Evaluation des Behandlungserfolges des sensorisch integrativen Ansatzes in der Ergotherapie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen


Diplomarbeit, 2005

66 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zusammenfassung

1 Einführung und theoretischer Hintergrund
1.1 Einführung
1.2 Hyperkinetische Störungen
1.2.1 Nosologie
1.2.2 Komorbide Störungen
1.2.3 Risikofaktoren
1.3 Der sensorisch-integrative Ansatz
1.3.1 Therapeutische Grundlagen
1.3.2 Die hyperkinetische Störung im Verständnis des
sensorisch-integrativen Ansatzes
1.4 Zur Wirksamkeit von Behandlungsansätzen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
1.5 Studien zur Effektivität der Sensorischen Integrationstherapie
1.6 Ansatz zur Beurteilung der Wirksamkeit – Merkmale und Erfolgskriterien

2 Fragestellung und Hypothesen

3 Methodik
3.1 Operationalisierung
3.1.1 Eingesetzte Verfahren
3.1.2 Kritische Betrachtung
3.2 Stichprobe
3.3 Familiäre Bedingungen/Umfeld
3.4 Untersuchungsdesign
3.5 Ablauf der Untersuchung
3.5.1 Schwierigkeiten bei der Datenerhebung

4 Ergebnisse
4.1 Gesamtauffälligkeit
4.2 Externalisierung
4.3 Internalisierung
4.4 Aufmerksamkeitsprobleme
4.5 Soziale Probleme

5 Diskussion

6 Offene Fragen und Perspektiven

Literaturverzeichnis

Anhang

Vorwort

Die Idee zu dieser Arbeit lieferte Frau Rega Schaefgen, eine namhafte Lehrtherapeutin der Sensorischen Integrationstherapie und Gründerin des Zentrums für Interdisziplinäre Sensorische Integration. Zur Zeit der Suche nach einem ansprechenden Diplom-arbeitsthema trat Frau Schaefgen an mich heran und bekundete ihr Interesse an einer Evaluation der Sensorischen Integrationstherapie. Da verschiedene angesprochene Universitäten hierzu kein eigenes Forschungsinteresse formulieren konnten, legte man ihr nahe, eine Forschung in Auftrag zu geben – was mit deutlichen Kosten verbunden wäre. Ich konnte mich schnell für die Idee begeistern, diese Forschung im Rahmen meiner Diplomarbeit durchzuführen.

So möchte ich mich bei Rega dafür bedanken, dass sie diese Arbeit ins Leben gerufen hat und den Werdegang sowohl mit ihrem Namen als auch finanziell unterstützte. Ebenso möchte ich mich bei allen teilnehmenden Therapeuten bedanken, die trotz des geschäftigen Praxisalltags die Daten für diese Untersuchung bereitgestellt haben. Gleichsam bedanke ich mich bei allen Eltern. Auch möchte ich mich bei meinen Betreuern, Frau PD Dr. Claudia Quaiser-Pohl und Herrn Dr. Heiner Rindermann bedanken, dass sie mir zur rechten Zeit Mut machten, die Datenerhebung weiterzuführen. Trixi und Anke, Mitarbeiterinnen der Gesellschaft für praxisbezogene Fortbildung, gilt mein Dank für die Zuarbeit bei der Versendung der Testbögen. Im Besonderen möchte ich mich bei Corinna bedanken, die so aufmerksam die Schriftstücke las – und sicher alle Fehler gefunden hat. Danke euch allen!

Laurin Schaefgen

Magdeburg, den 26. Juni 2005

Zusammenfassung

Die Anwendung eines Heilverfahrens ist maßgeblich von der Wirksamkeit abhängig, die bei Einsatz des Verfahrens bei einer bestimmten Erkrankung zu erwarten ist. Gerade vor dem Hintergrund aktueller gesundheitspolitischer Reformen werden Nachweise zu Effektivität und Indikation therapeutischer Maßnahmen gefordert. Mittels evaluativer Studien kann beurteilt werden, ob eine Behandlungsmethode „effektiv“ ist. Die vorliegende Arbeit untersucht den Behandlungserfolg der Sensorischen Integrations-therapie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen.

In einer Feldstudie anhand einer Stichprobe von Kindern, bestehend aus elf Jungen und sechs Mädchen, wurde untersucht inwiefern der in der Ergotherapie verwendete sensorisch-integrative Ansatz eine geeignete Behandlungsform für das genannte Störungsbild darstellt. Hierfür wurden die Eltern, unter Verwendung der Child Behavior Checklist, vor Therapiebeginn und nach Beendigung der Behandlung zu Auffälligkeiten ihrer Kinder befragt.

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Behandlung Besserungen typischer Symptome der hyperkinetischen Störung bewirkt. Die Befunde werden auf der Grundlage psychopathologischer und sensorisch-integrativer Störungskonzepte diskutiert.

Kapitel 1

1. Einführung und theoretischer Hintergrund

1.1 Einführung

Im (aktuellen) Deutschen Ärzteblatt vom Mai 2005 verweist ein Versicherungsmediziner darauf, dass Kinder mit hyperkinetischen Störungen vorwiegend ergotherapeutisch behandelt werden. Im selben Artikel wird ebenfalls angegeben, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass ergotherapeutische Behandlung hyperkinetische Störungen bessern können.

