Fahrradkuriere. Eine sportliche Subkultur?


Diplomarbeit, 2005

89 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

Vorwort

1 Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Begriffe und Abgrenzungen
1.2.1 Fahrradkurier
1.2.2 Sport - sportlich
1.2.3 Subkultur
1.3 Methodische Vorgehensweise
1.3.1 Qualitiative Forschung und Lebensweltliche Ethnographie
1.3.2 Forschungsperspektiven
1.3.3 Induktivistische Orientierung und theoretical sampling
1.3.4 Kontextualität von Erhebung und Analyse
1.3.5 Teilnehmende Beobachtung
1.3.6 Zur Datenerhebung
1.3.7 Zur Datenauswertung

2 Fahrradkurier – Was ist das?
2.1 Äußere Sichtweise
2.1.1 Auftreten
2.1.2 Fahrweise
2.1.3 Vermarktung
2.2 Grundlegende Arbeitsvorgänge im Alltagsbetrieb
2.2.1 Auftragsannahme
2.2.2 Auftragsvergabe
2.2.3 Auftragsabwicklung
2.3 Die geschichtlichen Anfänge
2.3.1 Entdeckungsphase
2.3.2 Entwicklungsphase
2.3.3 Orientierungsphase
2.4 Der Fahrradkurier als ökologische Alternative

3 Die Sichtweise der Fahrradkuriere
3.1 Soziale Situation und Lebenslage
3.2 Soziale Kontakte
3.3 Identitätsbewusstsein
3.3.1 Ausrüstung
3.3.2 Selbstsicherheit
3.3.3 Regeln und Gesetze
3.3.4 Kontaktfreudigkeit
3.4 Körperliche Beanspruchung
3.5 Motivationelle Aspekte
3.5.1 Fitness und Gesundheit
3.5.2 Bewegungstrieb
3.5.3 Freude an der Bewegung
3.5.4 Körperliches Training und Leistungsgrenzen
3.5.5 Wagnis
3.5.6 Innerer und äußerer Kampf
3.6 Freiheit

4 Die Wettkampfszene
4.1 Szene und Wettkampf
4.2 Spezifische Werte und Normen der Wettkampfszene
4.2.1 Gemeinschaftsinn
4.2.2 Solidarität
4.2.3 Offenheit und Toleranz
4.2.4 Rebellion
4.3 Entstehungsgeschichte der modernen Kurierwettkämpfe
4.4 Das Alleycat
4.4.1 Grundregeln
4.4.2 Konditionell-koordinative Elemente
4.4.3 Psyche
4.4.4 Taktik
4.4.5 Rahmenbedingungen
4.5 Alternative Wettkampfformen
4.5.1 Global Gutz
4.5.2 Trials - Sprintrennen
4.5.3 Bergsprint - Bergzeitfahren
4.5.4 Cargo Race
4.5.5 Fixie-Only: Trackskid, Trackstand, Backward Circle
4.5.6 Bike Polo

5 Zusammenfassung

Literatur

Nicht immer wird im Text die weibliche Bezeichnung mitgenannt. Das liegt daran, dass der gesamte Text dann deutlich länger und umständlicher geworden wäre. Aber natürlich sind auch immer Frauen gemeint.

Vorwort

Als ich nach dem Abitur die elterliche Wohnung verließ und nach Arbeit suchte, da verspürte ich tief in mir den Drang nach Selbständigkeit, den Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit und den Willen, endlich Eigenverantwortung im Leben zu übernehmen. Nachdem ich mich mit Gelegenheitsjobs für einige Monate über Wasser hielt, bewarb ich mich bei der Münchener Firma TransPedal 1998 als Fahrradkurier. Bei TransPedal war zu dieser Zeit kein Bedarf an zusätzlichen Fahrern, doch mit meiner Hartnäckigkeit konnte ich den damals Zuständigen überreden, mich dennoch einzustellen. Seit diesem Zeitpunkt in meinem Leben finanziere ich den Hauptanteil meines Lebensunterhaltes als Fahrradkurier. Durch das Kurierfahren sammelte ich schmerzliche Erfahrungen an eisigen Wintertagen oder nach Unfällen, erlebte aber auch immer wieder den Rausch der Erfüllung nach stundenlangen Fahrten. Das Kurierfahren hat mich erwachsen werden lassen und schließlich zu mir selbst geführt. Schon bald brach ich mein „Alibi“-Studium in Informatik ab und absolvierte den Eignungstest, um Sportwissenschaften zu studieren. Am Ende meines Studiums möchte ich nun in meiner Abschlussarbeit die Thematik „Fahrradkurier“ aufgreifen, um meinen Beitrag zu leisten, das Phänomen auch wissenschaftlich zu erschließen. Noch während ich diese Arbeit verfasse, bin ich nebenzeitlich für gleichzeitig drei Münchner Kurierfirmen als Fahrradkurier im Einsatz.

Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Fahrradkurieren, die mir während der Forschungsarbeit ausnahmslos zur Seite standen und sich durchweg bereitwillig und in einer sehr offenen Haltung von mir befragen ließen. Meinen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle an Benni und Flo aussprechen, die durch ihre unermüdliche Arbeit zum Zusammenhalt der Szene beitragen und durch ihr Engagement die Entstehung einer echten Szene mit gemeinschafltichen Aktivitäten auch jenseits des Kurierfahrens in München überhaupt ermöglicht haben.

1 Einleitung

1.1 Fragestellung

Nach ethnographischen Gesichtspunkten ist das Phänomen Sport ein Teilgebiet typisch moderner Lebenswelten und damit eine Art Sonderkultur. Diese Sonderkultur umfasst wiederum zahlreiche Subkulturen, die sich um die verschiedenen Sportarten und Gebiete des Sports bilden. Aber wie treten solche Subkulturen in Erscheinung? Wo bestehen Gemeinsamkeiten und worin unterscheiden sie sich? Und was sind überhaupt die entscheidenden Elemente, die eine Subkultur zu einer Subkultur des Phänomens „Sport“ machen? Auf diese und noch weitere Fragen werde ich in meiner Arbeit versuchen, eine Antwort zu finden, vor allem aber auf die Frage, ob Fahrradkuriere eben eine solche „sportliche“ Subkultur repräsentieren.

Die Fahrradkuriere stellen dabei zunächst eine Gruppierung dar, die bisher noch kaum von den Sportwissenschaften erschlossen bzw. überhaupt erkannt wurden. Vor dem Hintergrund, ein neues Feld für die Sportwissenschaft zu entdecken und zugleich Grundlagen für weitere Forschungen zu schaffen, leiste ich durch die Exploration nach sportwissenschaftlichen Aspekten in diesem Feld also Pionierarbeit. Insbesondere verfolge ich dabei die Absicht, zu verstehen und zu übersetzen, welchen Sinn die Akteure mit ihrem Tun verbinden. Über die Erweiterung der Kenntnis neuer sportlicher Kulturkreise gewinnt schließlich auch das Bild über den „Sport“ als Ganzes in den Sportwissenschaften an Schärfe und ermöglicht Vergleiche zwischen den verschiedenen Formen des Sports.

