Die romance nordestina - Die Suche nach regionaler Brasilianidade in "Vidas Secas" (Graciliano Ramos)


Hausarbeit, 2003

17 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Leben und Werk des Autors

2. Überblick
2.1. Brasilianische Literatur im lateinamerikanischen Kontext
2.2. Der Nordost-Roman
2.3. Zur Einordnung von Ramos in die Literatur Brasiliens

3. Vidas Secas
3.1. Aufbau des Romans
3.2. Sprache
3.3. Figuren
3.3. Regionale Bezüge
3.3.1. Die Figur Fabiano - Der Sertanejo als literarischer Typus
3.3.2. Der Antagonismus Stadt-Land

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Suche nach regionaler Brasilianidade am Beispiel des Romans „Vidas Secas“ von Ramos aus dem Jahr 1938. In der Zeit nach der Unabhängigkeit Brasiliens wurden in der Literatur mehr und mehr Versuche unternommen, sich von den Einflüssen der ehemaligen Kolonialmacht Portugal stilistisch und inhaltlich zu emanzipieren. Die Frage nach dem genuin Eigenen, dem typisch Brasilianischen – der Brasilianidade – wurde aufgeworfen auf. Zu zu dieser Tendenz kam hinzu, dass Brasilien ein extrem großes Land ist und starke regionale Eigenheiten aufweist. Mehr als hundert Jahre nach der Unabhängigkeit, während der Phase des Modernismo, fand der Nordostroman Eingang in die brasilianische Literatur. Die Charakteristika des Schreibstils hatten sich in ihm im Vergleich zu den Anfängen der Nationalliteratur deutlich verändert: Autoren wie Ramos versuchten, sich ihrem Land nicht mehr durch europäische (ergo fremde) Augen anzunähern, sondern aus der Perspektive seiner BewohnerInnen heraus zu schreiben. Brasilien diente nun nicht mehr als bloße Kulisse zur Betrachtung merkwürdiger Menschen sondern als eine thematische Achse, von der ausgehend Land und Menschen mitsamt ihren lokalen Eigenheiten möglichst realistisch beschrieben werden sollten.

Der Roman „Vidas secas“ ist eine romance nordestina par excellence. Die Protagonisten können als Urtypen des Sertão angesehen werden und ihr Schicksal steht für viele andere BewohnerInnen der Region.