Für die Therapie hyperkinetischer Störungen gibt es verschiedene Behandlungs-formen. Zumeist erfolgt die Behandlung durch den Einsatz verschiedener, ergänzender therapeutischer Methoden. Der Einsatz eines therapeutischen Verfahrens ist dabei zunehmend durch die wissenschaftliche Belegbarkeit ihrer Wirksamkeit bestimmt – insbesondere im Zuge aktueller kostensenkender Maßnahmen im Gesundheitswesen. Eine Behandlungsmethode für hyperkinetisch auffällige Kinder ist die im Rahmen der Ergotherapie angewendete Sensorische Integrationstherapie (SI). Die vorliegende Arbeit untersucht die Auswirkungen und den Erfolg der therapeutischen Intervention SI bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen.

1.2 Hyperkinetische Störungen

Die hyperkinetische Störung ist ein zunehmend bekanntes Phänomen. Zumeist wissen Leute in etwa, was eine hyperkinetische Störung ist oder aber sie können sich ein Bild davon machen, wenn von einem hyperkinetisch auffälligen Kind gesprochen wird. Die Augenfälligkeit des Verhaltens trägt sicher zu diesem allgemeinen Verständnis bei. Schon Hippokrates, um 400v.Chr., erwähnte erstmals ein außergewöhnliches Verhalten seiner Patienten, welches auf die heutige Bezeichnung der hyperkinetischen Störung schließen lässt: “... eine übermäßig schnelle Antwort auf sensorische Erfahrungen und eine geringe Beharrlichkeit, weil die Seele zum nächsten Eindruck weiterzieht“ (übersetzt nach Baumgaertel, 1999, S. 977). Die wohl bekannteste Darstellung eines hyperkinetischen Kindes ist die des „Zappelphilip“ von Dr. Heinrich Hoffmann (1845). Erstmals umfassend beschrieben wurde das Phänomen von dem Englischen Arzt George Still (1902). Die Anerkennung der hyperkinetischen Störung als eigenständiges psychiatrisches Störungsbild erfolgte jedoch erst Mitte des vorigen Jahrhunderts (vgl.Barkley, 1998). Mit Erscheinen des Diagnostischen und Statistischen Manual (DSM-II; American Psychiatric Association, 1968) wurde erstmalig eine „hyperkinetische Reaktion des Kindesalters“ aufgeführt. Die Einführung des Begriffs „hyperkinetische Störung“ erfolgte in der 10. Revision der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; Dilling, Mombour, Schmidt,1991).

Im Verlauf der Forschung sind dem Erscheinungsbild der hyperkinetischen Störung, dessen Misch- und Unterformen, als auch den beigestellten pathogentischen Konzepten über 100 Begriffe zugeordnet worden. Die Vielzahl verschiedener Begriffe deutet darauf, dass das Störungsbild einen Forschungschwerpunkt der Kinder- und Jugendpsychopathologie darstellt. Ferner zeigt es auch, dass das Krankheitsbild selbst sehr vielgestaltig ist und, sowohl ätiologisch als auch nosologisch, noch immer nicht gänzlich scharf umrissen ist. Die Notwendigkeit umfangreicher und vielseitiger Forschgungsanstrengungen zu Pathogenese, Diagnostik, Therapie und Prävention ergibt sich zum einen aus den vergleichsweise hohen Prävalenzraten, welche, je nach gesampelter Population und verwendetem Instrument, zwischen 3 und 12% liegen und zum anderen aus der Kenntnis über den ungünstigen Verlauf, sprich dem Persistieren der Störung bis ins Erwachsenenalter (z.B. Petermann, 2000). Die damit verbundenen Folgekosten lassen sich nur schwer beziffern. Bedenkt man aber, dass die meisten psychischen Störungen des Erwachsenenalters ihren Ursprung in der Kindheit haben und, dass psychische Störungen an zweiter Stelle (nach kardiovaskulären Erkrankungen) zu den kostenintensivsten und beeinträchtigsten Krankheitsgruppen gehört, so wird ersichtlich, dass dem Kindes- und Jugendalter größte Bedeutung hinsichtlich Prävention und Intervention zukommen muss (Ihle, Esser, 2002). Dies um so dringender, als die Zahl hyperkinetisch diagnostizierter Kinder in den letzten zwanzig Jahren dramatisch gestiegen ist (Barkley, 1998). In der Tat zählen hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten zusammen mit aggressiven Verhaltensweisen zu den häufigsten Vorstellungsanlässen bei Psychotherapeuten, in Erziehungsberatungsstellen und kinderpsychiatrischen Einrichtungen (vgl. Petermann, 1998; Döpfner, 2000). In einer deutschen, bundesweiten repräsentativen Stichprobe wurden hyperkinetische Kernsymptome (Unruhe, Aufmerksamkeit, Impulsivität) im Urteil der Eltern bei 3 bis knapp 10% aller Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren als deutlich ausgeprägt vorhanden eingestuft (Lehmkuhl, Adam, Döpfner, 1998).

Im Folgenden wird eine Begriffsbestimmung, angelehnt an die zwei gängigen Klassifikationssysteme vorgenommen und im Weiteren werden die für die Diagnose notwendigen Kardinalsymptome dargestellt. Daran anschließend soll aufgezeigt werden, welche Folge- und Begleiterscheinungen im Zusammenhang mit hyperkinetischen Störungen auftreten können und welche Risikofaktoren für die Entstehung und den Verlauf der Störung kennzeichnend sind.

1.2.1 Nosologie

Übereinstimmend werden in den beiden häufigsten Klassifikationssystemen – der >International Classification of Deseases< (ICD-10, Dilling, Freyberger, Schürman, Kleinschmidt, Müßigbrodt, 1996) und dem US-amerikanischen >Diagnostik and Statistical Manual< (DSM-IV, American Psychiatric Association, 1994; Saß, Wittchen, Zaudig, 1996) - Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität als Symptom- bzw. Forschungskriterien für eine hyperkinetische Störung (ICD-10) bzw. Aufmerksamkeits-defizit-/Hyperaktivitätsstörung (DSM-IV) angeführt. Im Folgenden soll einheitlich der Begriff „hyperkinetische Störung“ (F90), wie er im ICD-10 gebräuchlich ist, verwendet werden.