Um eine erste Richtung bei den Forschungsarbeiten einzuschlagen werde ich mich zunächst den in der Fragestellung auftauchenden Begriffen „Fahrradkurier“, „sportlich“ und „Subkultur“ zuwenden, ihre genaue Bedeutung in diesem Zusammenhang herausarbeiten und auf notwendige thematische Abgrenzungen eingehen. In den nachfolgenden Ausführungen über die Methodik erörtere ich die wesentlichen Aspekte der Forschungstheorie und begründe mein methodisches Vorgehen.

Im Hauptteil nähere ich mich dem Phänomen „Fahrradkurier“ zunächst von außen und beschreibe im Detail die Vorgangsweise im Fahrradkurierbetrieb, um die Arbeitsweise des Fahrradkuriers zu erklären und so eine Basis für das Verständnis zu schaffen. Anschließend wende ich mich der geschichtlichen Entwicklung zu, um Bedingungen und Auswirkungen des Zeitwandels auf das Kurierwesen festzumachen und evtl. schon den Zeitpunkt der Entstehung von ersten sportlichen Subkulturen einzukreisen. Danach nähere ich mich der Innenansicht des Phänomens, indem ich beginne, den Menschen hinter dem Fahrradkurier zu beschreiben und greife dabei auf Datenmaterial in Form von selbst durchgeführten Interviews zurück. Dabei werde ich Aufzeichnungen und Beobachtungen immer wieder den Begriffen „sportlich“ und „Subkultur“ gegenüberstellen. Die genaue Beschreibung der Menschen leitet mich dann weiter zu einer dichten Beschreibung der Szene, die von diesen Menschen gebildet wird. Von der Szene gelange ich wiederum zur Schilderung des dort ursächlichen Wettkampfwesens, ehe ich am Schluß der Arbeit nochmals zusammenfassend auf die Fragestellung eingehe und versuchen werde, in kurzen Worten eine abschließende Antwort zu finden.

1.2 Begriffe und Abgrenzungen

1.2.1 Fahrradkurier

Synonyme für den Fahrradkurier im deutschen Sprachraum sind Velokurier, Fahrrad-, Eil- oder auch Kurierbote, im englischen Sprachgebrauch ist von „bicycle messenger“ oder kurz „bike messenger“ die Rede. Die grundlegenden Arbeitsvorgänge sind dabei stets die selben: Eine Ware muss innerhalb einer möglichst kurzen Zeitspanne vom Ort des Absenders zum Ort des Empfängers der Sendung überbracht werden. Den größten Teil der Strecke legt der Fahrradkurier dabei mit Hilfe seines Fahrrades zurück. Im Branchenreport 2004 heißt es dazu außerdem: „Beim Kurierdienst ist die persönliche Begleitung der anvertrauten Sendung das entscheidende Merkmal. Der Kurierbote transportiert die Sendung direkt und unverzüglich zum Empfänger“ (Mathejczyk, 2004, S.13). Den Fahrradkurier in seiner ursprünglichen Wortbedeutung kann es also prinzipiell überall dort geben, wo ein Mensch sich mittels eines Fahrrades fortbewegen kann. Fahrräder sind über die ganze Welt verbreitet und vereinzelt existieren auch Berichte über Fahrradkuriere in ferneren Ländern.

Außerhalb der westlichen Industriestaaten finden sich nur vereinzelt Berichte über größere Fahrradkurierdienste. Taraki (2003) beschreibt zum Beispiel einen Fahrradkurierdienst in Afghanistan, der mit Hilfe des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) zur Reintegration von kriegsversehrten Frauen und Männern ins Leben gerufen wurde: „Ausgestattet mit Mountainbike, Helm und Atemmaske befördern sie [d. Verf.: die Fahrradkuriere] Briefe, Päckchen und Güter rund um die Uhr durch die Straßen von Kabul“ (Taraki, 2003, Abs. 2). An anderer Stelle berichtet Walter (2004, Abs. 1) von einem Fahrradkurierdienst in der Mongolei: „Wer als Fahrradkurier in Ulan Bator arbeitet, hat einen Knochenjob. Doch allen Gefahren des Verkehrsdschungels zum Trotz – die Kuriere treten unermüdlich in die Pedale, auch wenn sie nicht wissen, wo die Post eigentlich hin soll.“

Dennoch konzentriert sich in meiner Arbeit das Hauptaugenmerk auf den Fahrradkurier in den westlichen Industrieländern der „ersten Welt“ bzw. primär auf die Szene in Mitteleuropa und Nordamerika. Die Eingrenzung gründet sich jedoch keineswegs auf Desinteresse oder gar mangelnder Toleranz, sondern einfach darauf, dass die Fahrradkuriere in den „nicht-westlichen“ Ländern zwar teilweise ähnlichen Bedingungen unterliegen wie hierzulande, jedoch aufgrund großer struktureller und ökonomischer Unterschiede letztlich nur sehr begrenzt Vergleiche zulassen. -So beklagt ein mongolischer Fahrradkurier zum Beispiel, „es ist schwierig, sich in Ulan Bator zu orientieren. Denn fast nirgendwo gibt es Straßennamen und Hausnummern.“ (Walter, 2004, Abs. 11). Ein weiterer großer Nachteil ist der Mangel bzw. das totale Nichtvorhandensein seriöser Datenquellen und wissenschaftlicher Literatur über Fahrradkuriere in ferneren Ländern. Aber auch die Literatur über Fahrradkuriere insgesamt beschränkt sich auf nur wenige Standardwerke, zumeist Biographien langjähriger Fahrradkuriere (z.B. Culley, 2002) oder vereinzelte Diplomarbeiten (z.B. Recher, 2002), worin die Thematik „Fahrradkurier“ zumindest am Rande aufgegriffen wird. Eine im Vergleich dazu fast unüberschaubare Datenmenge findet sich hingegen im Internet, das von der Fahrradkurierszene ausgiebig als Szeneportal genutzt wird und deshalb auch mir als einer von vielen Forschungsbereichen diente.

So ergaben ausgiebige Internetrecherchen, dass schon in den Randstaaten Europas größere Ansammlungen von Fahrradkurierdiensten nur mehr relativ wenig verbreitet sind (siehe auch „Bicycle Messengers Europe: http://www.bme.org/), so dass hier der Schwerpunkt klar auf Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und Schweiz liegt. Die wenigen Fahrradkurier-Unternehmen in den nördlichen Staaten Europas erklären sich wohl u.a. durch das ungünstige Klima, während in den südlichen Staaten wohl auch gesellschaftliche Gründe verantwortlich gemacht werden müssen. Insbesondere die große Beliebtheit von Motorrollern steht dort im Gegensatz zu einer größeren Verbreitung von Fahrrädern.

