Vollständiges Lernen durch Rollenspiele in der Ausbildung zum Kaufmann/ zur Kauffrau für Versicherungen und Finanzen


Bachelorarbeit, 2018

56 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau und Methodik der Arbeit

2. Der Prozess des vollständigen Lernens
2.1 Das kognitionstheoretisch begründete Modell des vollständigen Lernens
2.2 Lernzyklus nach dem Kognitionsmodell
2.2.1 Überblick über den Lernzyklus nach dem Kognitionsmodell
2.2.2 Erste Vorstellungen vom Lerngegenstand entwickeln
2.2.3 Vorstellungen vom Lerngegenstand anreichern und ausdifferenzieren
2.2.4 Sich über die Vorstellungen anderer informieren und sich gegenseitig orientieren
2.2.5 Vorstellungen vom Lerngegenstand zu einem Handlungsablauf strukturieren
2.2.6 Tatsächliches Gestalten von Vorstellungen am Fall
2.2.7 Abstrahieren durch symbolische Verallgemeinerung
2.2.8 Rekonstruieren abstrakter Operationen zu konkreten Vorstellungen

3. Das Rollenspiel
3.1 Warum Rollenspiele
3.2 Begriff der Rolle
3.3 Formen des Rollenspiels
3.4 Phasen des Rollenspiels
3.4.1 Motivationsphase
3.4.2 Aktionsphase
3.4.3 Reflexionsphase

4. Didaktische Gestaltung eines Rollenspiels nach dem Konzept des vollständigen Lernens
4.1. Lernfeldzuordnung und didaktische Vorüberlegungen
4.2 Ausgestaltung der Motivationsphase
4.3 Ausgestaltung der Aktionsphase
4.4. Ausgestaltung der Reflexionsphase

5. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

1.1 Problemstellung

Der Beruf Kaufmann/-frau für Versicherungen und Finanzen (im Folgenden KVF) ist ein anerkannter, dreijähriger Ausbildungsberuf, welcher durch die Verordnung über die Berufsausbildung zum/zur KFV sowie über den Rahmenlehrplan für den Ausbildungsberuf KVF geregelt wird (vgl. BIBB 2006; KMK 2013). Der Beruf wird in zwei Fachrichtungen ausgebildet, Versicherung und Finanzberatung. Für den Ausbildungsberuf sind zudem die Industrie- und Handelskammern zuständig. Im Jahr 2017 befanden sich 13.002 junge Erwachsene (5.922 Frauen und 7.080 Männer) in der Ausbildung zum/zur KVF und mit davon neu abgeschlossenen 3477 Ausbildungsverträgen belegte die Ausbildung zum/zur KFV Platz 9 der 20 am stärksten besetzten Ausbildungsberufe der Schüler/-innen mit einer Hochschul- oder Fachhochschulreife (vgl. Statistisches Bundesamt 2018, S. 21, S. 57).

KVF arbeiten vornehmlich in Versicherungsunternehmen oder in Unternehmen der Finanzdienstleistungsbrache, wobei sie als angestellte oder selbstständige Vermittler/-innen, Berater/-innen und Makler/-innen tätig sein können (vgl. BIBB 2016, S. 4). Der Verkauf von Versicherungen und Finanzdienstleistungen und die Beratung hierzu sind dabei für die berufliche Tätigkeit der KVF prägend und beinhalten eine hohe soziale Verantwortung der KVF hinsichtlich der finanziellen Sicherheit der Kunden/-innen im Schadenfall und der bedarfsgerechten Vorsorge der Kunden/-innen (vgl. Prack & Czerwionka 2015, S. V). Zu diesem Zweck ist es notwendig, die individuelle Lebenssituation der Kunden/-innen genauestens zu erfassen und deren Bedürfnisse zu ermitteln und zu erfüllen. Es liegt folglich in der Verantwortung der KFV eine vertrauensvolle Beziehung zu den Kunden/-innen aufzubauen und diese fortwährend zu gestalten, wozu persönliche Gespräche mit den Kunden/-innen unabdingbar sind (vgl. Klöckner 2014, S. 29). Diese Verantwortung der Beratung rückte in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus und in das Bewusstsein der Versicherungswirtschaft, sodass der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) im Jahre 2012 einen Verhaltenskodex verabschiedete, welcher die Interessen der Kunden verstärkt in den Blickpunkt rückte und das Ziel verfolgt, die Qualität der Kundenberatung weiter zu verbessern (vgl. GDV 2018). Mit der Unterstützung zahlreicher Verbände der deutschen Versicherungsbranche entwickelte sich seit 2013 die Brancheninitiative gut beraten – Weiterbildung der Versicherungsvermittler in Deutschland, deren Ziel es ist, Weiterbildungen, welche die Kompetenzen in den Schwerpunktbereichen der Kundenberatung und -betreuung weiterentwickeln, zu befördern und zu dokumentieren (vgl. BWV 2018; Weiterbildung der Versicherungsvermittler in Deutschland 2013). Als Folge dieses Prozesses stehen nunmehr seit Februar dieses Jahres Versicherungsvermittler/-innen und -berater/-innen verbindlich in der Pflicht sich (in einem Umfang von 15 Zeitstunden pro Jahr) weiter zu bilden, um so eine hohe Beratungsqualität zu gewährleisten (vgl. VersVermV; § 34d GewO). Diese Entwicklung zeigt deutlich, welche Bedeutsamkeit der Beratung und der Qualität derer im Tätigkeitsfeld der KVF fortwährend zukommt.

