft bzw. in deren verminderter Kontrollmacht sieht“ (Lautmann, 2007, S. 132)

Die Kontrolltheorie ist Anfang des 20. Jahrhunderts in den Fokus der kriminologischen und soziologischen Theoriebildung gerückt, als man sich erstmals um die Erklärungen abweichenden Verhaltens bemühte (Frings, 2007). Sie beruht auf der Annahme des französischen Soziologen und Ethnologen Emile Durkheim, eine Gesellschaft sei ohne jegliche Form von Abweichung nicht denkbar, da jede Norm auch ihre Brechung einschließt: Eine kriminelle Tat verletzt das gemeinsame Bewusstsein einer Gesellschaft nicht, weil sie an sich kriminell ist; vielmehr gilt sie als kriminell, eben weil sie das gemeinsame Bewusstsein verletzt (Oberwittler, 2018). Darauf beziehen sich auch weitere Hauptvertreter der Kontrolltheorie, namentlich Travis Hirschi, Robert J. Sampson und John L. Laub. Die vorliegende Arbeit skizziert die Ideen Hirschis. Zentrales Moment seiner Kontrolltheorie ist die Fragestellung, welchen Einfluss die Familie auf die Entwicklung abweichenden Verhaltens Kinder und Jugendlicher hat.

In seinem Werk Causes of Delinquency schreibt Hirschi (1969, S. 10): „Deviance is taken for granted; conformity must be explained”. Übersetzt bedeutet dies: Abweichung gilt als selbstverständlich; es ist die Konformität, die erklärt werden muss. Hirschi vertritt die Auffassung, dass Menschen von Natur aus zu deviantem Verhalten neigen. Er sieht das menschliche Individuum in seiner Natur als impulsives, aggressives und asoziales Wesen, welches einer Gesellschaft mit festlegten Normkonsens und Wertvorstellungen gegenübersteht. Um diese Gegenüberstellung aufzuheben, muss das Individuum – so Hirschi – schrittweise an die Gesellschaft herangeführt werden, um fest an diese gebunden zu werden. Ziel dieser Anbindung ist es, eine möglichst beständige Konformität in Bezug auf geltende Normen und den Wertekonsens zu erlangen, um so abweichendes Verhalten weitestgehend auszuschließen. Diesen Bindungsprozess, und deshalb wird seine Theorie auch oft als Bindungstheorie bezeichnet (Dunkake, 2010), stützt Hirschi (1969) auf vier Ebenen:

1. Attachment: emotionale Bindung an Bezugspersonen
2. Commitment: Investition in konventionelle Lebensziele
3. Involvement: Einbindung in konventionelle Tätigkeiten
4. Belief: Ausmaß der Orientierung an konventionellen Werten und Normen

Attachment

Die erste Ebene ist die attachment -Ebene, zu Deutsch Anbindung. Dabei geht es um die emotionale Anbindung des Individuums an andere Personen. Hirschi (1969, S. 18) führt aus: „If a person does not care about the wishes of other people […] then he is to that extent not bound by the norms”. Folglich gelangt die Frage in den Fokus, inwiefern es relevant für ein Individuum ist, andere Erwartungen zu erfüllen als die eigenen. Wie wichtig ist es, Erziehungsberechtigte oder andere Bezugspersonen sowie Mitmenschen nicht zu enttäuschen? Zentral sieht Hirschi (1969, S. 85) das „attachment to conventional parents“, also die Bindung an konventionelle Eltern. Je enger ein Individuum an konforme Erziehungsberechtigte gebunden ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es kriminellen und abweichenden Handlungen nachgeht. Sozialisation und eine Internalisierung von Normen, Werten und sozialer Moral basiert für Hirschi auf elterlicher Bindung. Seiner Meinung nach sind Kinder nicht in der Lage, ein Gefühl für moralisch korrekte Handlungen zu entwickeln, wenn sie keine Bindung erfahren. Auch die Ausbildung des Gewissens sowie die Formung des sogenannten Super-Egos betitelt Hirschi ohne elterliche Bindung als problematisch, fast schon unmöglich.[2] Orientieren sich Kinder an den konventionellen Wünschen und Erwartungen, die ihre Bezugspersonen ihnen gegenüber ausdrücken, so ist die Gefahr einer potentiellen Abweichung geringer (Hirschi, 1969).