Im Gegensatz zur Übereinstimmung hinsichtlich der Symptomkriterien herrscht immer noch Uneinigkeit über eine befriedigende Untergliederung hyperkinetischer Störungen (Steinhausen, 1995). Im DSM-IV werden drei Subtypen spezifiziert; der Mischtyp, der vorherrschend unaufmerksame Typ und der vorherrschend hyperaktiv-impulsive Typ. Im ICD-10 wird in einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (F 90.0) und die hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) unterschieden. Beiden Klassifikationssystemen gemeinsam wiederum ist eine Ordnung, die eine „nicht näher bezeichnete“ hyperkinetische Störung (F90.9) bzw. Auf-merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ausgibt. Weitere diagnostische Merkmale sind, neben einem durchgehenden Muster benannter Kardinalsymptome, das Auftreten der Störung vor dem siebten Lebensjahr, die Beeinträchtigung durch die Symptome in mindestens zwei Lebensbereichen (Familie, Schule, Freizeit) und eindeutige Anzeichen einer Beeinträchtigung der entwicklungsgemäßen sozialen, schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit. Zusätzlich zu den Kardinalsymptomen der hyperkinetischen Störung gibt es eine Reihe an Folge- und Begleitsymptomatiken, welche, aufgrund ihres Stellenwertes, nachstehend gesondert behandelt werden.

Wie eingangs erwähnt, variieren die Zahlen zur Prävalenz der hyperkinetischen Störung stark. Die Ergebnisse sind in Abhängigkeit der untersuchten Population (klinisch, epidemiologisch), dem verwendeten Instrument (Kriterien nach DSM-IV oder ICD-10, andere) und den befragten Personen (Eltern, Erzieher, Lehrer, Selbstauskunft) zu betrachten. In klinischen Stichproben werden in über 30% aller Fälle die Leitsymptome der hyperkinetischen Störung diagnostiziert (vgl. Petermann, 2002). In einer Überblicksarbeit über die Prävalenz psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter, in die 19epidemiologische Längsschnittstudien eingingen, geben Ihle und Esser (2002) die Gesamtprävalenz für hyperkinetische Störungen mit 4,4% an (ungewichtetes Mittel). Die Abhängigkeit der Prävalenzen vom verwendeten Instrument erklärt sich aus den verschieden „starken“ Diagnosekriterien. Werden zur Diagnose die wesentlich schwächeren Kriterien des DSM-IV verwendet, so ergeben sich deutlich höhere Prävalenzraten als im Vergleich zu den Kriterien der ICD-10 (u.a. Döpfner, 2000). Noch größere Unterschiede in Untersuchungsergebnissen ergeben sich, wenn man Auskünfte verschiedener (Bezugs-) Personen einander gegenüberstellt. Zum Teil konnten zwischen Elternurteil, Lehrerurteil und Selbsturteil nicht einmal schwache Zusammenhänge gefunden werden (Barkley, 1998). Dies liegt zum einen an der schlechten Selbstaussagefähigkeit bzw. Monitoringfähigkeit gerade jüngerer Kinder. Zum anderen lassen sich die großen Differenzen durch die Situationsspezifität der Störung erklären. So können Verhaltensauffälligkeiten in hoch strukturierten Situationen, wie in der Schule, besonders zu Tage treten, im Elternhaus dagegen weniger oder überhaupt nicht. Baumgaertel und Mitarbeiter (1995) konnten in einer Studie an deutschen Grundschulen auf Grundlage eines Lehrerfragebogens nach DSM‑IV Kriterien eine Rate von 17,8% hyperkinetisch auffälliger Kinder nachweisen. In der Beurteilung von Erziehern in Kindergärten werden global 12,8% aller Kinder als hyperaktiv beurteilt (Döpfner, 2000). Nicht zuletzt können solche Zahlen darauf zurückgeführt werden, dass Unruhe oder Aufmerksamkeitsstörungen als Sammelbegriffe dienen, um Unzufrieden-heit oder Probleme mit dem Kind zum Ausdruck zu bringen.

Der Schwierigkeit einer genauen nosologischen Gliederung des hyperkinetischen Syndroms liegen sowohl allgemeine Probleme statistisch-diagnostischer Klassifikationen zugrunde als auch spezielle Überlegungen der Entwicklungspsychopathologie. Eine psychische Störung wird laut DSM-IV definiert als klinisch auffallendes Verhalten oder psychisches Syndrom beziehungsweise Merkmalsmuster, das bei einer betroffenen Person in typischer Weise entweder mit als unangenehm erlebten Beschwerden oder mit einer Behinderung einhergeht (vgl. Petermann, Kusch, Niebank, 1998). Durch Kombination allgemeingültiger Kriterien für Anzeichen gestörten Verhaltens oder Erlebens, wie Devianz von statistischer Norm (gesellschaftlichen Regeln), Leidensdruck, psychosoziale Beeinträchtigung und Selbst- oder Fremdgefährdung wird diese Definition fassbar. Allerdings ist die Frage, wann ein gewöhnliches Verhaltensmuster die Grenze zur psychischen Störung überschreitet ebenso schwierig, wie die Feststellung, wann es deviant, leidvoll und dysfunktional genug ist, um als gestört zu gelten (Petermann et al., 1998).

