Die Benutzung von Märchen als Lehrmaterial. Besteht eine Verbindung zu persönlichen Erfahrungen der Lehrpersonen?


Bachelorarbeit, 2014

78 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

Einleitung

Theoretischer Forschungsteil

1. Begriffsbestimmung und Abgrenzung von benachbarten Gattungen
1.1. Märchen
1.2. Sage
1.3. Legende
1.4. Mythos
1.5. Fabel
1.6. Volks- und Kunstmärchen

2. Zur Geschichte des Märchens

3. Die Gebrüder Grimm

4. Funktionen und Merkmale von Märchen
4.1. Themen und Motive
4.2. Ablauf und stilistische Mittel
4.3. Personen und Dinge
4.4. Sprachliche Mittel
4.5. Bilder und Symbole

5. Märchenforschung und Märchentheorien
5.1. Stilanalyse der Märchen nach Max Lüthi
5.2. Entwicklungspsychologische Analyse nach Bruno Bettelheim

6. Kindliche Rezeption 31 Empirischer Forschungsteil

7. Die Methodik
7.1. Die qualitative Sozialforschung
7.2. Die Erhebungsmethode
7.2.1. Das qualitative Interview
7.2.2. Das Experteninterview
7.2.3. Das narrative Interview
7.3. Das Auswertungsverfahren

8. Die Datengewinnung
8.1. Interview 1
8.2. Interview 2
8.3. Leitfadeninterview
8.4. Trankriptionsregeln

9. Auswertungsanalyse
9.1. Auswertung Interviews in Tabellenform
9.2. Analyse: Interview 1
9.3. Analyse: Interview 2
9.4. Reflexion

Conclusio

Literaturverzeichnis

Abstract

Die vorliegende Bachelorarbeit untersucht die Umsetzung der Märchen im Unterricht und beruht auf den Erfahrungen des Lehrpersonals. In einem ersten Schritt werden theoretische Grundlagen wie die Begriffsbestimmung, die Geschichte, Ziele und Funktionen der Märchen, Märchenforschung sowie die Wirkung der Märchen auf Kinder näher beleuchtet. Über einem theoretischen Zugang hinaus beruht die Arbeit auf einer empirischen Untersuchung, bei der narrative Interviews mit Lehrpersonen durchgeführt wurden. Diese wurden ausgewertet und analysiert. Es wird sich zeigen, dass Märchen heutzutage in der Schule noch vermittelt werden und eine erhebliche Rolle im Alltagsleben der Kinder spielen.

Einleitung

„Es war einmal, es wird eines Tages sein:

das ist aller Märchen Anfang.

Es gibt kein Wenn und kein Vielleicht,

der Dreifuss hat unbestreitbar drei Füße.“

(Märchenanfang aus der Bretagne)

Der bretonische Erzähler möchte andeuten, dass, was einmal war, auch immer wieder kommen kann. Humorvoll wird die Bestimmtheit und Sicherheit des Märchens beschrieben, die die eigene Welt zeichnet und vor lauter Phantasie nur so sprüht. Das Märchen ist der Ort der Phantasie an dem alles erlaubt und nichts verboten ist. Die Schule hingegen ist klar eingeteilt und bringt eigene Regeln mit sich an die man sich halten muss. Wie treten zwei, auf den ersten Blick, solch unterschiedliche Paradigmen miteinander in Verbindung?

Die Schuljahre bestimmen einen großen Teil unserer Kindheit und somit den Ort und die Zeitspanne, wo man viel lernt. Das Binom Kindheit/Schule prägt somit ein ganzes Leben. Eine Möglichkeit den Kindern den Lernstoff auf eine spielerische Art und Weise zuzuführen ist das Einsetzen von Märchen. Märchen beeinflussen das Verhalten und vermitteln Normen und Werte. Sie haben heute einen festen Platz im Bildungsprozess und sind nicht mehr aus pädagogischen Institutionen weg zu denken. Märchen können als eröffnende und pädagogische Prozesse bezeichnet werden. Sie erfreuen Leser oder Zuhörer und sind sehr phantasieanregend und alleine deswegen pädagogisch wertvoll.

Die vorliegende Arbeit handelt von Märchen und deren Umsetzung in der Schule aufgrund der Erfahrungen des Lehrpersonals.