So ist es nur folgerichtig, dass gleichermaßen während der Ausbildung zum/zur KFV der Beratung der Kunden/-innen ein großer Stellenwert zugesprochen wird. Bereits im ersten Ausbildungsjahr der Ausbildung zum/zur KVF sind laut Verordnung über die Berufsausbildung die für die Vorbereitung von Beratungs- und Verkaufsprozessen, sowie für die Kundenbetreuung notwendigen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln (vgl. BIBB 2006, Anlage 3 zu § 5). Ferner stellt die Beratung der Kunden/-innen in zehn der fünfzehn vorgesehenen Lernfelder des Rahmenlehrplans für den Ausbildungsberuf KFV ein Kernelement dar (vgl. KMK 2013, S. 7 ff.). Von den Beschäftigten der Versicherungswirtschaft und damit von den Auszubildenden KVF werden folglich, um in hoher Qualität beraten zu können, vielfältige Kompetenzen, wie beispielweise eine grundlegende Fachkompetenz der Versicherungsprodukte sowie soziale Kompetenzen im Umgang mit Kunden/-innen, erwartet (vgl. Klöckner 2014, S. 43). Dabei stehen in Anlehnung an BWV & f-bb (2011, S. 9) Kompetenzen, welche die systematische und ganzheitliche Analyse der Kundensituation und -bedürfnisse, als Grundvoraussetzung für eine bedarfsorientierte Beratung der Kunden/-innen, ermöglichen sowie die, für die Unterbreitung individuell abgestimmter Produktangebote und Beherrschung einer strukturierten und argumentativen Gesprächsführung notwendigen Kompetenzen, an erster Stelle. Der Begriff der Kompetenz bezieht sich somit nicht nur auf Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch auf deren sachgerechte und verantwortliche Anwendung in den entsprechenden, häufig komplexen Situationen, welche eigenständiges Handeln erfordern (vgl. Erpenbeck und Heyse 1996, S. 31 ff.).

Nach Weinert (2014, S. 27 f.) werden unter Kompetenzen

„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren, kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“

verstanden. Kompetenzen sind in dieser Beziehung jedoch kontextabhängig zu begreifen, da Individuen stets in Kontexten (Interaktionen und Beziehungen mit anderen) agieren und diese Kontexte dabei nicht nur bestimmen, was Kompetenzen sind und wer eine Chance erhält Kompetenzen zu entwickeln, sondern auch die Bedingungen dafür vorgeben, wie Kompetenzen produziert und reproduziert werden können (vgl. Windeler 2014, S. 10). Das Entwickeln von Kompetenzen ist ferner nach Dehnbostel (2009, S. 211) ein lebensbegleitender Prozess, der durch individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse mithilfe unterschiedlicher Lernarten und -formen in der Arbeits- und Lebenswelt erfolgt. Dabei bildet die Aneignung von intelligentem, gut organisierten und vernetzten Wissen die Basis für den Erwerb jeglicher fachlichen Kompetenz. Methodische und soziale Kompetenzen lassen sich hingegen im Kontext der fachlichen Bildung an konkreten Problemen und beruflichen Situationen entwickeln (vgl. Lersch 2010, S.8 ff.).

Die Beförderung von Kompetenzen setzt folglich zunächst ein Lernen voraus. Dieses Lernen wird vorliegend aus konstruktivistischer Sicht betrachtet und verstanden. Lernen im Sinne des Konstruktivismus bedeutet, durch Wahrnehmungen und Erfahrungen eine höchst individuelle Wiedergabe der Wirklichkeit zu schaffen. Das Erleben und das daraus folgende Lernen sind durch sinnesphysiologische, kognitive und soziale Prozesse beeinflusst und hängen daher stark vom Lernenden1 selbst und seinen vergangenen und aktuellen Erfahrungen ab (vgl. Müller 1996, S. 71). Wissen kann folglich nicht einfach von einer Person auf eine andere übertragen werden, es wird von jedem Lernenden selbst neu konstruiert (vgl. von Glasersfeld 1987, S. 133). Das Lernen als solches ist somit kein passives Speichern von empirischen Daten, sondern das Sammeln von Erfahrungen, Daten und Fakten und Konstruktion von diesen zu Erkenntnissen und eigenem Wissen (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 36 ff.; von Glasersfeld 1998, S. 121 ff.). Dabei sind nach Reetz und Tramm (2000, S. 79f.) jedoch nur solche Lerngegenstände und Anforderungssituationen kompetenzfördernd, die

„exemplarische Einsichten für gleichartige Situationen ermöglichen, die strukturelle Erkenntnisse eröffnen, kognitive Konflikte bzw. Probleme angemessenen Schwierigkeitsgrades enthalten oder den Erwerb übertragbarer Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglichen“.

Wird ferner die Annahme berücksichtigt, dass der Erwerb von Kompetenzen und die damit verbunden Lernprozesse ein „aktiver, situativer und sozialer Prozess, bei dem das Wissen selbstorganisiert interpretiert und konstruiert wird“ (Erpenbeck & Sauter 2013, S. 39), ist, von außen zwar angeregt, aber nicht fremdbestimmt werden kann und zudem nur umfassend erfolgt, wenn Lernprozesse vollständig durchlaufen werden, ist es von großer Bedeutung, Lehr-Lernprozesse zu initiieren, die einen Kompetenzerwerb durch vollständiges Lernen ermöglichen.