Remschmidt (1988b) verweist auf besondere Schwierigkeiten bei der Definition von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen gegenüber denen im Erwachsenenalter. So wirke erstens die Entwicklungsdimension als prägender Faktor auf allen Alterstufen und führe zu einer stärkeren Variabilität der Krankheitserscheinungen. Zweitens sei das Wechselspiel zwischen pathogenen und protektiven Faktoren im Hinblick auf Vielgestaltigkeit und Geschwindigkeit von Entwicklungsvorgängen von besonderer Bedeutung und drittens sei die Einsichtsfähigkeit in Symptomatik und Auswirkung psychischer Erkrankungen anders zu betrachten (Remschmidt, 1988b, zit. n. Petermann, 1998, S. 4). Bezugnehmend auf das hyperkinetische Syndrom bemängelt Steinhausen (1995), dass in der Differentialdiagnose zu wenig der Frage nachgegangen werde, ob es sich um eine eindeutig pathologische Hyperaktivität oder um eine im Extrembereich der Normalverteilung liegende Reifungsvariante handelt. Dieser Einschätzung liegt ein allgemeines Dilemma kinder- und jugendpsychiatrischer Definitionen zugrunde. Die Mehrzahl der Verhaltensweisen oder Symptome, auf denen eine psychiatrische Diagnose basiert, sind auch bei normalen Kindern – allerdings in geringerer Häufigkeit oder Intensität – anzutreffen. Es ist also eher ein quantitativer, fließender Übergang als ein qualitativer Sprung vom Normalen ins Pathologische zugrunde zu legen (Remschmidt, Walter, 1990).

Ein weiterer Kritikpunkt kategorialer, pathologisierender Zuweisung ist, dass die hyperkinetische Störung eher eine Störung der Person-Umwelt Beziehung widerspiegelt, denn eine Störung der Person selbst darstellt. Die Störungen der Person-Umwelt Beziehungen manifestieren sich maßgeblich in der Art und Häufigkeit komorbider Störungen (Döpfner et al., 2000).

Die „Behandlungsbedürftigkeit“, die für die Definition einer Krankheit erwogen wird, bezieht, bei vorliegendem Störungsbild, maßgeblich das soziale Umfeld mit ein. Knapp die Hälfte aller Symptomkriterien der ICD-10 und des DSM-IV formulieren psychosoziale Beeinträchtigungen und normativ abweichendes Verhalten in sozialen Kontexten. Entsprechend werden auch in pathogenetischen Konzepten, als für den Verlauf der Störung maßgeblich, psychosoziale Bedingungen benannt. Insbesondere der Eltern-Kind-Interaktion kommt dabei besondere Bedeutung zu (u.a.Cantwell,1995). Für die Entstehung der hyperkinetischen Störung hingegen können hereditäre Faktoren geltend gemacht werden. Im Verständnis anerkannter, integrativer Modelle wird davon ausgegangen, dass sich die Störung wahrscheinlich auf einer genetischen Grundlage entwickelt. Im Weiteren ist nachgewiesen, dass der Dopaminstoffwechsel hierbei von zentraler Bedeutung ist (Mash & Barkley, 2003).

Verschiedene theoretische Ansätze haben die Störung der Selbstregulation als Kernproblem hyperkinetisch gestörter Kinder interpretiert. Douglas (1980) entwarf ein Modell, bei dem die hyperkinetische Symptomatik auf eine ungenügende Anpassung der physiologischen, der Verhaltens- und der kognitiven Ebene zurückgeführt wird. Das Modell von Douglas versucht vornehmlich kognitive Störungen zu erklären. Petermann (2002) verweist jedoch auf die Übertragbarkeit des Modells auf andere Funktionsbereiche (soziale Problemlöseprozesse, Störungen des Sozialverhaltens). Auf Grund der Nähe des Konzeptes zu Erklärungsansätzen der Sensorischen Integrationstherapie (SI) soll das Modell im Folgenden kurz skizziert werden.

Douglas (1988) geht davon aus, dass der Defekt der Selbstregulation verhindert, dass das Kind lernt, geplant vorzugehen und Probleme seinem Alter entsprechend zu lösen. Eine altersgemäße metakognitive Entwicklung kann nicht stattfinden und die Kinder erlernen übergeordnete Wissens-, Begriffs-, und Regelsysteme nur unzureichend. Die Folge dieser sekundären Störungen sind vermehrte Mißerfolgserlebnisse im kognitiven wie im sozialen Bereich. Diese Erfahrungen stärken die Tendenz, entsprechende Situationen zu vermeiden, wodurch die Problematik sich insgesamt verschärft. Konzentrationsschwächen, Impulsivität, die Fluktuation des Aktivierungsniveaus und die Suche nach stimulierenden Ereignissen nehmen zu. Damit wird die Fähigkeit und Motivation zu effektiven Problemlösungen weiter beeinträchtigt und die Wahrscheinlichkeit von Mißerfolgserlebnissen erhöht sich weiter (vgl.Petermann, 2002, S. 163). Der Begriff der Selbstregulation wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Sensorischen Integrationstheorie nochmals aufgegriffen. Folgeproblematiken, wie sie sich aus dem eben beschriebenen Kreislauf ergeben können, werden nachstehend behandelt.