Im Rahmen der Bachelorarbeit soll herausgefunden werden, wie erwachsene Personen auf die eigene Kindheit mit ihren Erfahrungen zurückblicken und wovon sie geprägt worden ist. Anschließend soll untersucht werden, ob und wie das Lehrpersonal die eigenen Erfahrungen im Unterricht umsetzt und thematisiert. Die Forschungsfrage lautet somit: „Werden Lehrer oder Lehrerinnen von eigenen Erfahrungen in Bezug auf Märchen geprägt und setzen sie diese in ihrem Unterricht ein?“ Diese wissenschaftliche Arbeit besteht aus einem theoretischen und aus einem empirischen Forschungsteil.

Um mit dem Begriff Märchen zu arbeiten, ist es zunächst notwendig, sich mit der literarischen Gattung auseinander zu setzen und deren Geschichte, Besonderheiten und Merkmale kennen zu lernen. Dieser Abschnitt hat deshalb eine wichtige erklärende Funktion für den Inhalt dieser Arbeit.

Im theoretischen Forschungsteil wird zunächst versucht den Begriff des Märchens zu definieren, zu analysieren sowie ihn von benachbarten Gattungen wie Fabel, Legende, Sage und Mythus abzugrenzen. In einem nächsten wird die Geschichte und der Werdegang des Märchens beschrieben und untersucht. Ferner soll auf die Gebrüder Grimm eingegangen werden, da sie einen großen Beitrag in Bezug auf Märchen und Märchenforschung geleistet haben. In einem vierten Schritt werden die Funktionen und die Merkmale eines Märchens zusammengefasst. Diese werden in verschiedene Kategorien wie Themen und Motive, Ablauf und stilistische Mittel, Personen und Dinge, sprachliche Mittel, Bilder und Symbole aufgeteilt um einen klaren Überblick zu erarbeiten. Anschließend werden Märchenforschung sowie zwei Märchentheorien analysiert und beschrieben. Die Märchentheorien auf die näher eingegangen wird, sind einerseits die Stilanalyse der Märchen nach Max Lüthi und andererseits die entwicklungspsychologische Analyse nach Bruno Bettelheim. Beide Forscher haben einen erheblichen Beitrag zur Märchenforschung geleistet und sind somit unerlässliche Theoretiker für die Erziehungswissenschaften und die Pädagogik. Als nächstes wird auf die kindliche Rezeption der Märchen, also auf die Wirkung der Märchen bei Kindern eingegangen. Märchen haben nicht die gleiche Wirkung bei allen Individuen und so ist es von großer Bedeutung, dass versucht wird einige von diesen möglichen Rezeptionen näher zu betrachten und zu beschreiben. Die Grausamkeit in den Märchen sowie die damit verbundenen Angstgefühle der Kinder und das Märchenalter werden beleuchtet und in Frage gestellt.

Im zweiten Hauptteil wird der empirische Forschungsteil beschrieben. Bei der Studie handelt es sich um eine qualitative Forschungsmethode. Zunächst wird die Methodik erläutert, in der die qualitative Sozialforschung, die Erhebungsmethode und das Auswertungsverfahren beschrieben und näher betrachtet werden. Es werden qualitative Interviews durchgeführt, wobei es sich um ein Experteninterview und gleichzeitig auch um ein narratives Interview handelt. Beide Formen werden erläutert um ein besseres Verständnis zu ermöglichen. Die Interviews werden transkribiert um sie so in schriftlicher Form festzuhalten (siehe Anhang). Die Auswertung erfolgt nach dem Verfahren von Mayring (2010). Es werden zwei Interviews durchgeführt, die bei der Auswertung zuerst paraphrasiert, dann generalisiert, danach reduziert (selektiert und gebündelt) und anschließend kategorisiert werden. Nach der Auswertung werden beide Interviews zunächst in einer Einzelfallanalyse betrachtet. Anschließend werden sie miteinander verglichen und Praxis und Theorie werden miteinander verbunden, soweit dies möglich ist.

In einem Fazit wird ein Überblick über die Arbeit sowie deren Forschungsergebnisse erarbeitet.

Anzumerken bleibt letztlich, dass der begrenzte Rahmen der Forschungsarbeit das Eingehen auf alle Aspekte der Forschung nicht ermöglichte und somit lediglich eine Auswahl dieser Thematik getroffen werden konnte.

Theoretischer Forschungsteil

1. Begriffsbestimmung und Abgrenzung von benachbarten Gattungen

1.1. Märchen

Der Begriff des Märchens ist aus der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken und spielt eine wichtige Rolle. Wenn man das Wort ‚Märchen’ hört, assoziiert man es sofort mit Erzählungen wie „Schneewittchen“, „Hänsel und Gretel“, „Rotkäppchen “ oder „Die Schöne und das Biest“. Aber was genau ist ein Märchen? Um diese Frage effizient beantworten zu können, ist es wichtig, den Begriff zu klären.