Dieses Konzept des vollständigen Lernens ist kompetenztheoretisch und konstruktivistisch basiert und beschreibt Lernen als ein „kreisstrukturell geschlossenes System kognitiver Operationen“ (Rebmann & Tenfelde 2008, S. 37), wodurch die genannte Konstruktivität und Kreisstrukturalität von Lernprozessen Berücksichtigung findet. Dies wirft jedoch die Frage auf, wie Lehr-Lernprozesse in der Ausbildung zum/zur KFV zu gestalten sind, sodass ein vollständiges Lernen im Sinne nach Rebmann und Tenfelde (2008) ermöglicht wird, um die vielfältigen fachlichen und sozialen Kompetenzen zu befördern, welche die Auszubildenden zum/zur KVF benötigen, um eine bedarfsgerechte Beratung von Kunden/-innen durchführen zu können und den (steigenden) Anforderungen und der Verantwortung ihres zukünftigen Berufes gerecht zu werden.

Nach Bischoff & Wicher (2003, S. 4) muss, wer für zukünftige, unbekannte Problemstellungen, welche den Auszubildenden zum/zur KFV aufgrund der Individualität der Kunden/-innen im Beratungsgespräch zwangsläufig begegnen werden, eigene, sinnvolle Lösungen entwickeln können soll, dies in seiner Ausbildung üben können. Dies betrifft in der dualen Ausbildung zum/zur KVF nicht bloß die Ausbildungsbetriebe, sondern schwerwiegend die Berufsschulen, da diese den Bereich beisteuern, der die fachliche Hauptvorbereitung auf die Abschlussprüfung leistet und zudem auf das Kundenberatungsgespräch vorbereiten. In diesem nimmt bei der Abschlussprüfung ein/eine Prüfer/-in die Rolle eines Kunden oder einer Kundin ein, welche/-r vom Prüfling in einem Zeitraum von ca. 20 Minuten zu beraten ist. Die Bewertung dieser Beratung macht dabei ein Viertel der Gesamtleistung der Abschlussprüfung aus (vgl. BIBB 2006, § 9). Problematisch ist, wie eine Kundenberatung im schulischen Kontext derart geübt werden kann, dass die notwendigen Kompetenzen befördert werden, da defacto keine realen Gespräche mit Kunden/-innen in der Berufsschule stattfinden, sich jedoch ein signifikanter Anteil der Auszubildenden für eine bessere Vorbereitung auf das Kundenberatungsgespräch mehr Übungsmöglichkeiten im Rahmen der Ausbildung wünscht (vgl. BWV & f-bb 2011, S. 47). Obwohl die bestehende Prüfungspraxis im Beruf KFV auf ihre kompetenzorientierte Gestaltung bereits geprüft wurde, fehlt es an Empfehlungen darüber, mit welchen didaktischen Methoden die im Beruf des KFV notwendigen Kompetenzen im Rahmen der Berufsschule befördert werden können (vgl. Lorig & Bretschneider 2015, S. 9). Nach Seyd (1997, S. 261) werden Kompetenzen nicht als Adressat darbietender Unterrichtsformen erworben; es bedarf aktivierender Methoden mit weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten, in denen Aktivitäts-, Interaktions-, Dispositions-, Entscheidungs- und Reflexionsspielräume vorhanden sind. Lehr-Lernprozesse sollten dabei so organisiert werden, dass sich Denken, Wissen und Können aus praktischen, problemhaltigen Handlungssituationen ergeben, wodurch ein solcher Lehr-Lernprozess nicht als bloßer Abbildungsprozess verstanden werden kann, sondern als ein aktiver Prozess der Lernenden, ein Handeln und Auseinandersetzen mit Sachverhalten sowie ein Versuchen und Erproben der eigenen Vorstellungen in sozialen Kontexten (vgl. Pätzhold 2006, S. 186 f.) Für diese Anforderungen geeignet erscheinen hierbei komplexe Lehr-Lernarrangements wie beispielsweise Fallstudien, Leittexte und Rollenspiele. Eine Fallstudie konfrontiert Auszubildende mit komplexen Problemsituationen praktischer Fälle aus dem Berufs- und Arbeitsleben, zu denen die Auszubildende Lösungsmöglichkeiten entwickeln (vgl. Bonz 2009, S. 144 ff.). Die Leittext-Methode nutzt Leittexte, welche Leitfragen und -sätze, Arbeitspläne und Kontrollbögen enthalten, zur Strukturierung von Lernprozessen, um selbständiges Handeln und den Erwerb berufsbezogener Fertigkeiten und Kenntnisse zu befördern (vgl. Bonz 2009, S. 153 ff.). Rollenspiele hingegen simulieren typische berufliche Situationen, in denen Auszubildende sozial-kommunikatives Handeln vorbereiten, einüben und reflektieren können (vgl. Bonz 2009, S. 140). Da im Gespräch mit Kunden/-innen, wie bereits beschrieben, neben fachlichen Kompetenzen, vor allem soziale und methodische Kompetenzen von Bedeutung sind, erscheint das Rollenspiel als geeignetste der genannten Methoden. Denn Rollenspiele ermöglichen es nicht nur, allen Beteiligten verschiedene Perspektiven auf ein Beratungsgespräch einzunehmen und vielfältige Handlungsmöglichkeiten zu beobachten, sondern auch, durch deren Simulationscharakter, sich als Berater frei zu erproben und sich an die diversen Anforderungen des Gesprächs heranzutasten (vgl. Bülow 2018, S. 94). Ebenso sieht Windulle (2009, S. 147) in Rollenspielen eine „wichtige Möglichkeit, um sich Grundfertigkeiten in Kommunikation, Beratung, Gesprächsführung“ und generell Fertigkeiten „zu allen sozialen Kompetenzen“ anzueignen. Da es genau diese Kompetenzen zu befördern gilt, ist in der vorliegenden Arbeit das Rollenspiel die Methode der Wahl, um Kundengespräche und -beratungen zu simulieren und zu üben.