1. Leben und Werk des Autors

Ramos wurde im Oktober 1892 in einer kleinen Stadt namens Quebrângulo im Staat Alagoas geboren, er starb 1953 in Rio de Janeiro. Den Großteil seines Lebens verbrachte der Autor in seiner Geburtsregion, dem kargen und armen Nordosten Brasiliens. Ab 1905 besuchte er die Schule in Maceió, der Hauptstadt Alagoas´. Einige Jahre darauf zog seine Familie um, diesmal in das Landesinnere des Staates. In dem Städtchen Palmeiro dos Indios verbrachte Ramos die nächsten 20 Jahre seines Lebens. Palmeiro wird als der Ort angesehen, der am engsten mit seiner Arbeit verbunden ist (de Oliveira 1988 [1943]: 3). 1914 versuchte sich Ramos für eine kurze Zeit als Journalist in Rio de Janeiro, ging aber ein Jahr später wieder zurück in den Nordosten und heiratete (er führte insgesamt zwei Ehen; seine erste Frau verstarb und hinterließ ihm vier Kinder, in zweiter Ehe bekam er nochmals vier Kinder). Ebenso wie sein Vater begann er, öffentliche Ämter zu bekleiden und wurde Präfekt von Palmeiro. Im Rahmen dieser Tätigkeit musste er Berichte schreiben und diese nach Maceió schicken. Unüblicherweise, im Gegensatz zu den bürokratischen Gepflogenheiten, waren seine Schriftstücke mit ironischen Untertönen und Wortwitz versetzt. So wurde Ramos zweiter Bericht auf Veranlassung des Gouverneurs von Alagoas in der Zeitung publiziert. Als Resonanz auf den Artikel wurde der Dichter und Verleger Schmidt aus Rio auf den Kleinstadtpräfekten aufmerksam. Ramos hatte bereits sein erstes Werk „Caetés“[1] zu dem Zeitpunkt verfasst, jedoch keine Versuche unternommen, es zu publizieren. Schmidt veröffentlichte 1933 Ramos´ Debüt in Rio. „Caetés“ ist ein Kleinstadtroman, Ramos selbst bezeichnete ihn später als missglückt (Frosch 1995: 12). Das Leben des Autoren wurde zunächst nicht von dem literarischen Erfolg berührt, er arbeitete weiterhin in öffentlichen Ämtern in gehobener Position. Schließlich begannen die politischen Umstände Einfluss auf sein Leben und Werk zu nehmen: Von 1930 bis 1945 wurde Getúlio Vargas[2] der Präsident Brasiliens. Ramos wurde unter Vargas entlassen, kam zunächst in Recife, dann in Rio ins Gefängnis, wo er ein Jahr lang ohne Verurteilung festgehalten wurde. Sein Bericht über diese Zeit („Memórias do cárcere“) wurde posthum veröffentlicht. Mitte der 1930er erschienen seine Novellen „Angústia“ und „São Bernardo“ („Angústia“ wurde veröffentlicht, während Ramos selbst im Gefängnis festgehalten wurde). Typisch für die Wirren des Estado Novo war, dass Ramos nach seiner Entlassung erneut einen hohen öffentlichen Posten im Bildungswesen bekleiden durfte. In dieser Phase entstand „Vidas secas“, die Geschichte einer nomadisierenden Hirtenfamilie im Nordosten auf der Flucht vor der Dürre. Es folgte eine Reihe weiterer Publikationen zu Lebzeiten. Ramos war sehr produktiv, er schrieb diverse Kinder- und Kurzgeschichten, Reiseberichte sowie das bekanntere Buch „Infância“, das größtenteils auf dem Hof seiner Großeltern bei Buíque spielt (de Oliveira 1988 [1943]: 4).

In Brasilien zählt Ramos seit Mitte des letzten Jahrhunderts zu den angesehensten Autoren, heute sind seine Werke in mindestens 13 Sprachen übersetzt.

2. Überblick

Das Kapitel ist in drei Unterkapitel gegliedert. Zuerst gibt einen kurzen Überblick über die Besonderheiten der brasilianischen Literatur im lateinamerikanischen Kontext bis zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Vidas Secas“. Anschließend behandelt es die Besonderheiten des Nordostromans sowie das Konzept des Regionalismus. Zum Schluss des Kapitels steht eine kurze Einordnung Ramos´ in die Literatur Brasiliens.

2.1. Brasilianische Literatur im lateinamerikanischen Kontext

Brasilien ist das größte Land Lateinamerikas, es nimmt fast die Hälfte der Landmasse und Bevölkerung Südamerikas ein. Der Begriff Lateinamerika bezeichnet nicht eine Nation im europäischen Sinn (Dill 1999: 12), sondern das hochgradig heterogene Gebiet eines Subkontinents, geprägt durch indianische, iberische und afrikanische Einflüsse, die sich immer wieder in den nationalen Literaturen wiederspiegeln. Die Literatur Lateinamerikas zeichnet eine starke Anlehnung an die orale Überlieferung aus (vgl. Dill 1999: 11). Literatur und Nicht-Literatur (wie z.B. der Journalismus) stehen in einem engen Verhältnis zueinander, bekannte lateinamerikanische Autoren wie Marquez arbeiten oft auch journalistisch.