Im Kontext des Schulabsentismus bedeutet dies, dass Erziehungsberechtigte und Eltern einen regelmäßigen Schulbesuch und die in Deutschland herrschende Schulpflicht in ihren Werte- und Normkonsens aufnehmen sollten. Die emotionale Bindung an Bezugspersonen führt dazu, dass das Individuum sich an deren Wünschen und Erwartungen orientiert. Eine enge Bindung von Kindern und Jugendlichen an Personen mit konventionellen Lebenszielen und Orientierungen kann das Risiko abweichenden Verhaltens minimieren. Für den Schulabsentismus impliziert dies, dass das Risiko von Schwänzen und Schulverweigerung reduziert wird (Wagner et al., 2004).

Von allen vier Ebenen schreibt Hirschi der des attachment die größte Relevanz zu. Dabei macht er Gebrauch von einem psychologischen Motiv, nämlich der indirekten Kontrolle. Gerät ein Kind oder Jugendlicher in Versuchung, delinquente Handlungen zu vollziehen, so ist die enge Bindung zu Bezugspersonen in diesem Moment entscheidend. Die Vorwürfe, die die Bezugspersonen ihren Schützlingen machen könnten, schwirren in deren Köpfen herum und können somit abweichende Handlungen verhindern (Hirschi, 1969).

Commitment

Als zweite Ebene skizziert Hirschi das commitment. In der Soziologie wird commitment definiert als eine Art Verpflichtung oder Bindung an internalisierte kulturelle Werte (Esser, 2000). Im Kontext der Bindungstheorie geht es um die rationale Abwägung von abweichenden Handlungen: Welchen Nutzen bringen sie dem ausführenden Individuum? Können sie dem regelkonformen Status, den das Individuum bis zu diesem Zeitpunkt einnimmt, schaden (Hirschi, 1969)? Ist das Individuum bereit, in konventionelle Lebensziele zu investieren (Dunkake, 2010)? Je mehr investiert wird, desto stärker erfolgt ein Abwägen der Pro- und Kontraaspekte abweichenden Verhaltens (Hirschi, 1969).

Zur Verdeutlichung folgendes Szenario: Ein Schüler droht, zum chronischen Schwänzer zu werden. Wurde in der Vergangenheit eine hohe Summe in die Schullaufbahn investiert, so sind die Kosten des drohenden Absentismus – sprich schlechte Noten oder das Sitzenbleiben – höher, als der Gewinn, den der Schüler durch das Schwänzen erzielen würde (z.B. eine individuelle Freizeitgestaltung oder die Flucht vor Leistungsdruck). Nun stellt sich der Schüler möglicherweise die Frage, was er zu verlieren hat. Muss er diese mit „nichts“ beantworten, so bedeutet dies, dass er einerseits weder seine guten Leistungen verliert, andererseits auch bis zu diesem Zeitpunkt kein Ansehen bei konformen Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrpersonen oder Eltern erfahren hat. Daraus lässt sich schließen: Je mehr bis zum Zeitpunkt X in die Schullaufbahn eines Heranwachsenden investiert wurde, desto geringer ist die Chance eines langfristigen Schulabsentismus (Wagner et al., 2004).

[...]


[1] Dieser Entkopplungsprozess kann im schlimmsten Falle im sogenannten Dropout resultieren, indem die Heranwachsenden die allgemeinbildende Schule ohne Abschluss verlassen (Dunkake, 2010).

[2] In der Psychoanalyse stellt das Super-Ego oder auch Über-Ich den Teil der Persönlichkeit dar, der internalisierte Ideale – Moral, Normen und Werte – repräsentiert. Dort findet zudem die Ausbildung des Gewissens statt. Auch die Planung zukunftsorientierter Handlungen geschieht im Super-Ego (Stangl, 2018e).

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Schulabsentismus und der Einfluss der Familie. Wie wirkt sich die familiäre Situation auf Schulschwänzer aus?
Autor
Jahr
2019
Seiten
76
Katalognummer
V468098
ISBN (eBook)
9783960956563
ISBN (Buch)
9783960956570
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schulpflicht, Bildungssystem, Schulbildung, Unterricht, Gesellschaft, Eltern
Arbeit zitieren
Ingrid Detter (Autor:in), 2019, Schulabsentismus und der Einfluss der Familie. Wie wirkt sich die familiäre Situation auf Schulschwänzer aus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/468098

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