Da jedoch das Rollenspiel bis dato nicht an der Theorie des vollständigen Lernens gespiegelt wurde, soll im Rahmen dieser Bachelorarbeit die zentrale Frage beantwortet werden, wie das Rollenspiel in der Ausbildung zum/zur Kaufmann/-frau für Versicherungen und Finanzen didaktisch gestaltet sein sollte, um ein vollständiges Lernen im Sinne des Konzepts des vollständigen Lernens nach Rebmann und Tenfelde zu ermöglichen.

1.2 Aufbau und Methodik der Arbeit

Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wird das Konzept des vollständigen Lernens nach Rebmann & Tenfelde (2008, S. 53) erläutert, die Phasen des Konzepts ausdifferenziert und am Beispiel der Auszubildenden zum/zur KFV praktisch erörtert. Es wird dargelegt, auf welche Annahmen und Begrifflichkeiten sich dieses Modell stützt und diese werden veranschaulicht. Im dritten Kapitel wird die Methode des Rollenspiels dargestellt. Es werden die verschiedenen Formen des Rollenspiels aufgezeigt und gegeneinander abgegrenzt sowie die Phasen des Rollenspiels beleuchtet. Dabei wird ein Blick auf die jeweiligen Besonderheiten der verschiedenen Phasen und Formen geworfen. Im vierten Kapitel werden Parallelen gezogen zwischen den Phasen des Rollenspiels und den Schritten des Konzepts des vollständigen Lernens. Es werden didaktische Empfehlungen ausgesprochen, wie die einzelnen Phasen des Rollenspiels gestaltet sein könnten, um die Phasen des vollständigen Lernens zu umfassen. Diese Empfehlungen beinhalten dabei konkrete didaktische Methoden und Lehr-Lern-Arrangements. Grundlegend hierfür wird ein explizites Lernfeld des Rahmenlehrplans des Ausbildungsberufs KFV betrachtet. Im fünften und letzten Kapitel wird ein Resümee vorgenommen und ein Ausblick gegeben. Dabei wird der Fokus des Resümees auf der Umsetzbarkeit der ausgesprochenen didaktischen Empfehlungen und den notwendigen Rahmenbedingungen für eine Umsetzbarkeit liegen. Im Ausblick wird darüber hinaus ferner erörtert, welche Kompetenzen zukünftig von Auszubilden zum/zur KVF aller Wahrscheinlichkeit nach erwartet werden und welche Bedeutsamkeit dem Rollenspiel und dem vollständigen Lernen in diesem Kontext zukommt.

2. Der Prozess des vollständigen Lernens

2.1 Das kognitionstheoretisch begründete Modell des vollständigen Lernens

Um darlegen zu können, inwieweit mithilfe eines Rollenspiels der Prozess des vollständigen Lernens abbildbar ist, liegt es nahe, zunächst den Begriff des Lernens aus konstruktivistischer Sicht eingehend zu erläutern.

Der Konstruktivismus legt dem Lernen kognitive Strukturen zugrunde. Dabei ist Kognition ein nicht immer einheitlich verwendeter Begriff, der jedoch zumeist auf die Informationsverarbeitung von Menschen Bezug nimmt. Nach Konrad (2014, S. 15) bezeichnet Kognition in der Psychologie die mentalen Prozesse und Strukturen, wie Gedanken, Meinungen, Einstellungen und Wünsche, eines Individuums. Die Informationsverarbeitungsprozesse höherer Ordnung, wie Wahrnehmung, Emotionen, Gedächtnis und Denken, wählen hierbei Informationen aus, bilden sie ab, verändern und bearbeiten diese und schaffen daraus neue Information (vgl. von Cranach 1983, S. 65). Maturana (1985, S. 39) beschreibt den Prozess der Kognition als das tatsächliche (induktive) Handeln oder Verhalten eines kognitiven Systems in einem definierten Interaktionsbereich, in dem das System zum Zweck der Selbsterhaltung handelt. Der Konstruktivismus beschreibt in Anlehnung an Rusch (1991, S. 375) die menschlichen Sinnes-, Wahrnehmungs-, Verstehens- und Verhaltensleistungen zudem als konstruktive Prozesse und damit den Lernvorgang als konstruktive, geistige Verarbeitung von Informationen und Erfahrungen und „Umsetzung der gewonnenen Einsichten in persönliche Verstehenszusammenhänge, Verhaltensdispositionen und Kompetenzentwicklungen“ (Dohmen 2002, S.13). Rebmann und Tenfelde (2008, S. 36) verstehen den Prozess des Lernens als „Wahrnehmen, Erfahrung machen, Erwerb und Strukturierung von Wissen, Handeln und Gebrauch der Sprache“ und bilden daraus das Kognitionsmodell, welches Lernen als ein kreisstrukturell geschlossenes System kognitiver Operationen beschreibt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Kognitionsmodell (Rebmann 2001, S. 89)

Der Begriff der Perturbation wurde von dem Biologen Humberto Maturana eingeführt und als „alle Interaktionen, die Zustandsänderungen auslösen“ (Maturana & Varela 2012, S. 108) definiert. Perturbationen lassen sich dabei vereinfacht als ein (nicht negativ konnotiertes) Synonym für Störungen oder Störeinwirkungen auffassen. Für ein geschlossenes System, wie das Nervensystem, stellt jede von außen kommende Einwirkung/Reizung eine Perturbation dar. Diese wahrgenommenen Perturbationen (Störungen) im Umfeld eines Systems lösen Zustandsveränderungen in dessen Struktur aus, wobei jedoch nicht die Perturbation, sondern die Struktur des Lebewesens (System) selbst determiniert, zu welcher Veränderung es infolge der Perturbation kommt (vgl. Maturana & Varela 2012, S. 27, S. 106).