Die Arbeitsbedingungen in Nordamerika sind denen in Mitteleuropa wiederum sehr ähnlich, so dass auch hinsichtlich der Szene Parallelen gezogen werden können. Kennzeichnend für eine gemeinsame Szene sind überregionale Vereinigungen wie die „IFBMA- International Federation of Bicycle Messengers“ (http://www.messengers.org/), die auch gleichzeitig die zentrale Anlaufstelle für offizielle und inoffizielle, regionale und überregionale Fahrradkurierwettkämpfe darstellt. So konzentrieren sich auch die jeweiligen Austragungsorte der großen Fahrradkurierweltmeisterschaften bezeichnenderweise auch ausschließlich auf die Metropolen in Nordamerika oder Mitteleuropa.

1.2.2 Sport - sportlich

Der Begriff „sportlich“ ist grammatikalisch zunächst einmal ein in dieser Fragestellung dem Begriff „Subkultur“ vorangestelltes Adjektiv. Um zu verstehen, welche Eigenschaften es dadurch dem Begriff Subkultur verleiht, muss man wissen, was nun „sportlich“ überhaupt genau bedeutet. Ich verwende dabei die allgemeine Übersetzung des Dudens, worin als Erklärung an erster Stelle angeführt wird: „den Sport betreffend, auf ihm beruhend“. Das führt wiederum weiter zu der Frage, was denn nun überhaupt Sport sei?

Und damit befinden wir uns in einem existentiellen Dilemma der Sportwissenschaften, denn ein Konsens über eine allgemein gültige Definition des Begriffs ist bisher noch nicht zustandegekommen. Während auf der einen Seite Holzke (2001) von der „Unzulässigkeit oder Unerwünschtheit einer Definition“ (S.86) bzw. von der „Unmöglichkeit einer Definition“ (S.82) nach epistemologischen Kriterien berichtet, existiert auf der anderen Seite eine unüberschaubare Anzahl an Definitionsvorschlägen (Grieswelle, Rigauer, Heinemann, Voigt u.a), bis hin zu Versuchen, Sport über das allgemeine Verständnis, „was uns als Sport erscheint“ (Honer, 2003, S.45) zu definieren. Und tatsächlich ist Sport zu einem umgangssprachlichen Begriff geworden, der weltweit angewandt wird und aufgrund vielfältiger kultureller Einflüsse entsprechend unterschiedlichen Deutungen unterliegt, die in ihrer Gesamtheit auch nur schwer zu umfassen sind. Ferner entrückt das Aufkommen zahlreicher neuer Modesportarten und Sinnrichungen den Sportbegriff zunehmend von seiner traditionellen Bedeutung:

„Die Weiterentwicklung des modernen Sports löst die ehemals markanten Begrenzungslinien und Konventionen dieses Handlungsfeldes [...] schleichend auf und wird insgesamt durch die neuartigen Formen des Umgangs mit Kultur sowie den Wandel der Orientierungen im Reich des Geschmacks vorangetrieben“ (Schwier, 2000, Abs.1)

Röthig & Pohl (2003) schreiben in diesem Zusammenhang auch von einer „Entsportlichung des Sports“ (S.494) vor dem Hintergrund der „Versportlichung der Gesellschaft“ (S.494).

Es geht mir in dieser Untersuchung im Vorfeld also weniger um eine strikte Definition notwendiger Kriterien des Sports, die anschließend der Reihe nach durchgegangen und abgehakt werden, um letzten Endes nach dem Motto „schwarz oder weiß“ zu entscheiden, in welche Schublade dieses Phänomen denn nun einzuordnen ist. Viel mehr ziehe ich in meiner Untersuchung genau diejenigen Aspekte in Betracht, die die Grundlage für mögliche Kriterien in den jeweiligen Definitionen bilden. Nach Röthig & Pohl (2003) wird Sport in der Literatur dabei hauptsächlich unter folgenden Aspekten interpretiert:

Zweckfreies Tun, Aggressionsventile, Bewegungstrieb, Leistungsmotivation, Schönheit der Bewegung, Emanzipation, Existenzerlebnis, Gesellungsbedürfnis und soziale Tugenden, rituelle Ersatzbefriedigung, kollektive Identifikation, Fitness und Gesundheit, Prestige und Präsentation.

Dieses Vorgehen erlaubt eine mehrdimensionale Sichtweise zur Erschließung eines mehrdimensionalen Phänomens um im Nachhinein die Möglichkeit offen zu halten, die Kriterien verschiedener Definitionen „schablonenhaft“ aufzulegen und so –eben je nach Definition- zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. Als Schablone dienen abschließend drei unterschiedlich eng gefasste Begriffsbestimmungen nach den Vorstellungen von Heinemann, Voigt und Hägele

1.2.3 Subkultur

Eine Subkultur bezeichnet gemäß dem Lexikon zur Soziologie eine „mehr oder weniger abweichende Kultur einer Teilgruppe“ (1995, S.655). Abweichungen bestehen dabei u.a. hinsichtlich von Lebensstilen, Wertvorstellungen, Gesellungsformen und expressiven Eigenheiten. Müller-Kohlenberg (1991, S.591) schreibt dabei außerdem von einer Trennung von der kompakten Majorität durch „Normen, Praktiken, Ideologien und Identitätsbewußtsein“. Diese Merkmale werde ich anhand einer genauen Analyse der Fahrradkurierszene herausarbeiten und sie den Merkmalen der Gesamtgesellschaft gegenüberstellen. Als Bezugspunkt für die Gesamtgesellschaft dient mir in meiner Arbeit die Gesellschaft in den westlichen Industriestaaten, die Teilgruppe stellt die Gruppe der Fahrradkuriere in den westlichen Industriestaaten dar. Obwohl man wohl von einer gemeinsamen „westlichen“ Grundhaltung sprechen kann, so existieren dennoch immer auch mehr oder weniger große regionale Unterschiede, die ich in meiner Arbeit jedoch aufgrund des Umfangs nicht immer berücksichtigen kann. Da in dieser Arbeit der Schwerpunkt meiner Forschungen auf der deutschen Szene, insbesondere der Münchener Szene liegt, kann ich eine regionale Prägung der Forschungsergebnisse wohl nicht ausschließen. Dennoch findet sich eine Vielzahl an Indizien, die es zulässig macht, von der Münchener Szene exemplarisch auch auf Szenen in anderen Orten zu schließen. Ausgehend von meinen selbst im Feld erhobenen Daten werde ich zu diesem Zweck auch immer wieder Parallelen zu Szeneberichten aus anderen Ländern (insbesondere U.S.A.) ziehen.

Der Stil einer Subkultur „findet Ausdruck in Kleidung, Ritualen, Musik, Sprache (Argot), Körpersprache und Aktivitäten“ (Müller-Kohlenberg, 1991, S.593), so dass ich mein Augenmerk vor allem auf genaue äußerliche Beschreibungen der Fahrradkuriere sowohl als Einzelpersonen, aber auch als Angehörige in der Gruppe bzw. bei Szenetreffen, richten werde.