1.2.2 Komorbide Störungen

Bis zu zwei Drittel aller Kinder mit hyperkinetischen Störungen weisen neben den Kernsymptomen weitere, sogenannte komorbide Störungen auf, die für die Entwicklung des Kindes zusätzliche Risikofaktoren darstellen (z.B. Biederman, Newcorn, Sprich,1991). Externale Verhaltensstörungen mit aggressiven und dissozialen Symptomen treten dabei in weitaus größerem Umfang auf, in 43 bis 93% der Fälle, als internalisiernde Störungen mit Angst und Depressivität, welche in 13 bis 51% der Fälle berichtet werden (vgl. Döpfner, Frölich, Lehmkuhl, 2000). Hyperkinetisch gestörte Kinder haben Schwierigkeiten, ihr Sozialverhalten den situativen Anforderungen anzupassen (u.a. Landau & Milich, 1983). Sie zeigen oft soziale Probleme im Kontakt mit anderen Kindern, versuchen andere zu dominieren und zu kontrollieren. Sie fallen durch eine erhöhte Aggressivität gegenüber Gleichaltrigen auf und haben eine geringe Frustrationstoleranz, die sich in Wutausbrüchen ausdrücken kann (Cunningham & Siegel, 1987). Gehäuft treten oppositionelle Verhaltensstörungen auch mit aktivem Widersetzen gegenüber Erwachsenen auf. Lehmkuhl und Döpfner (2000) konnten zeigen, dass bei hyperkinetischen Kindern oppositionelle und aggressive Verhaltensweisen 16-mal häufiger auftraten als in einer repräsentativen Vergleichs-gruppe. Nahezu alle Studien belegen Schulleistungsdefizite für hyperkinetisch gestörte Kinder (u.a. McGee,1984). Weniger eindeutig belegt hingegen sind verminderte Intelligenzleistungen. Begleitende Tic‑Störungen treten bei bis zu 30% der Kinder mit hyperkinetischen Störungen auf (Comings, 1990). Durch negative Rückmeldungen, Ablehnung und Misserfolge in sozialen und in Leistungssituationen zeigen hyperkinetisch gestörte Kinder häufig emotionale Auffälligkeiten. Sie fallen durch mangelndes Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, soziale Unsicherheit, Ängste und depressive Befindlichkeit auf. Die Diagnose einer depressiven Störung wird bei 10 bis 40% aller Kinder mit hyperkinetischen Störungen gestellt. Angststörungen treten in rund 20 bis 25% aller Fälle auf (Döpfner, Schürmann, Frölich, 2002).

Im Gegensatz zur hyperkinetischen Störung, den Kardinalsymptomen, die von den meisten Kindern nicht als Störungen wahrgenommen werden, beeinträchtigen komorbide Störungen die Lebensqualität des Kindes aber auch der Eltern in besonderem Maße. Mangelndes Selbstvertrauen, Angststörungen und dissoziale Verhaltensweisen stellen eine besondere Belastung für die Familie dar. Dies gilt insbesondere für das betroffene Kind, da sich hier Erfahrungen sozialer Ablehnung und von Frustrationen in Leistungssituationen widerspiegeln bzw. manifestieren. Aber auch für die Eltern, da sie, bezugnehmend auf das Leiden oder Opponieren des Kindes, ihre Elternschaft als Misserfolg empfinden. Die Schwierigkeiten des Kindes und die Hilflosigkeit der Eltern gegenüber der Situation führen zu einem beidseitigen Leidensdruck. Die Art und Schwere der kombinierten Störungen sind sowohl maßgeblich für die Wahrnehmung der hyperkinetischen Störung selbst und den empfundenen Handlungsdruck, das Kind einer Therapie zuzuführen, als auch für den weiteren Verlauf, die Remittierung oder Chronifizierung der (komorbiden) Störung.

Neben dem protektiven Wert einer frühzeitigen Behandlung sind mit einer frühzeitigen Diagnose hyperkinetischer Symptome schwerere komomorbide Störungen assoziiert (z.B. Biederman et al., 1991; Gabel et al. 1996). Connor (2003) konnte, entsprechend früherer Ergebnisse (z.B. Biedermann, 1991) belegen, dass mit einer ärgeren hyperkinetischen Störung (Symptomen) eine stärkerere Ausprägung sowohl internalisierender als auch externalisierender komorbider Störungen verbunden ist. Im Zusammenhang mit einer frühzeitigen Diagnose und stärker ausgeprägten komorbiden Störungen, insbesondere aggressiven und oppositionellen Verhaltensweisen, steht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Persistieren der Störung bis ins Erwachsenenalter. Die entsprechenden Zahlen variieren zwischen 43 und 72% (Steinhausen, 1995). Langzeitprognosen für Kinder mit einer früh einsetzenden, ausgeprägten komorbiden Störung des Sozialverhaltens zeigen ein deutlich höheres Risiko für spätere Delinquenz, Substanzmißbrauch und die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (vgl. Döpfner et al., 2000). Döpfner bewertet die Ergebnisse von Untersuchungen zum Verlauf der hyperkinetischen Störung folgendermaßen: „Die Ergebnisse legen nahe, hyperkinetische Störungen als eine Entwicklungsstörung der Selbstkontrollprozesse und des Sozialverhaltens mit chronischem Verlauf und mit begrenzten Heilungschancen aufzufassen. In der Therapie steht deshalb neben der Symptomminderung die Bewältigung der Störung, d.h. der Umgang mit persistierendem Problemverhalten im Vordergrund“ (Döpfner et al., 2002, S. 26).