Wahrnehmung kann dabei in erster Hinsicht als das Orientieren an Umweltmerkmalen zum Zweck des Über-/Lebens verstanden werden, welches beim Menschen das soziale Über-/Leben inkludiert. Dabei ist Wahrnehmung jedoch stets selektiv und erfasst nie die im philosophischen Sinne ganze Wahrheit, da nur Merkmale und Prozesse der Welt erfasst werden, die für den Organismus überlebensrelevant sind (vgl. Roth 1996, S. 85). Wahrnehmung ist damit kein gleichsam fotografischer Abdruck der uns umgebenden Wirklichkeit und ebenfalls kein passiver Prozess der Reproduktion äußerer Sachverhalte. Kognitive Systeme sind konstruktive Systeme und „die Welt unserer Anschauung ist in allen ihren Aspekten das Resultat unserer Konstruktionsleistung“ (Rusch 1991, S. 378). Ferner ist nach Roth (1986, S.170) die Wahrnehmung eine „Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen, ist Konstruktion und Interpretation“. Wahrnehmung im Sinne des Kognitionsmodells nach Rebmann und Tenfelde (2008, S. 37) bedeutet hiernach nicht die Aufnahme oder die Wiedergabe der von außen einfallenden Informationen, sondern die „Konstruktion von Invarianten, mit deren Hilfe der Organismus seine Erfahrungen assimilieren2 und organisieren kann“ (von Glasersfeld & Richards 1991, S. 194).

In erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen werden Erfahrungen in der Regel als sinnliche Erfahrungen (Wahrnehmung von etwas) durch die nach Außen gerichteten Sinne (Gehör, Tastsinn, Sehen etc.) verstanden (vgl. Rusch 1987, S. 216). Dabei haben Erfahrungen in Anlehnung an von Glasersfeld (1997, S. 51) verschiedene Ebenen; dies sind alle Elemente des Sensoriums (Summe der Wahrnehmungen eines Organismus) und alles, was mit Hilfe von Begriffen assimiliert (kategorisiert) wurde, wie Situationen, Beziehungen und Vorgänge. Hinzu kommt, was auf Grundlage dessen abstrahiert und dienlich angewandt wurde, welches ebenfalls alles Gedachte, sowohl Bewährtes als auch Nichtbewährtes oder Misslungenes, inkludiert. Erfahrungen entstehen demnach aus aktuellen Wahrnehmungen, welche mit Erinnerungen an vergangene Wahrnehmungen verkettet werden (vgl. Rebmann & Tenfelde 2008, S. 40). Hierbei wird auch das Erinnern als subjektive Konstruktionsleistung verstanden, bei der sich spezifische, psychische Mechanismen einschalten, welche die Substanz der Erinnerung nicht einfach ablagern, sondern aktiv und produktiv sowohl den Speicherungsprozess als auch ein späteres Abrufen des Gespeicherten beeinflussen (vgl. Bredel 1998, S. 26). Das Gedächtnis ist damit gleichfalls ein wichtiges Sinnesorgan, da vieles, was wir wahrnehmen, aus dem Gedächtnis stammt und durch frühere Wahrnehmung entscheidend mitbestimmt wird.

Wissen bedeutet über die Möglichkeit zu verfügen aus Kenntnissen eine Handlung abzuleiten und stellt einen Erklärungsversuch für gesammelte Erfahrungen im Hinblick auf potenzielle Handlungen dar (vgl. Neuser 2013, S. 71). Balgo und Voß (1999, S. 62) interpretieren Wissen als eine Beobachtungskategorie, als ein effektives Verhalten in einem Kontext, der durch die Fragestellung des Beobachters abgegrenzt wird. Wissen besitzt darüber hinaus einen Werkzeugcharakter, welcher dem Organismus ein Repertoire an Handlungs- und Denkmitteln zur Verfügung stellt, mit dessen Hilfe Probleme und Situationen bewältigt werden können (vgl. Aebli 1998, S. 353 f.) Ebenso sieht von Glasersfeld (2002, S. 24) die Rolle des Wissens nicht darin eine objektive Realität widerzuspiegeln, sondern in der Befähigung in der Erlebenswelt zu handeln und Ziele zu erreichen. Daraus folgt nach eben diesem, dass Wissen passen, aber nicht übereinstimmen muss. Wissen lässt sich als passend verstehen, wenn es sich als brauchbar oder viabel3 erwiesen hat, indem es wiederholt zur erfolgreichen Überwindung von Schwierigkeiten oder zur begrifflichen Assimilation von Erfahrungskomplexen dienlich war und sich in Bezug auf jeweils relevante Ziele bewährt hat (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 47, S. 50). Somit folgt, dass jedes Wissen (jede Wirklichkeit) eine Konstruktion derer ist, die dieses Wissen generieren, da Wahrnehmung und Erkenntnis unter keinen Umständen ontische Objekte widerspiegeln, sondern als kreative Tätigkeit des Organismus betrachtet werden können (vgl. Tomaschek, 2003, S. 27; Watzlawick 1981, S. 9). Lernende konstruieren ihr Wissen folglich durch Wahrnehmung und Abstraktion von Erfahrungen im Handeln und Überprüfung der Viabilität des Wissens an neuen Erfahrungen und Situationen.