Aufgrund der Vielfalt subkultureller Erscheinungen, möchte ich eine Subkultur der Fahrradkuriere außerdem nach den von Müller-Kohlenberg (1991) genannten, vier systematisierenden Gesichtspunkten untersuchen, auch wenn die Einordnung der Fahrradkuriere in die eine oder andere Kategorie zunächst als offensichtlich erscheint:

1. Freiweillige versus unfreiwillige Subkultur- Besteht freie Wahl hinsichtlich der Zugehörigkeit oder existieren äußere Zwänge?
2. Progressive versus regressive Subkultur- Welche Richtung haben politische Ansprüche bzw. sind sie in der Mehrheit überhaupt vorhanden und charakteristisch bei Fahrradkurieren?
3. Rationalistische versus emotionelle Subkultur- Wo finden sich jeweils Elemente und welche Tendenzen entwicklen sich unter welchen Umständen?
4. Delinquente versus legale Subkultur- Wie nahe an der Kriminalität befinden sich Fahrradkuriere, insbesondere im Verkehrsrecht und bei Veranstaltungen von szeneinternen Straßenrennen?

Um zu verstehen, unter welchen Umständen sich eine Subkultur der Fahrradkuriere formen kann, werde ich mich außerdem dem äußeren und dem inneren Milieu zuwenden, d.h. ich betrachte aus der Nähe zum einen die Umwelt des gesellschaftlichen Subsystems und zum anderen die wesentlichen Wirkgrößen innerhalb dieser Gesellschaft.

1.3 Methodische Vorgehensweise

1.3.1 Qualitiative Forschung und Lebensweltliche Ethnographie

Obwohl quantitative Forschungsmethoden im Bereich wissenschaftlicher Forschungen deutlich häufiger angewandt werden, so ist die qualitative Forschung heute zumindest zu einer von vielen anerkannten methodischen Säulen der empirischen Sozialforschung herangereift. Die Kritik an qualitativer Forschung konzentrierte sich dabei lange u.a. auf angeblich beliebige Interpretationen im Forschungsprozess oder auf das Fehlen von Einschätzungskriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität.

Die Stärken qualitativer Forschung liegen jedoch eindeutig auf der tiefgreifend-durchdringenden Erforschung im Feld, insbesondere innerhalb ganzer Lebenswelten: „Lebenswelt bezeichnet die primordiale Sphäre, den selbstverständlichen, unbefragten Boden sowohl jeglichen alltäglichen Handelns als auch jeden Träumens, Phantasierens und Theoretisierens“ (Meusner, 2003, S.110) . Eine solcher „kleinen“ Lebenswelten ist die Welt der Fahrradkuriere, und will man diese authentisch und nah erschließen, dann kann dieser Weg nicht vorbeiführen an einem Plural qualitativer Forschungsmethoden.

Diese sollen hier wiederum im Bereich der lebensweltlichen Ethnographie angesiedelt sein, weil sie nach Hitzler (2003, S.48) „darauf abzielt, andere Lebensweisen, Lebensformen, Lebensstile sozusagen ‚von innen’ her zu verstehen, d.h. ‚fremde Welten’ auf ihren Eigen-Sinn hin zu erkunden“.

Im folgenden gehe ich explizit auf die wichtigsten Forschungskriterien der lebensweltlichen Ethnographie ein und übertrage diese auf mein Vorgehen bei der Erforschung des Phänomens der Fahrradkuriere. Dabei stütze ich mich in der Theorie im Wesentlichen auf die Ausführungen von Steinke (1999), füge aber ergänzend auch immer wieder Beiträge anderer Autoren mit ein.

1.3.2 Forschungsperspektiven

Der qualitativen Forschung liegen drei grundlegende Perspektiven zugrunde. Die erste Perspektive ist auf den Nachvollzug des subjektiven Sinns gerichtet und stellt sich vor allem die Analyse von subjektivem Wissen der Untersuchten über bestimmte Gegenstandsbereiche zur Aufgabe. Dabei fließen v.a. Sichtweisen, Weltbilder, lebensgeschichtliche Erfahrungen, Hoffnungen und Handlungsmöglichkeiten des untersuchten Subjekts mit ein.

Eine zweite Perspektive geht über die Sichtweise des Subjekts hinaus und beschreibt soziales Handeln in verschiedenen Milieus und Lebenswelten, besonders berücksichtigt werden dabei nach Steinke (1999, S.18) „die sozialen Prozesse und Herstellungsleistungen der Handelnden, die zur Organisation dieser Handlungskontexte führen“.

Meine Arbeit konzentriert sich dabei auf die Sicht aus dieser zweiten Perspektive, denn untersucht werden sollen die Fahrradkuriere in ihrer Lebenswelt nach Aspekten sportlichen Handelns. Raum zur Analyse bieten mir dabei vor allem Szenetreffs und dabei insbesondere Handlungen bei Zusammenkünften vor, während und nach diversen Wettkampfveranstaltungen. Unmittelbar nach dem Event halte ich dabei Wesentliches stichpunktartig fest, um mich auch an einem späteren Stand der Forschung leichter an meine Beobachtungen erinnern zu können.

Aber auch die erste Sichtweise muss ich berücksichtigen, denn erstens sind Fahrradkuriere nunmal Subjekte und zweitens wird darauf aufbauend ihr soziales Handeln erst verstehbar durch die Erschließung subjektiver Daten in möglichst vielfältiger Form. Bei der Datensammlung stütze ich mich dabei primär auf persönlich durchgeführte Befragungen, insbesondere Leitfadeninterviews (siehe auch 1.3.6).

Die dritte Perspektive wiederum setzt deutungs- und handlungsgenerierende Strukturen in den Mittelpunkt und geht dabei nicht von den Subjekten aus, sondern von Tiefenstrukturen, die bestimmend auf die Handlungsweise der Subjekte einwirken. Sollten sich im fortgeschrittenen Stadium der Forschung derartige Tiefenstrukturen herausschälen, dann werde ich auch auf diese eingehen.

1.3.3 Induktivistische Orientierung und theoretical sampling

Im Gegensatz zu den Methoden quantitativer Forschung unterliegen qualitative Forschungsmethoden eher einer induktiven Vorgehensweise. Gemeint ist mit Induktion im klassischen Sinne zunächst ein Fortschreiten vom Einzelfall zum Allgemeinen, d.h. Theorien bzw. Hypothesen bilden sich erst anhand von gesammelten empirischen Daten. Das ist in dieser Arbeit zunächst so nicht der Fall, denn schon in der Fragestellung erfährt die Thematik bei der Erschließung des Phänomens der Fahrradkuriere eine Einschränkung hinsichtlich von Sportlichkeit. Dennoch ist die Fragestellung sehr offen und weit gefasst, so dass sie noch genügend Raum lässt für die Entwicklung weiterer Theorien anhand umfassender Analysen von Einzelfällen. Das Vorgehen ist daher zwar nicht mehr gänzlich induktiv, dafür aber induktivistisch orientiert. Die Einschränkung in der Thematik spiegelt dabei schon gewonnenes Vorwissen wieder, auf dessen Grundlage sich nun wieder neue Theorien ableiten lassen. Ein Vorteil daraus ist, dass im Forschungsprozess dadurch von Anfang an eine zielgerichtetere Erhebung und Auswertung der Daten möglich ist.