Die Ausrichtung therapeutischer Ziele auf lebenspraktische, kompensatorische Verhaltensoptionen (-alternativen) und psychosoziale Integration spiegelt auch die Kritik einer mangelnden Konzeptualisierung der Störung im Sinne einer gestörten Person‑Umwelt Bindung wieder. Vielmehr aber drücken sich in einer solchen Zielsetzung die Probleme aus, welchen Eltern hyperkinetischer Kinder täglich gegenüber stehen. Auf Grund des Problemverhaltens von hyperkinetisch gestörten Kindern haben Eltern häufig Auseinandersetzungen mit ihrem Kind. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist sehr belastet. Die Eltern haben das Gefühl, das Kind überhaupt nicht mehr in den Griff zu bekommen und in der Erziehung völlig versagt zu haben. Das Kind hat das Gefühl, von den Eltern nur noch Ablehnung zu erfahren und seinen Eltern nichts recht machen zu können. Diese Frustrationen führen zu weiteren problematischen Verhaltensweisen und es entstehen Interaktionsmuster, die ein sich negativ verstärkendes Schema bilden. Auch die Beziehungen zwischen dem Kind und den Erziehern oder den Lehrern sind häufig angespannt. Die Kinder werden als hochgradig problematisch und oft als störend erlebt.

Es wird deutlich, dass das Belastungserleben der Familien, des sozialen Umfelds, aber auch das der betroffenen Kinder selbst, wesentlich durch die Kennwerte der komorbiden Störungen mitbestimmt sind. Externalisierende Begleitsymptomatiken stehen in Zusammenhang mit einem erhöhten Leidensdruck. Der daraus resultierende Handlungszwang, beim Arzt vorstellig zu werden und eine Therapie in Anspruch zu nehmen, zeigt sich auch in der früheren Erstauffälligkeit externalisierender Störungen. Zentrales Anliegen der Eltern ist zumeist, wie schon Döpfner betonte, das Problemverhalten in den Griff zu bekommen. Bei Kindern mit vorwiegend internalisierenden Begleiterscheinungen, wie depressiven Störungen oder Angst-störungen steht hingegen der Aufbau eines gesunden Selbstbewußtseins und das Erlernen psychosozialer Fertigkeiten im Vordergrund.

1.2.3 Risikofaktoren

Der moderierende Einfluss sozialer und ökologischer Merkmale auf Entstehung, Verlauf und Remittierung einer Störung ist vielfach belegt. Es können störungsspezifische und störungsunspezifische Risiko- und Schutzfaktoren unterschieden werden. Unspezifische Risikofaktoren, welche zuerst berichtet werden, haben allgemein einen Einfluss auf die Entwicklung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Hierbei sei erwähnt, dass nicht so sehr die Art, als vielmehr die Anzahl respektive das Muster der Risikofaktoren entscheidend für den Entwicklungsverlauf ist (Heinrichs, Saßmann, Hahlweg, Perrez,2002).

Zu den familiären Risikofaktoren gehören: Dysfunktionales Erziehungsverhalten, negative Kommunikationsmuster, Ehekonflikte, psychische Störungen der Eltern, unangemessene Wohnverhältnisse und geringer sozioökonomischer Status. Individuelle Risikofaktoren sind: Verzögerungen im Fertigkeitserwerb, Schwierigkeiten in der Emotionsbewältigung, schwieriges Temperament und genetisch-biologische Einflüsse. Zu den gesellschaftlichen Risikofaktoren zählen: Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohn- und Schulverhältnisse, Rassendiskrimination, Migration und Flucht.

Wenngleich die Ergebnisse zu störungsspezifischen Risikofaktoren uneinheitlich sind, so konnten doch eine Reihe von Forschungen nachweisen, dass in Familien mit geringem sozioökonomischen Status eine Häufung hyperkinetischer Störungen festzustellen ist (u.a.Scahill, Schwab-Stone, Merikangas, Leckman, Zahng, Kasl, 1999). Im Weiteren konnten Zusammenhänge zwischen ungünstigen familiären Bedingungen (u.a.unvollständige Familien, überbelegte Wohnungen, psychische Störungen der Mutter) und insbesondere aggressiven und dissozialen Verhaltensweisen belegt werden (vgl.Döpfner et al., 2002). Steinhausen (1995) betont, dass als sicher gelte, dass Bedingungen der sozialen Umwelt von herausragender Bedeutung sind. Nicht nur der Sozialschicht, sondern auch den vielfältigen Elementen des sozialen Exosystems der Familie und des näheren sozialen Umfeldes komme eine herausragende Bedeutung zu, so Steinhausen.

Neben dem Einfluss sozialer und ökologischer Merkmale kann, wie bereits angeführt, eine genetische Disposition bei der Entstehung der Störung geltend gemacht werden. Neuere Zwillingsstudien können eine Heretabilität zwischen 75 und 98% nachweisen (Tannock, 1998). Eaves und Mitarbeiter (1997) stellen fest, dass die Heretabilität der hyperkinetischen Störung damit weit über der Heretabilität von Störungen des Sozialverhaltens, Angststörungen und depressiven Störungen liegt.

1.3 Der sensorisch - integrative Ansatz

In den folgenden Abschnitten werden theoretische Hintergründe und anwendungspraktische Charakteristika der SI zusammenfassend dargestellt. Neben einem theoretischen Bezugsrahmen für ein besseres Verständnis der untersuchten Therapieform und des anhängigen Therapiemanuals, sollen hierdurch Anknüpfungs-punkte für spätere Überlegungen zu Erfolgskriterien der Evaluation aufbereitet werden.

Begründerin des Konzeptes der Sensorischen Integrationstheorie war die amerikanische Psychologin und Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres. Im Zuge eines Forschungsprojektes zu den Ursachen von Lernstörungen zeigte sich, dass bei Kindern mit Lernproblemen gehäuft Verarbeitungsstörungen der Sinneswahrehmungen auftraten. Basierend auf diesen Beobachtungen entwickelte Ayres das Konzept der Sensorischen Integration. Hauptanliegen dieses Konzeptes war, dysfunktionale Muster (Hirnfunktionsstörungen) zu beschreiben und geeignete Therapien daraus abzuleiten.