Somit geht durch Handlung das Begreifen der Welt, die „erlebte Koinzidenz und Folgerichtigkeit von Ereignissen als Erfahrung“ (Roth 1996, S. 263) in das Gedächtnis ein. Handeln wird dabei in Anlehnung an Neuser (2013, S. 72) verstanden als alles, was einen willentlichen, manuellen oder mentalen Vollzug bedeutet, beziehungsweise als alles, was „wir in einem operationellen Bereich tun, alles, was wir in einem Diskurs hervorbringen, so abstrakt es auch scheinen mag“ (Maturana 1991b, S. 171). Rebmann und Tenfelde (2008, S. 45) deuten Handeln „als Anwendung des erworbenen Wissens“, wobei davon ausgegangen wird, dass stets die Handlungen ausgeführt werden, die vom Handelnden als erfolgreich und viabel erwartet werden. Dabei wird das Handeln jedoch nicht bloß vom Wissen, sondern auch von vorangegangenen Handlungen einerseits und von den Folgen der aktuellen Handlung für die Zukunft andererseits, bedingt, wodurch Wissen sowohl das Ergebnis einer Handlung ist, als auch dessen Bedingung (vgl. Andresen 2003, S. 393).

Durch die Verknüpfung vergangener und aktueller Erfahrungen zu Wissen und dessen Gebrauch im wirksamen Handeln entsteht die übergreifende Konstruktion des Lernens. Lernen wird dabei als ein aktiver Prozess verstanden, in dem der Organismus sein Wissen in Beziehung zu früheren Erfahrungen in komplexen Lebenssituationen konstruiert (vgl. Baumgartner & Payr 1997, S. 93). Von Glasersfeld (1997, S. 181 f.) interpretiert Piagets Lerntheorie derart, dass Lernen stattfindet,

„wenn ein Schema statt Erzeugung des erwarteten Ergebnisses zu einer Perturbation führt, und wenn die Perturbation Ihrerseits zu einer Akkommodation4 führt, die ein neues Gelichgewicht herstellt“.

Lernen erzeugt somit Konstruktionen für angemessenes Handeln in der jeweiligen Umgebung und lässt sich gleichfalls als Entwicklung subjektiver Erfahrungsbereiche interpretieren (vgl. von Aufschnaiter, Fischer & Schwedes 1992, S. 394). Anders ausgedrückt ist Lernen die Fähigkeit eines Organismus, die es ermöglicht, für jede Art von Problemen (Perturbationen) diejenigen Schemata zu speichern, die erfolgreich diese Perturbation bewältigt haben (vgl. Stangl 1989, S. 318). Daraus ergibt sich, dass Lernen und das aus Lernen entstehende Wissen instrumental zu verstehen sind (vgl. von Glasersfeld 1994, S.36).

Menschliches Erkennen setzt dabei Begriffe und Erklärungen, die durch soziale Interaktion mit anderen Personen erzeugt wurden und, um Interagieren zu können, den Gebrauch von Sprache voraus (vgl. Seiler 1994, S. 60). Der Begriff der Sprache bedeutet in Anlehnung an von Glaserfeld (1987, S. 64) einen „Gesamtkomplex aus Signalen, semantischem Nexus und Bedeutung“ und ist als System der Kommunikation nicht auf lautliche Signale begrenzt, sondern kann gleichfalls durch taktile oder visuelle Signale realisiert werden. Dabei muss allerdings berücksichtig werden, dass Sprache nicht als Mittel zur Übertragung von Informationen (denotativ) zu verstehen ist, sondern so, dass Ihre Aufgabe in der eigenständigen Orientierung des kognitiven Bereichs des Hörenden (zu Orientierenden) besteht, ungeachtet des kognitiven Bereichs des Sprechenden (Orientierenden) (vgl. Maturana 1985, S. 57). Zwar ist der Gebrauch der Sprache in der Regel zweckorientiert (Menschen sprechen mit einer bestimmten Absicht), doch sind aufgrund subjektimmanenter Wahrnehmungen die Erfahrungswelten zweier Menschen nie gleich, wodurch die Bedeutung von Wörtern eine subjektive Angelegenheit ist und es keine schlichte Informationsübertragung durch Sprache gibt (vgl. von Glasersfeld 1998, S, 211 f.). Sprache löst durch Signale einen Prozess im Hörer aus, welcher Informationen konstruiert, sodass Sprache keine Informationen übermittelt, sondern ein „selbsterzeugtes, selbstreferentielles Verstehen bzw. Begreifen beim Zuhörer“ hervorruft (vgl. Tomaschek 2003, S. 51).

Verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass durch sprachlichen Austausch zweier Individuen eine begriffliche Struktur aufgebaut wurde, die unter den gegebenen Umständen seitens des Hörenden als kompatibel (aber nicht zwingend identisch) zu dem, was der Sprechende gemeint hat, betrachtet werden kann. Hierbei erfolgt die Überprüfung der Kompatibilität jedoch nicht in einem direkten Vergleich, sondern lediglich durch das Fehlen von Reaktionen/Handlungen des Sprechenden, die der Hörende aufgrund seiner Interpretation nicht erwarten würde (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 206; von Glasersfeld 1998, S. 232). Durch sprachliche Interaktion und Kommunikation wird indes ein gegenseitiges Aushandeln von Bedeutungen ermöglicht und die sprachlich begründete Koordination des Verhaltens führt zu einem Akt des Erkennens (vgl. Maturana & Valera 2012, S. 210, S. 253). Rebmann und Tenfelde (2008, S. 53) interpretieren Erkennen als

„ein Errechnen von Invarianten [erfahrungsbedingte Konstruktion von Zusammenhängen immer gleicher Erfahrungen] im individuellen und sozialen Ordnen und Organisieren von Erfahrungen in unserer Erlebenswelt“.

Erkennen liefert damit kein Abbild der realen Welt. Es liefert lediglich eine subjektive Konstruktion, die zur Welt passt und ein begriffliches Werkzeug ist, dessen Wert sich nach der Viabilität bemisst.