Mein Forschen soll dabei begleitet sein durch eine abduktive Haltung. Damit ist gemeint, möglichst unvoreingenommen und offen zu forschen. „Sie beinhaltet die Bereitschaft des Forschers, sein bestehendes Wissen zu verwerfen, um im Angesicht empirischer Daten nach neuem Wissen bzw. Regeln zu suchen“ (Steinke, 1999, S.24). Daraus ziehe ich für mich die Konsequenz, je nach Forschungsverlauf, evtl. zuvor beabsichtigte Abhandlungen in der Thematik kürzer zu gestalten oder gänzlich zu verwerfen und dafür neue Schwerpunkte zu setzen. Der Forschungsprozess hat also keinen von vornherein festgelegten, linearen Verlauf, sondern die Richtung wird mitbestimmt durch ständig neu einfließende Erkenntisse, welche wiederum Ausgangspunkt für weiteres, gezielteres Nachforschen sind. Hitzler (2003) bezeichnet dieses Vorgehen „in einer zirkulären bzw. spiralförmigen Bewegung“ (S.50) als sog. „theoretical sampling“.

1.3.4 Kontextualität von Erhebung und Analyse

Viele Menschen können das gleiche sagen, aber Unterschiedliches damit meinen. Genau so verhält es sich auch mit menschlichen Handlungen, z.B einem plötzlichen Beschleunigen eines Fahrradkuriers auf der Straße: Die Ursachen für das abrupte Anfahren können vieldeutig sein: So will der Fahrradkurier vielleicht noch eine Ampel passieren, die nur wenige Meter vor ihm von grünem auf orangenes Licht gewechselt hat, oder er sieht einen Kleintransportwagen überholen und möchte noch in dessen Windschatten gelangen. Vorstellbar wäre sogar, dass er soeben eine rote Ampel passiert hat und erst jetzt einen Streifenwagen der Polizei bemerkt hat, dem er nun versucht zu entkommen. Wichtig für das Verstehen von Äußerungen oder Handlungen ist also das Wissen um den jeweiligen Zusammenhang bzw. den Kontext. Den Kontext erfährt man wiederum nur dann, wenn man als Forscher auch mit dem sozialen Umfeld der Untersuchten vertraut wird. Dies zielt zunächst auf das Erforschen der allgemeinen Umstände ab:

„Wenn die Bedeutung von Handlungen bzw. Äußerungen verstanden werden soll, muß der (soziale, kuturelle, [...] biographische und historische) Kontext, in dem diese Handlungen bzw. Äußerungen eingebettet sind und aus dem sie ihre Bedeutung bzw. ihren Sinn beziehen, in die Untersuchungen einbezogen werden“ (Steinke, 1999, S.30).

Der gesamte Kontext des Phänomens Fahrradkurier (und wohl auch vieler anderer Kulturen) ist nun wohl nahezu unerschöpflich, dennoch habe ich schon im Vorfeld versucht, ausgehend von umfassenden Recherchen auf allen mir einsehbaren Gebieten, so viele Daten zu sammeln wie nur möglich. Aber auch der direkte Aufenthalt im Feld ist notwendige Voraussetzung, um erstens eben mit dem Umfeld vertraut zu werden und zweitens auch um das Vertrauen der Untersuchten (z.B. für die Interviews) zu gewinnen. So bin ich als Forscher selbst wöchentlich etwa 12 Stunden als Fahrradkurier im Einsatz und erfahre das Umfeld daher „am eigenen Leib“. Außerdem bin ich bemüht, soziale Kontakte zu anderen Fahrradkurieren aufrechtzuerhalten (siehe auch 1.3.5).

Jedoch nicht nur die Kenntnis des allgemeinen Kontexts ist wichtig, sondern auch das Wissen um die Situation während einer Datenerhebung, also der situative Kontext. Was im Beispiel eingangs für alle Handlungen gilt, so muss man auch alle Äußerungen (z.B. während eines Interviews) in die jeweilige Situation miteinbinden: „Einzelne Äußerungen dürfen bei der Auswertung nicht aus dem Kontext ihres Auftretens gerissen werden“ (Steinke, 1999, S.31). Zu allen durchgeführten Befragungen notiere ich mir deshalb z.B. nicht nur jeweils die obligatorischen Daten über Ort und Zeit der Befragung, sondern auch stichpunktartig den jeweils situativen Kontext.

Die Kenntnis über den Kontext ist zudem wichtige Voraussetzung, um eine sog. „Dichte Beschreibung“ des Phänomens der Fahrradkuriere zu liefern, sie

„[...] bezeichnet eine Form der schriftlichen Darstellung von Feldforschungsergebnissen, bei der Szenen, Ereignisse, Erfahrungen und Dialoge literarisch verdichtet und im Kontext des Gesamtzusammenhangs der untersuchten Kultur präsentiert werden“ (Friebertshäuser, 2003, S. 33).

Um meine Ausführungen literarisch zu verdichten werde ich einen Überschuss an Information sammeln, so dass sich auch im Nachhinein Raum für Reanalysen bietet.

1.3.5 Teilnehmende Beobachtung

Notwendige Voraussetzung für die Erschließung der Kontextualiät ist also der direkte Aufenthalt am und im Untersuchungsfeld, das sich wiederum durch die Präsenz des Forschers in seiner Eigenart nicht verändern darf bzw. so natürlich wie möglich bleiben muss:

„Ideal dafür, dass wir von einer lebensweltlichen Ethnographie sprechen können, erscheint uns der Erwerb der praktischen Mitgliedschaft am Geschehen, das erforscht werden soll, also der Gewinn einer existenziellen Innensicht“ (Honer, 1995, S.48)

Kennzeichnend für die Teilnahme an der Lebenswelt der Untersuchten ist für den Forscher, was von Hitzler (2003) durch den Begriff der sog. „künstlichen Dummheit“ ausgedrückt wird. Damit ist die Lossagung des Forschers von den Konventionen des gesellschafltichen Alltags gemeint, d.h. seine Einstellung dem Neuen gegenüber muss offen, neutral und unbeeinflusst sein. Um Nähe zu erleben, setzt Hitzler (2003) hier sogar emotionale Teilnahme des Forschers voraus.

Die Problematik dabei ist allerdings, dass der Forscher sich einerseits zwar „hineinleben“ soll in die Welt der Untersuchten, andererseits darf er jedoch nie sein forschungsbezogenens Relevanzsystem aufgeben.