In ihrem Buch „Sensory Integration and the Child” erläutert Ayres (1979) den Begriff bzw. die Funktion der Sensorischen Integration so: „Sensorische Integration ist der Prozess des Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke (sensorischen Inputs), so dass das Gehirn eine brauchbare Körperreaktion und ebenso sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen und Gedanken erzeugen kann. Die Sensorische Integration sortiert, ordnet und vereint alle sinnlichen Eindrücke des Individuums zu einer vollständigen und umfassenden Hirnfunktion“ (Ayres, zit. n. Flehmig & Flehmig, 1998, S. 47).

Charakteristisch für die Sensorische Integration ist der (systemisch) dynamische Prozess. Die Sensorische Integration ist eine sich selbst organisierende Aktivität des Menschen, der innerhalb seines Umweltkontextes interagiert (Spitzer, 1999). In der Wissenschaft werden häufig sensorische Systeme isoliert untersucht. Diese modal­spezifische Annäherung führt zwar zu einem tieferen Verständnis jedes einzelnen Systems, in funktioneller Hinsicht jedoch ist die Integration von Empfindungen aus verschiedenen sensorischen Modalitäten entscheidend, um Umweltzusammenhänge interpretieren zu können (Smith Roley, Blanche, Schaaf, 2004). Wahrnehmung bezieht sich immer auf ein Zusammenspiel einzelner Sinnessysteme und wird erst im Prozess der Integration zur Wahrnehmung. Die Sensorische Integration als solche ist also ein natürliches Ergebnis der normalen Entwicklung (Turkewitz, 1994). Sie repräsentiert sowohl einen neurologischen Prozess als auch den Zusammenhang zwischen einem neurologischen Prozess und Verhalten (Borchardt, 1998). Sensorische Integration ist, einfach gesagt: „...die bestmögliche Verarbeitung und Beantwortung von Sinnesinformationen für die angestrebte Handlung“ (Schaefgen, 2000, S. 21).

Die Theorie der Sensorischen Integration setzt sich aus drei Teilbereichen zusammen. Der erste Bereich bezieht sich auf die Entwicklung des Menschen, der Beschreibung des normal ablaufenden Prozesses der Sensorischen Integration. Der daran angrenzende Bereich beschreibt den Begriff der „sensorisch-integrativen Dysfunktion“. Im dritten Bereich geht es um Anleitungen zu Behandlungsprogrammen, bei denen spezielle auf der Sensorischen Integrationstheorie basierende Techniken angewandt werden. Diesen drei Bereichen ist jeweils eine Hauptthese zugeordnet. Die erste Hauptthese besagt, dass das Lernvermögen eines normal entwickelten Menschen davon abhängt, inwieweit er in der Lage ist, sensorische Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu integrieren und die erhaltenen Informationen für die Planung und Organisation seines Verhaltens zu nutzen. Die zweite Hauptthese erklärt, dass bei Menschen, die Sinneseindrücke nicht richtig verarbeiten und integrieren können, es zu Störungen bei der Planung und Erzeugung von Verhalten kommt. Die dritte Hauptthese, auf der die Behandlungsmethoden basieren, bedeutet, dass die Verarbeitung und Integration von Sinneseindrücken im Zentralnervensystem und damit auch das konzeptuelle und motorische Lernen durch gezielte Reizzufuhr im Rahmen sinnvoll ausgewählter Aktivitäten verbessert werden kann (Fisher, Murray, Bundy, 1998).

Der normalen Entwicklung der Sinne und ihrer Integration, wie sie im ersten Teilbereich aufgegriffen wird, liegt die Annahme einer hierarchischen Entwicklung zugrunde. Ayres geht davon aus, dass der Mensch von einem relativ undifferenzierten zu einem differenzierteren Zustand heranreift. Prozesse der Differenzierung und hierarchischen Integration regulieren den Verlauf und sind für beobachtbare Veränderungen verantwortlich. Diese hierarchische Gliederung ist im Schaubild von Ayres (1998) wiedergegeben (Abb. 1). Im Zusammenhang mit Konzentrations- und Organisationsfähigkeit, Selbstkontrolle und Selbstachtung, kognitivem Lernen und abstraktem Denken spricht Ayres von „Endprodukten“. Für das Erreichen dieser End-produkte ist eine reibungslose Verarbeitung der Sinneseindrücke unerlässlich, so Ayres.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: A. J. Ayres, „Bausteine der kindlichen Entwicklung“, 1998, Springer Verlag, S. 103

Vergleichbare hierarchische Entwicklungskonzepte finden sich auch in der Entwicklungspsychologie. Organismische Entwicklungstheorien (u.a.Werner, 1957; Overton, 1984; Cicchetti,1996) oder auch kontextualistische Ansätze, mit einer stärkeren Gewichtung der Person-Kontext-Beziehung (z.B. Goodness-of-fit; Lerner, Nitz, Talwar & Lerner, 1989), weisen Ähnlichkeiten zum SI Entwicklungskonzept auf. Eine Integration entwicklungspsychologischer und sensorisch-integrativer Theorien wird zum Ende des ersten Kapitels vorgenommen.