2.2 Lernzyklus nach dem Kognitionsmodell

2.2.1 Überblick über den Lernzyklus nach dem Kognitionsmodell

Lernprozesse sind, wie vorangegangen geschildert, individuelle Konstruktionen und durch Perturbationen von außen zwar innervierbar, aber nicht fremdbestimmbar. Um konstruktives und vollständiges Lernen zur gewährleisten, bedingt sich die Sicherung der Anschlüsse kognitiver (Teil-)Prozesse im Modell des vollständigen Lernens (vgl. Rebmann & Tenfelde 2008, S. 53 f.). Dementsprechend lässt sich nach Rebmann und Tenfelde (2008, S. 55) eine Idealform eines Lernzyklus nach dem Konzept des vollständigen Lernens (KVL) designieren (vgl. Abb. 2), dessen Schritte im Folgenden eingehend betrachtet und am Beispiel der Auszubildenden zum/zur KFV verdeutlicht werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Lernzyklus nach dem Kognitionsmodell (Rebmann & Tenfelde 2008, S. 55)

Idealtypisch beginnen Lernprozesse hiernach mit der persönlichen Entwicklung von Vorstellungen über den gegebenen Lerngegenstand durch die Lernenden. Im zweiten Schritt werden diese Vorstellungen angereichert und ausdifferenziert sowie der Lerngegenstand eingehender erkundet. Daraufhin informieren sich die Lernenden im dritten Schritt über die Vorstellungen anderer und orientieren sich dabei gegenseitig. Im vierten Schritt strukturieren die Lernenden ihre Vorstellungen zu einem Handlungsablauf. Anschließend werden im fünften Schritt die Vorstellungen tatsächlich gestaltet und durch Verifizieren oder Falsifizieren der Vorstellungen an einem Fall kann viables Wissen generiert werden. Durch symbolische Verallgemeinerungen wird im sechsten Schritt dieses Wissen abstrahiert und Operationen werden aufgebaut. Durch Rekonstruktion abstrakter Operationen zu konkreten Vorstellungen gelingt im siebten Schritt der Transfer des erworbenen Wissens in neue Lernsituationen. In diesen neuen Lernsituationen werden im achten Schritt abermals erste Vorstellungen von einem Lerngegenstand entwickelt, wodurch der Lernzyklus in sich geschlossen ist und (auf einem höheren Niveau) von vorn beginnt (vgl. Rebmann & Tenfelde 2008, S. 55).

2.2.2 Erste Vorstellungen vom Lerngegenstand entwickeln

Im ersten Schritt des Lernzyklus entwickeln die Lernenden erste Vorstellungen über den gegebenen Lerngegenstand, bauen Begriffe auf und verknüpfen vorhandene Erfahrungswelten. Der Grundstein für diese Erfahrungswelten, welche das tragende Gerüst für alles weitere Konstruieren bildet, wird durch die konstruktiven Tätigkeiten der ersten Lebensjahre gelegt, wodurch sich jede spätere Begriffsbildung auf Vorbegriffe stützt und sich keine Struktur aus dem nichts entwickelt (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 22; Kubli 1983, S. 35). Begriffe werden dabei als innere, geistige Konstruktionen der zu verallgemeinernden Seite eines Gegenstandes (dessen Inhalt und Umfang sowie Beispiele für den Begriff) verstanden (vgl. Furth 1973, S. 190). Rebmann und Tenfelde (2008, S. 92), die Begriffe gleichfalls als „Bausteine für unser Wissen“ auffassen, legen der Konstruktion von Begriffen und Begriffssystemen das Entwicklungsmodell der kognitiven Entwicklung mit fünf Phasen nach Piaget zugrunde (vgl. Piaget & Inhelder 1973; Piaget 1975; Rebmann & Tenfelde 2008, S. 92 ff.). Hierbei wird in der ersten Phase durch die (aktive oder auch passive) Herstellung von sensumotorischen Korrelationen zwischen verschiedenen Erfahrungen (Herstellung von Wechselbeziehungen zwischen mehreren Merkmalen, Zuständen, Ereignissen oder Funktionen durch sinnliche Erfahrungen) ein Begriff des Gegenstandes entwickelt. In der zweiten Phase entstehen durch Unterscheidung und Verallgemeinerung Objektpermanenz und Invarianten. Das bedeutet in den Erscheinungen des Gegenstandes (Objekt) werden gewisse, bereits bekannte Merkmale wiedergefunden, die den aktuellen und vorangegangenen Erscheinungen gemeinsam sind und es entstehen unveränderliche Zusammenhängen immer gleicher Erfahrungen (Invarianten). Diese Invarianten bleiben erhalten, auch wenn die Erscheinungsformen des Objekts variieren oder sich dieses außerhalb des Wahrnehmungsfeldes befindet, da der Begriff des Objekts bzw. das Objekt selbst auch dann als existent betrachtet wird (Objektpermanenz) (vgl. Aebli 1998, S. 253; von Glasersfeld 1998, S. 111). Eine sprachliche Zuweisung von Symbolen zu korrelierten Erfahrungen (Objekten) erfolgt in der dritten Phase. Ein Symbol ist dabei die Repräsentation (Rekonstruktion einer vergangenen Erfahrung aus dem Gedächtnis) eines Objekts, eines Ereignisses oder eines Begriffsschemas durch ein Bezeichnendes, wie ein Wort, eine Geste oder eine Vorstellung (vgl. Stangl 2018; von Glasersfeld 1998, S. 108). Die Verknüpfung von den Gegenständen mit Vorstellungen von Raum (Existenzbereich des Objekts), Kausalität (Ursache und Wirkung) und Zeit (Koordination der Aufeinanderfolge von Ereignissen und dem Intervall zwischen Ereignissen) erfolgt in der vierten Phase (vgl. Piaget & Inhelder 1973, S. 27; Ulmann 2013, S. 14). In der fünften Phase findet die Entwicklung semantischer Netzwerke und syntaktischer Regeln für die Verknüpfung von Begriffen statt. Hierbei wird durch symbolisches Operieren in einem System syntaktisch-semantischer Regeln abstraktes, persönliches und auf individuellen Erfahrungen gründendes Wissen konstruiert (vgl. Rebmann & Tenfelde 2008, S. 103).