Speziell in meinem Fall ist die Problematik genau umgekehrt, denn als Person bin ich schon seit mehreren Jahren ein vollintegriertes Mitglied in der Fahrradkurierszene. Ich muss mich nicht mehr in diese Welt „hineindenken“, denn ich bin bereits ein Bestandteil davon. Viel mehr liegt nun die Schwierigkeit darin, das an anderen Erfahrene und selbst Durchlebte post-ex aus wissenschaftlicher Distanz zu betrachten, mich also „herauszudenken“ aus dieser Welt. Im aktuellen Forschungsprozess hat dies zur Konsequenz, dass ich Szenetreffs nicht mehr gänzlich als Teil der Szene wahrnehme, sondern gewissermaßen aus mir „heraustrete“ und zunehmend Vorgänge bzw. Interaktionen analysiere anstatt sie gemeinsam mit anderen auszuleben.

Was im umgekehrten Fall als die Gefahr des „going native“ (Steinke 1999) bezeichnet wird, das ist in meinem Fall die persönliche Gefahr, den Kontakt zur Szene zu verlieren, z.B. durch vermeintliche Enttarnung als Spion oder Verräter. Das jahrelange Tätigsein als Fahrradkurier und die Bekanntheit in der Szene sichern mir hier jedoch nachhaltig die notwendige Glaubwürdigkeit. Die regelmäßige Teilnahme und das relativ gute Abschneiden bei den szeneinternen Wettkämpfen stützen ebenfalls die Glaubwürdigkeit und verleihen mir zudem einen hohen Status in der Szene. Von meinen Forschungsinteressen geleitet, sehe ich mich allerdings dazu verpflichtet, das persönliche Streben in der Szene in Grenzen zu halten. Zum einen versetzt z.B. der Sieg bei einem Wettkampf automatisch in eine exponierte Lage. Dies könnte zur Entfremdung beitragen, indem entweder durch einen Aufenthalt im Vordergrund meine Forschungsinteressen sichtbarer werden, oder indem ich dadurch ungewollt in eine Sonderstellung in der Szene gedrängt werde. Zum anderen birgt ein Wettkampfsieg aber auch die Gefahr in sich, Forschungsinteressen durch die dabei aufkommende Emotionalität zu stark in den Hintergrund rücken zu lassen.

Als authentisches Mitglied werde ich mich innerhalb der Szene auch selbst beobachten, insbesondere mein Dasein als Fahrradkurier in den vergangenen Jahren und die dabei gesammelten Erfahrungen dienen mir als Basis für das Verstehen. Dabei halte ich mir jedoch immer vor Augen, dass ich mich im Vorfeld der Untersuchungen keinesfalls als Idealmodell eines Fahrradkurieres sehen kann und so auch niemals von meinem Fall pauschal auf andere Fahrradkuriere schließen werde.

1.3.6 Zur Datenerhebung

Nur mit einem Plural an Forschungsmethoden ist es möglich, ein komplexes Phänomen, wie das der Fahrradkuriere, in seiner Ganzheit zumindest annähernd zu erschließen:

„Dabei bestehen die grundlegenden Techniken der Datenerhebung darin, das, was geschieht, mitzubekommen, Materialien aller möglichen Art einzusammeln, mitzunehmen und zu ‚studieren’ (Dokumentensicherung) sowie mit den Leuten zu reden (-> Interview)“ (Hitzler, 2003, S. 50).

Mein Forschungsinteresse galt also zunächst dem Sammeln von möglichst vielen „allgemeinen“ Daten über alles, was thematisch Fahrradkuriere betrifft oder mit ihnen in Verbindung gebracht werden kann. Dabei richtete ich mein Augenmerk v.a. im Vorfeld der Untersuchungen auf Berichte in Zeitschriften und Meldungen bzw. Dokumentationen in den bildgebenden Medien um einen Überblick über die Außenansichten des Phänomens zu gewinnen. Internetpräsenzen und ganze Biographien von Fahrradkurieren in Büchern verhelfen mir ergänzend zu Einblicken, mehr aus der Sichtweise der Szene. Die Seriösität der Datenquellen (v.a. Internet) muss sehr differenziert betrachtet werden, es schälen sich jedoch auf allen Gebieten klare Tendenzen heraus, die insgesamt doch ein sehr klares Bild zeichnen lassen.

Das Leitfadeninterview stellt in meinen Forschungen die dominante Methode der Datengewinnung von Äußerungen dar, da dadurch einerseits narrative Potenziale des Informanten berücksichtigt werden, andererseits aber durch den vorher konstruierten Leitfaden und evtl. Zwischenfragen auch besonders forschungsrelevante Aspekte angesprochen werden können (vgl. Marotzki, 2003). Die von mir durch den Leitfaden angesprochenen Themengebiete betreffen zum einen allgemeine Fragen zur Person (Alter, Bildung, Einkommen) und zum anderen v.a. motivationale Aspekte über das Kurierfahren (Ursache, Spaßfaktor, Anforderungen). Mit Ausnahme der Fragen zur Person ergab sich die Reihenfolge der angesprochen Themen meist aus dem Gesprächsverlauf heraus, im fortgeschrittenen Stadium der Forschung habe ich nach neueren Erkenntnissen den Leitfaden geringfügig modifiziert und ergänzt. Die Fragen habe ich sehr offen formuliert und dabei, unter Vermeidung von Suggestivfragen, auf eine möglichst wertfreie Ausformulierung geachtet. In meiner Haltung habe ich mich dem Informanten freundlich und verstehend gezeigt um eine vertraute Atmosphäre zu schaffen. Außerdem sollte die Wahl von möglichst vertrauten Intervieworten zur Natürlichkeit der Situation beitragen. Dafür habe ich insgesamt zwölf Münchener Fahrradkuriere vor, während und nach meinen eigenen Kuriereinsätzen noch in Kurierausrüstung entweder in den Straßen auf dem Fahrrad oder in der Zentrale der Kurierfirma TransPedal interviewt. Nach einer kurzen Vorstellung als langjähriger Fahrradkurier habe ich um ein wenig Zeit für ein Interview gefragt und versucht, den Zweck meiner Befragung möglichst allgemein zu formulieren um die Informanten nicht schon im Vorfeld zu sehr in Richtung auf die Thematik „Sport“ hin zu beeinflussen. Alle Interviews habe ich über die Aufnahmefunktion eines relativ unscheinbaren MP3-Players in digitaler Form gesichert und im nachhinein transkriptiert.

Sporadisch habe ich mir auch zu Gesprächen mit Fahrradkurieren Notizen gemacht, die sich zufällig ergaben und nicht nach dem beschriebenen Leitfaden strukturiert waren.