1.3.1 Therapeutische Grundlagen

Die Behandlungstechniken der SI bestehen darin, den Patienten im Rahmen einer bedeutsamen und selbstgesteuerten Aktivität einer gezielten und kontrollierten sensorischen Stimulation auszusetzen, damit er „adaptives Verhalten“ zeigt. Der Hauptakzent liegt dabei auf der Integration vestibulär-propriozeptiver und taktiler Reize und nicht nur auf der Erzeugung motorischer Reaktionen (vgl.Fisheret.al.,1998). Die Therapie ist ganzheitlich auf das Kind ausgerichtet und die Behandlung erfolgt problemorientiert, nicht störungsorientiert. Ziel ist die Erhöhung der neuralen Wahrnehmungsverarbeitung zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit, der Selbstsicherheit und der Fähigkeit von Kommunikation und psychosozialer Integration.

Das Therapiekonzept basiert auf fünf grundlegenden Annahmen. Erstens der neuralen Plastizität des Gehirns, die besagt, dass das zentrale Nervensystem gewissermaßen formbar ist und Behandlungsmethoden zu Veränderungen im Gehirn führen. Zweitens, dass sich der sensorische Integrationsprozess schrittweise entfaltet. Verhaltensmuster bilden sich in einer Art Kreisprozess, wobei jedes erworbene Verhaltensmuster als Grundlage für die Entwicklung weiterer, komplexerer Verhaltens-muster dient, also einer Entwicklungsabfolge unterliegen. Drittens der hierarchischen Struktur des Nervensystems, d.h., das Gehirn arbeitet zwar als einheitliches Ganzes, besteht aber aus verschiedenen hierarchisch aufgebauten Systemen. Integrative Funktion höherer Ebenen bildet sich aus integrativen Strukturen niedrigerer Ebenen heraus. Viertens dem adaptiven Verhalten. Dieses Axiom postuliert, dass adaptives Verhalten die Sensorische Integration fördert. Durch adaptives Verhalten ist der Mensch in der Lage, sich der jeweils „genau richtigen“ Herausforderung zu stellen (Spiralprozess). Die Fähigkeit adaptives Verhalten zu erzeugen, spiegelt umgekehrt einen Prozess der Sensorischen Integration wieder. Die fünfte und letzte Annahme geht davon aus, dass jeder Mensch einen inneren Antrieb verspürt, durch die Teilnahme an sensomotorischen Aktivitäten Sensorische Integration zu entwickeln (Fisheret al., 1999; Roley et al., 2004).

Ayres (1972b) zeigte auf, dass Kinder mit sensorisch-integrativen Dysfunktionen oft nur wenig Motivation und inneren Antrieb zeigen, wenn es darum geht, sich aktiv an seiner Umgebung zu beteiligen oder neuen Herausforderungen zu stellen. Den angedeuteten Kreisprozess von Antrieb, Motivation und der Fähigkeit, sich selbst zu steuern und sich selbst zu aktualisieren, entwickelte die Gruppe um Fisher weiter. Sie entwarfen hierzu das Modell des Spiralprozesses der Selbstaktualisierung. Zum einen gibt es die Kernaussage der Ergotherapie wieder, wonach der Mensch immer einen Drang nach Betätigung verspürt und zum anderen bettet es die Sensorische Integrationstheorie in den größeren Kontext der Ergotherapie ein (Fisher et al., 1998). Es wird davon ausgegangen, dass sensorisch-integrative Dysfunktionen Entwicklungs-störungen sind, die vermutlich zu einer Unterbrechung des Spiralprozesses der Selbstaktualisierung führen. Die Sensorische Integrationstheorie erhebt lediglich den Anspruch, leichte bis mittelschwere Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen zu erklären. Andere Defizite, die auf Schäden im Zentralnervensystem oder andere Anomalien zurückzuführen sind, bleiben unberücksichtigt.

Ursprünglich wurde das Verfahren für Kinder mit Entwicklungsstörungen, Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen und Schulproblemen konzipiert. Die heutigen Anwendungsbereiche erstrecken sich darüber hinaus auf Kinder mit autistischen Verhaltensweisen, emotionalen Störungen, Essproblemen, Sprachproblemen psychosomatischen Störungen und Lern- und Aufmerksamkeitsproblemen. Es gilt zu beachten, dass das Konzept der Sensorischen Integration innerhalb der Ergotherapie entwickelt wurde und entsprechend auf diesen Anwendungsbereich zugeschnitten ist (Smith Roley, 2004).

Kennzeichen einer Therapie nach sensorisch-integrativen Grundsätzen sind die aktive Teilnahme des Kindes, eine angemessene Herausforderung durch das Angebot, das Einbeziehen der kindlichen Absichten und Motivationen, sowie die Förderung von Neugier und Kreativität. Kognitive Leistungsmotivation, Funktionsübungen oder die Nutzung konditionierender Maßnahmen, wie sie in anderen Therapiemethoden eingesetzt werden, stehen dem entgegen. Die „Kunst“ der Therapie bestehe darin, so Fisher (1998), durch aktive Beteiligung an Aktivitäten, die für den Patienten von Bedeutung sind, adaptive Verhaltensweisen auszulösen und somit die Funktionsweise des Nervensystems zu verbessern (und dadurch die Grundlage für ein besseres motorisches und kognitives Lernen zu schaffen).

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Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Evaluation des Behandlungserfolges des sensorisch integrativen Ansatzes in der Ergotherapie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Institut für Psychologie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
66
Katalognummer
V46696
ISBN (eBook)
9783638438360
Dateigröße
1836 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Evaluation, Behandlungserfolges, Ansatzes, Ergotherapie, Kindern, Störungen
Arbeit zitieren
Laurin Schaefgen (Autor:in), 2005, Evaluation des Behandlungserfolges des sensorisch integrativen Ansatzes in der Ergotherapie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46696

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