„Endeckt“ und kolonialisiert wurde der lateinamerikanische Subkontinent durch Spanien und Portugal. Zwischen dem hispano-amerikanischen und dem portugiesischen Gebiet bestanden seit Beginn der Kolonisation Unterschiede, welche die politischen und sozialen Strukturen prägten. Brasilien war beispielsweise durch den Umzug der Königsfamilie lange Zeit viel enger an Europa gebunden als die spanischen Einflussgebiete. Universitäten in Brasilien entstanden nicht zuletzt dadurch in geringer Zahl und zu wesentlich späterem Zeitpunkt als in den spanischen Gebieten Lateinamerikas. In den Jahrhunderten nach dem Beginn der Kolonialisierung des Landes durch Portugal stellt die portugiesische Sprache den engen Bezug zur literarischen Tradition Portugals her. In der Kolonialzeit überwiegen historische und geographische Beschreibungen. Schon die ersten Werke zeichnen sich durch eine Form des Regionalismus aus: Die Erforschung Brasiliens, die Kriege, die mit der Eroberung durch portugiesische Kolonialisten einhergingen und die frühen Ansiedelungen von Europäern im Inland (Sertão) bilden die Hauptthemen der frühen Schriften, immer jedoch aus einem europäischen Blickwinkel heraus geschrieben. Die ersten schriftlich fixierten Werke nach der Kolonisation waren Chroniken und Versepen. Der manirierte Stil des spanischen und portugiesischen Barock (nach seinem Hauptvertreter Louis de Góngora y Argote Gongorismus genannt) beeinflusste besonders Bahia, das bald schon den Ruf als führendes literarisches Zentrum des Landes genoss und zum Schauplatz vieler der frühen brasilianischen Epen avancierte. Einer der ersten Schriftsteller, die konkret über Brasilien schrieben, war der Jesuitenpfarrer Antônio Vieira, der eine menschlichere Behandlung der Indios forderte. Nach der Unabhängigkeit 1822 wurde die Literatur nationalbezogener. Im 19. Jahrhundert spiegeln sich nach wie vor europäische Einflüsse in der brasilianischen Literatur wider, doch werden sie mehr und mehr von nationalen Themen verdrängt. Ins Zentrum des Interesses rückte etwa die Beschreibung des nordöstlichen Hinterlandes (Sertão) oder des Urwalds am Amazonas (Selva).

2.2. Der Nordost-Roman

Der Nordeste ist die Region in Brasilien, welche die Staaten Alagoas, Pernambuco und Paraíba umfasst. Weite Teile des früher ausgedehnten Waldlandes wurden zur Schaffung von Ackerland gerodet. Zuckerrohr wird in Plantagenwirtschaft kultiviert, andere Produkte der Region sind Bananen, Kakao, Baumwolle und Tabak. Die größten Städte (Salvador, Fortaleza und Recife) liegen an der Küste, größter Fluss ist der São Francisco. Landeinwärts befinden sich die Hügellandschaft und die Hochebenen des Sertão, dessen BewohnerInnen als Sertanejos tituliert werden. Der Nordosten ist die trockenste Region Brasiliens, lange Dürreperioden sind häufig. Die vorherrschende, als Caatinga (Dornenwald) bezeichnete Vegetation setzt sich aus Kakteen und Akazien zusammen. Der Nordeste zählt zu den ärmsten und rückständigsten Regionen Brasiliens, gekennzeichnet von traditionellen Besitzverhältnissen, die vielmals die soziale Ungerechtigkeit verstärken. Insbesondere aus dem extrem kargen Sertão migrieren viele Menschen in der Hoffnung, in den Städten der Küste oder in Südbrasilien ein besseres Leben vorzufinden. Sie werden dann als retirantes (Flüchtlinge) bezeichnet. Die literarische Gattung der romance nordestina thematisiert die Menschen und Gegebenheiten im Nordosten des Landes, generell von einem sozialkritischen Blickwinkel aus geschrieben.