Informationen über die Handlungen von Fahrradkurieren habe ich hauptsächlich über die teilnehmende Beobachtung (siehe auch 1.3.4) gewonnen. Dabei fokusierte sich meine Aufmerksamkeit einerseits auf die Kuriere, die sich mit mir gleichzeitig im Einsatz auf der Straße befanden. Andererseits habe ich während meiner Forschungen an insgesamt fünf Szenetreffen teilgenommen. An vier Treffen habe ich jeweils am szeneinternen Wettkampf und nachfolgender Feierlichkeiten teilgenommen. Auch hier habe ich sieben Wettkampfteilnehmer nach dem Rennen jeweils kurz nach der oben beschriebenen Methode interviewt. Ein weiteres Treffen diente zur Standortbestimmung der Münchener Szene und Vorbesprechung zur Organisation eines kommenden Wettkampfes.

1.3.7 Zur Datenauswertung

Bei der Interpretation der gesammelten Interviewdaten bin ich zunächst von markanten Einzelaussagen im transkriptierten Text ausgegangen. Diese habe ich dann zunächst der Thematik im jeweiligen Gesprächsverlauf gegenübergestellt und gleichzeitig unter der Prämisse der Kontextualität der Analyse (siehe auch 1.3.4) diese dann in Zusammenhang mit der jeweiligen Situation gebracht, in der die Befragung stattgefunden hat. Je nach Situation habe ich dabei die äußeren Begebenheiten, Tageszeit und die emotionale Verfassung des Befragten notiert und berücksichtigt. Auffällige Gesten, Gemütsäußerungen und Über-/ Unterbetonungen einzelner Worte habe ich mittels wörtlicher Beschreibungen übernommen, mit dem Ziel, die unvermeidliche Reduktion des Informationsgehalts aus dem Transkriptionsvorgang möglichst gering zu halten. Die Aussagen der Befragten versuche ich dabei vor dem Hintergrund der Lebenswelt der Fahrradkuriere zu verstehen, bevor ich schließlich aus der Perspektive des Fahrradkuriers heraustrete und sie in eine für den Außenstehenden verständliche Sprache übersetze.

Ähnlich bin ich mit Szeneberichten aus dem Internet und Texten von nicht befragten Fahrradkurieren umgegangen, immer mit der Zielvorgabe nach Hitzler (2003, S.51)

„methodisch kontrolliert durch den oberflächlichen Informationsgehalt von [...] Texten hindurchzustoßen zu tiefer liegenden Sinn- und Bedeutungsschichten und dabei diesen Rekonstruktionsvorgang intersubjektiv nachvollziehbar zu machen“

Unter Berücksichtigung aller bis dato gesammelten Daten ergibt sich dadurch eine Aussage zu einem bestimmten Sachverhalt, den ich anschließend anhand weiterer gesammelter Daten genauer überprüfe oder ggf. nach der Methode des „theoretical sampling“ (siehe 1.3.3) gezieltere Nachforschungen in die Wege leite.

2 Fahrradkurier – Was ist das?

2.1 Äußere Sichtweise

2.1.1 Auftreten

Nahezu jeder, der sich zeitweilig in größeren Städten aufhält, hat sie schon einmal gesehen, nicht wenige hatten auch schon direkt mit ihnen zu tun: entweder als Mitteilnehmer im Straßenverkehr oder sogar im persönlichen Kontakt bei eiligen Zustellungen. Die Rede ist von den Fahrradkurieren zum einen und von der wahrnehmenden Öffentlichkeit zum anderen. Dabei geht es allerdings zunächst nicht in erster Linie darum, wie Fahrradkuriere glauben, in der Allgemeinheit gesehen zu werden, sondern wie Fahrradkuriere tatsächlich durch die Augen der Allgemeinheit gesehen werden, also von außen.

Sie erzeugen durch ihr Auftreten, ihre Fahrweise und ihren Kleidungsstil in der Öffentlichkeit ein Bild, das teilweise bewusst und gewollt, teilweise aber auch unbeabsichtigt erzeugt wird: „Direkt abgeleitet von der Tätigkeit werden Attribute wie Sportlichkeit, Schnelligkeit, Jugendlichkeit, Tüchtigkeit, aber auch Rücksichtslosigkeit, deviantes Verhalten, Stress“ (Recher, 2002, S.39). Juan Moreno (2004), Kolumnist und Satiriker der Süddeutschen Zeitung schrieb kürzlich in der Wochenendausgabe über ein Zusammentreffen mit einem ortsansäßigen Fahrradkurier:

„Gestern habe ich [...] etwas gemacht, worauf ich stolz bin, und worum mich viele Menschen beneiden werden, die wie ich morgens mit ihrem Fahrrad zur Arbeit fahren, über ihr Leben nachdenken und davon träumen, etwas Großes zu tun. Gestern war ich ein Held, nur kurz, ich allein – ich habe einen Berliner Fahrradkurier überholt. Der Fahrradkurier hat zwar garnicht gemerkt, dass wir ein Rennen fuhren, zudem habe ich mich total verausgabt, [...] aber es hat sich gelohnt. Ich hatte einen Fahrradkurier überholt.“

Hinter den Worten findet man zunächst Bewunderung für den Fahrradkurier, der sich offensichtlich für den Autor mit relativ hoher Geschwindkeit fortbewegt. Überholen eines anderen Verkehrsteilnehmers im Straßenverkehr steht häufig symbolisch für eine Art Bezwingen eines Gegners. Der Stolz des Autors erklärt sich dadurch, einen Fahrradkurier zumindest für Augenblicke bezwungen zu haben. Die Bewunderung findet seine Fortsetzung in der näheren Beschreibung des Fahrradkuriers: „Mein Gegner war ein junger, fantastisch aussehender Mann. Er hatte durchtrainierte Beine, eine riesige, blonde Rastafrisur [...] und ein Renntrikot der amerikanischen Post“ (Moreno, 2004). In der Öffentlichkeit gilt der Fahrradkurier als sportlich, jung, dynamisch. -Fahrradkuriere werden häufig von Fremden angesprochen und gefragt, „wieviele Kilometer“ sie denn schon gefahren wären und welche Distanzen pro Tag zurücklegt werden. Für viele Menschen ist es nur schwer vorstellbar, Tag für Tag mehrere Stunden auf dem Fahrrad zu verbringen und dabei oft mehr als hundert Kilometer zurückzulegen, Fahrradkuriere gelten daher als

„[...] Freaks, Fahrradfreaks natürlich. Bei ihnen dreht sich alles ums Rad. Ihre Wohnungen ähneln Werkstätten: Überall liegen Fahrradteile rum. Sie bewegen sich immer mit dem Rad fort, egal, ob sie nebenan zum Bäcker wollen, in den Urlaub ans Mittelmeer fahren oder eben arbeiten. Sie lesen die Tour oder Mountainbike, und ihre Gespräche drehen sich meist um Fahrradteile“ (John, 2002, Abs.. 5).