Am Beispiel der Auszubildenden zum/zur KFV bedeutet dies, dass die Auszubildenden mit einem neuen Lerngegenstand, beispielsweise im zweite Ausbildungsjahr mit dem Produkt Lebensversicherung5 , konfrontiert werden. Die Auszubildenden haben dabei (durch Alltagserfahrungen oder ihr bisheriges Wissen über Versicherung im Allgemeinen) häufig bestehende Vorstellungen darüber, was eine Lebens-/Versicherung ist und es bestehen bereits Erfahrungen/Strukturen darüber, was die in der Lebensversicherung zugrundeliegenden Begrifflichkeiten, wie Todesfall und Leistung, bedeuten. Es werden dann erste, tiefergreifende Vorstellungen darüber, was explizit eine Lebensversicherung ist, entwickelt: welche Risiken gibt es (Todesfall, Erlebensfall, Berufsunfähigkeit), welche Funktionen haben Lebensversicherungen (Hinterbliebenenabsicherung, Altersabsicherung, Berufsunfähigkeits-absicherung, Pflegeabsicherung, Vermögens- und Kreditabsicherung) usw. (vgl. Nguyen & Romeike 2013, S. 223 ff.). Dabei werden die vorhandenen Erfahrungen mit den neuen Erfahrungen verknüpft, bekannte Merkmale einer Versicherung werden wiedergefunden und Unterschiede zwischen bisherigen und aktuellen Erfahrungen und den verschiedenen Versicherungsprodukten entdeckt. Es erfolgt eine sprachliche Zuweisung von Wörtern/Bezeichnungen, die den Auszubildenden ermöglichen zwischen Formen der Lebensversicherung (bspw. Risikolebensversicherung und kapitalbildende Lebensversicherung) zu unterscheiden und es werden erste Beziehungen zwischen den Merkmalen (semantische Netzwerke) gebildet.

2.2.3 Vorstellungen vom Lerngegenstand anreichern und ausdifferenzieren

Im zweiten Schritt werden diese ersten Vorstellungen und Begrifflichkeiten angereichert und in die Wirklichkeit der Lernenden assimiliert und akkommodiert. Die Wirklichkeit des Lernenden kann in Anlehnung an von Glasersfeld (1997, S. 47) als ein „Netzwerk von Begriffen, die sich in der bisherigen Erfahrung des Erlebenden als (…) viabel erwiesen haben“ verstanden werden. Wird mit einer Wahrnehmung, aufgrund einer positiven Erfahrung, eine bestimmte Handlung assoziiert, entwickelt sich eine Art Erkennungsschablone, die aus einer Reihe elementarer Eigenschaften und einzelnen Sinnessignalen besteht (vgl. von Glasersfeld 2015, S. 85). Erkennt der Lernende die neue Situation oder Erfahrung als jene, mit der bereits eine spezifische Handlung oder Operation assoziiert wurde, wird diese neue Erfahrung in bestehende, organisierte Wissens- oder Verhaltensmuster (Schema) eingeordnet (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 168). Durch diese Assimilation werden somit neue Erfahrungen und Erlebnisse in das bereits Bekannte, in die Wirklichkeit des Lernenden eingeordnet. Von Glasersfeld (1997, S. 180) interpretiert Piaget dabei derart, dass die Konstruktion eines Schemas aus drei Teilen besteht; der Wiedererkennung einer bestimmten Situation, der Verknüpfung einer bestimmten Aktivität mit dieser Art des Gegenstandes und der Erwartung eines bestimmten Ereignisses. Trifft jedoch nicht das erwartete Ereignis ein, kommt es zu einer Perturbation, die zu verschieden Arten von Reaktionen führen kann. Neu wahrgenommene Merkmale können zu einer Veränderung des Schemas führen oder ein neues Erkennungsmuster kann gebildet werden, welches das neue Merkmal als zentralen Baustein inkludiert und daraus ein neues, eigenes Schema formt. In beiden Fällen findet eine Akkommodation, eine Anpassung des Schemas an die besondere Situation, statt (vgl. Bringuier 2004, S. 76; von Glasersfeld 1998, S. 117 f.).

[...]


1 Generisches Maskulinum, nachfolgend sind Lernende (Frauen) mitinbegriffen.

2 vgl. Abschnitt 2.2.3

3 vgl. Abschnitt 2.2.6

4 vgl. Abschnitt 2.2.3

5 Alle im Weiteren genannten Merkmale/Beschreibungen einer Lebensversicherung sind aufgrund der Anschaulichkeit exemplarisch und stark vereinfacht dargestellt.

Ende der Leseprobe aus 56 Seiten

Details

Titel
Vollständiges Lernen durch Rollenspiele in der Ausbildung zum Kaufmann/ zur Kauffrau für Versicherungen und Finanzen
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
56
Katalognummer
V464321
ISBN (eBook)
9783668934320
ISBN (Buch)
9783668934337
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rollenspiele, Vollständiges Lernen, Kaufmann/-frau für Versicherungen und Finanzen
Arbeit zitieren
Janina-Simone Henschel (Autor:in), 2018, Vollständiges Lernen durch Rollenspiele in der Ausbildung zum Kaufmann/ zur Kauffrau für Versicherungen und Finanzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/464321

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