Indem sich die brasilianische Literatur lange Zeit an europäischen Mustern, Strömungen und Thematiken orientiert hatte, diente Brasilien selbst bestenfalls als eine literarische Kulisse (Frosch 1995: 26). Schriftsteller und Intellektuelle fühlten sich den europäischen Eliten verbunden. Ihr Blick auf die BewohnerInnen Brasiliens war somit ein fremder, Brasilien wurde meist als ein Sammelbecken merkwürdiger und vor allem exotischer Menschen angesehen. Versuche, das brasilianische Volk von innen heraus literarisch zu erfassen, gab es kaum. Da Cunha beginnt als einer der Ersten, die rückständige Region des Nordostens zu beachten. 1902 wird sein Werk „Os Sertões“ veröffentlicht. Es ist eine facettenreiche Beschreibung der sozialen und geographischen Gegebenheiten und erzählt die tragisch endende Geschichte einer Protestbewegung. Dieses Werk rief literarisches Interesse an der abgelegenen Region hervor. Die Helden sind nun geschundene Kreaturen, die in einer feindlichen, realen und allgegenwärtigen Umwelt leben (vgl. Frosch 1995: 27). Als Reaktion auf da Cunha setzt eine Strömung mit verändertem Blickwinkel ein: Es ist nicht mehr eine Art „Tourist“ mit europäischem Forscherauge, welcher die Erzählungen niederschreibt, sondern Zentrum der Textproduktionen werden autochtone Subjekte und ihre „ortsansässige“ regional bedingte Sichtweise (vgl. Frosch 1995: 28). Nach Brayner ist der erste Roman zur Thematik des Nordostens „Os retirantes“ des Journalisten Patrocínio. Er stellt eine Mischung aus Gefühl, Brutalität und sozialer Anklage dar (Brayner nach Frosch 1995: 28). Bezüglich der einsetzenden antiurbanen Literatur schreibt A. Candido (Candido nach Frosch 1995: 28):

[...]


[1] Der Titel „Caetés“, bezieht sich auf eine Indiogruppe, die bei Ankunft der Portugiesen im Nordosten lebte.

[2] Nach einer längeren politischen Karriere unterlag Vargas bei den Präsidentschaftswahlen von 1930, kam aber noch im gleichen Jahr durch einen Staatsstreich an die Macht. Bis 1934 regierte er per Erlass als provisorischer Präsident, dann wählte ihn der Kongress der Verfassung entsprechend offiziell zum Präsidenten. 1937 rief Vargas den Notstand aus, verbot alle politischen Organisationen, löste den Kongress auf und proklamierte einen Neuen Staat (Estado Novo), den er selbst als Diktator lenkte. Unter der Regierung Vargas verlagerte sich die Macht im Land von den Bundesstaaten zur Zentralregierung und von den Großgrundbesitzern zur städtischen Mittel- und Unterschicht. In Konkurrenz zu Privatinvestoren engagierte Vargas den Staat in der Wirtschaft, führte neue Arbeitsgesetze ein, verstaatlichte die Bodenschätze und förderte die Modernisierung der brasilianischen Industrie. Die relativ enge wirtschaftliche und diplomatische Zusammenarbeit mit den USA während des 2. Weltkrieges veranlasste Brasilien 1942 zum Kriegseintritt. Obwohl Vargas 1945 Kongress- und Präsidentenwahlen ankündigte, wurde er im selben Jahr durch einen Staatsstreich gestürzt. Mit der Unterstützung der Arbeiterbewegung wurde er jedoch fünf Jahre später erneut Präsident; seine Regierung traf aber zunehmend auf den Widerstand des Militärs, das ihn schließlich zum Rücktritt zwang. Vargas beging am 24. August 1954 Selbstmord.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die romance nordestina - Die Suche nach regionaler Brasilianidade in "Vidas Secas" (Graciliano Ramos)
Hochschule
Universität Hamburg  (Lateinamerika Institut)
Veranstaltung
Einführung in die Literatur Lateinamerikas
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
17
Katalognummer
V46466
ISBN (eBook)
9783638436571
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Suche, Brasilianidade, Vidas, Secas, Ramos), Einführung, Literatur, Lateinamerikas
Arbeit zitieren
Julia Dombrowski (Autor:in), 2003, Die romance nordestina - Die Suche nach regionaler Brasilianidade in "Vidas Secas" (Graciliano Ramos), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46466

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