Durch seine funktionelle und hochspezialisierte Ausrüstung erzeugt der Fahrradkurier Neugierde, wirkt aber teilweise auch befremdlich und manchmal dadurch sogar ein wenig angsteinflößend:

„Er hatte eine etwas sperrige, wasserdichte Tasche mit der Telefonnummer seiner Agentur umgehängt. Links an der Hüfte hingen gleich zwei Handys, rechts ein Funkgerät, auf dem Rücken eine Wasserflasche und ein Schweizer Messer. Der geht nicht zur Arbeit, der zieht in den Krieg [...]“ (Moreno, 2004)

An belebten Orten bleiben Fußgänger unvermittelt stehen oder gehen langsamer, sobald sie einen Fahrradkurier erblicken. Das typische „Knacken“ und Rauschen des Funkgerätes bei der Kontaktaufnahme mit der Kurierzentrale lenkt Aufmerksamkeit und viele Blicke auf den Kurier. Manche Menschen erschrecken bei diesen Geräuschen, die nicht viel lauter, dafür aber unvertrauter erscheinen als der Straßenlärm. Hin und wieder erzählen Kunden oder Passanten, sie hätten mich als Fahrradkurier für einen Polizeibeamten gehalten, die ja ebenfalls höchst funktionell ausgestattet sind und auch Funkgeräte für die Kommunikation benutzen. Ähnlich den Polizeibeamten sind Fahrradkuriere auch nicht bei der Arbeit, sondern „im Einsatz“. Der Fahrradkurier erzeugt den Eindruck von Wichtigkeit, so dass häufig beim Betreten eines Geschäfts Unterhaltungen unterbrochen werden: „Die Arbeit des Fahrradkuriers ist also wichtig und anspruchsvoll“ (John, 2003, Abs. 4). Der Fahrradhelm als Schutzmaßnahme erzeugt den Eindruck höherer Gefährdung durch andere. Das bewusste Eingehen der Gefahr macht den Fahrradkurier damit einerseits zum Kämpfertypus, andererseits wirkt er durch seine Spezialausrüstung gut vorbereitet auf die sonst scheinbar schwierig zu bewältigenden Anforderungen: „Das Auftreten in Radfahrerkleidung und mit einheitlicher Ausrüstung erweckt bei der Bevölkerung den Eindruck von Sportlichkeit und Souveränität, weckt Vertrauen in das Können“ (Recher, 2002, S.39).

2.1.2 Fahrweise

Nichts prägt jedoch so sehr das Bild des Fahrradkuriers, wie seine Fahrweise:

„Sie flitzen durch die Straßen [...] wie Verrückte, springen auf ihren Rädern Bordsteinkanten rauf und runter, fahren kreuz und quer über die Fahrbahn und zeigen keinerlei Respekt vor der Straßenverkehrsordnung. Das Rot der Ampeln scheint auf sie zu wirken wie das wedelnde Tuch des Toreros auf den Stier: mit Vollgas drauf los.“ (John, 2002, Abs. 1).

Im Straßenverkehr ist Raum zur Fortbewegung häufig stark begrenzt, so dass Fahrradkuriere vor die Wahl gestellt sind, entweder im oft langsamen Fluss des Verkehrs mitzutreiben, oder aber selbst kleinste Freiräume zu nutzen um weiter und schneller voranzukommen. Die Nutzung kleinster Freiräume macht es jedoch wiederum erforderlich, sehr nahe an Fußgängern, Autos, Hauswänden o.ä. vorbeizufahren. Für die meisten Verkehrsteilnehmer erscheint das Einfordern von Räumen und das nahe Heranfahren mit häufig hoher Geschwindigkeit jedoch als riskant und gefährlich. Häufig entsteht derart großes Unverständnis und Empörung, dass es zu Beschimpfungen und Nachrufen kommt, wie z.B.: „Geh’ auf die Rennstrecke wenn du so schnell fahren musst“. Manchmal stellen sich Fußgänger auf dem Gehweg absichtlich in den Weg, um ihr Territorium zu bestimmen. Seltener wird ein Kurier dabei angerempelt oder man greift ihm in den Oberarm um ihn vom Fahrrad zu zerren oder um ihn zu Fall zu bringen.

Autofahrer reagieren sehr unterschiedlich sobald ein Fahrradkurier auf der Fahrbahn auftaucht. In den meisen Fällen handeln Autofahrer rücksichtsvoll und überlegt, indem sie v.a. bei Überholmanövern genügend Abstand halten und den Fahrweg des Fahradkuriers vorausahnend mit einkalkulieren. Taxifahrer und Autokurierfahrer halten weniger Abstand zu Fahrradkurieren, da sie sich erstens in der Regel sicherer im Umgang mit ihrem Fahrzeug fühlen und zweitens wissen, dass Fahrradkuriere mit deutlich weniger Verkehrsraum auskommen und auch weniger schreckhaft sind als andere Fahrradfahrer. Im Gegensatz zu den Fußgängern wird ein höheres Fahrtempo auf der Straße von den Autofahrern eher toleriert als langsame Geschwindigkeiten. Die Toleranz findet dort seine Grenzen, wo der Fahrradkurier die Verkehrsregeln überschreitet, indem er z.B. eine Einbahnstraße in Gegenrichtung befährt. In solchen Situationen werden Räume eng gemacht und es wird besonders nahe an den Fahrradfahrer herangefahren. Vor allem Taxifahrer nutzen hier ihre bessere Kontrolle über das Fahrzeug aus und beschleunigen oft noch zusätzlich, um Frustration abzubauen. Nach Einschätzung vieler Autofahrer sind die betonierten Straßen in erster Linie für den Autoverkehr gemacht worden, andere Verkehrsteilnehmer werden daher häufig eher geduldet als gutgeheißen. Weniger geduldet wird der Fahrradkurier auf der Straße, wenn er die Wahl hat, auch einen an der Fahrbahn gelegenen Radweg zu benutzen.

Radfahrer nehmen Fahrradkuriere einfach als schnellere Radfahrer war. Sie wissen, dass sie dem Fahrradkurier in der Regel potentiell unterlegen sind und verhalten sich daher eher defensiv. Sportlichere Radfahrer sehen das Überholen von Fahrradkurieren (siehe Beispiel am Anfang) hingegen als Herausforderung an und möchten sich damit selbst beweisen, ebenfalls höhere körperliche Leistungen auf dem Fahrrad vollbringen zu können.

[...]

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Fahrradkuriere. Eine sportliche Subkultur?
Hochschule
Technische Universität München
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
89
Katalognummer
V46709
ISBN (eBook)
9783638438483
ISBN (Buch)
9783638791250
Dateigröße
1765 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Fahrradkuriere stellen eine soziale Gruppierung dar, die bisher noch kaum wissenschaftlich erschlossen bzw. überhaupt erkannt wurden. Vor dem Hintergrund, ein neues Feld für die Sportwissenschaft zu entdecken und zugleich Grundlagen für weitere Forschungen zu schaffen, leistet der Autor mit diesem Werk eine wichtige Pionierarbeit.
Schlagworte
Fahrradkuriere, Subkultur
Arbeit zitieren
Alexander Kralj (Autor:in), 2005, Fahrradkuriere. Eine sportliche Subkultur?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46709

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