„Die deutschen Wörter >Märchen<, >Märlein< (mhd. maerlîn) sind Verkleinerungsformen zu >Mär< (ahd. [althochdeutsch] mârî, mhd. maere [...], Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht), bezeichneten also ursprünglich eine kurze Erzählung“ (Lüthi, 1979:1). Ursprünglich besaß der Begriff des Märchens eine positive Bedeutung. Lüthi weist jedoch darauf hin, dass der Begriff einer Bedeutungsverschlechterung unterlag und als Bezeichnung für unwahre und erdachte Geschichten gebraucht wurde. Beispiele für den negativen Bedeutungswandel sind Begriffe wie „lügemaere“ oder „entenmär“. So entstanden Äußerungen wie: „Erzähl mir doch keine Märchen“, die man im heutigen Sprachgebrauch immer noch hört (Lange, 2005:8).

Ende des 18. Jahrhunderts fand unter französischem Einfluss ein weiterer Bedeutungswandel statt, diesmal in einer positiven Perspektive. Ein Märchen war nun „eine phantastische Erzählung, die mündlich überliefert war“ (ebd). Positive Redewendungen wie „so schön wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht“ betonen die positive Wertung des Begriffes ‚Märchen’ (Lüthi, 1979:1). Bei Märchen handelt es sich also um ‚unwahre Geschichten’ die trotzdem versuchen, den Menschen die Wirklichkeiten des Lebens zu vermitteln.

Verena Bertignoll betont die „innere Wahrheit“ der Märchen, wie sie von Wesselski bezeichnet wurden. Ihrer Ansicht nach sind Märchen unter anderem Bilder, die seelische Wahrheiten darstellen, unabhängig davon, ob sie auf wahre Begebenheiten zurückzuführen sind oder nicht (Wesselski, 1931, zit. nach Bertignoll, 2006:18). Wie Max Lüthi formuliert, sind: „Märchen [...] nicht in einem äußeren, aber in einem inneren Sinne wahr. Sie sind nicht realistisch, sie spiegeln nicht oder nur bedingt äußere Wirklichkeit, wohl aber innere. Wenn sie nicht Wirklichkeit geben, so geben sie doch Wahrheit“ (Lüthi 1969:10). Das Märchen ist in dem Sinne also unbestreitbar und mit dem Wunderbaren verwoben (A. Löwis of Menar, 1927:X, zit. nach Lüthi, 1968: 6).

Sowohl das europäische Volksmärchen, wie auch andere literarische Gattungen vereinen Übernatürliches und Wundersames in ihren Geschichten. Im Folgenden werden kurz die Begriffe Sage, Legende, Mythus und Fabel näher betrachtet um sie voneinander abzugrenzen.

1.2. Sage

Nach Max Lüthi sind Sagen Erzählungen, die über wirkliche Vorgänge berichten und sich dennoch, aufgrund von Mund-zu-Mund Erzählungen oder bewussten dichterischen Gestaltungen, von der Wirklichkeit entfernt und in einer Umformulierung erhalten haben (1979:6). Märchen und Sagen unterscheiden sich im Hinblick zur Wirklichkeit: „Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer“ (Grimm 1865:V, zit. nach Lüthi, 1979:8). Die Sage geht auf die Realität zurück und bezieht sich im Gegensatz zum Märchen häufig auf Ort-, Zeit-, und Personennamen. „Das erzählende Volk glaubt an seine Sagen [...], während das Märchen, wie manche ironische Schlußformel andeutet, ohne den Anspruch auf Glauben erzählt wird“ (Lüthi, 1979:8). Die Sage weist Menschen in ihre Grenzen und bestraft die Übermütigen. Die Personen und Charaktere einer Sage besitzen keine übernatürlichen Kräfte sondern leben in einer reellen Welt und sind vom Jenseitigen getrennt (Poser, 1980:28f).

1.3. Legende

Auch in Legenden handelt es sich um übernatürliches Geschehen, welches aber in Vergleich mit der Sage weitgehend unbestimmt bleibt. Sie wird in einem religiösen Zusammenhang gedeutet und gestaltet (Lüthi, 1979:10). „Das Märchen nimmt für den Menschen Partei, während in der Legende das Gewicht auf den religiösen Bereich verlagert ist“ (Poser, 1980:33). Die Legende suggeriert, dass die Dimension des Religiösen der Dimension des Menschlichen gleichsam widerspreche, das ist Ideologie pur und Eurozentrismus pur, eine Haltung die Dies– und Jenseitiges prinzipiell splittet. Das Märchen und die Legende sind durch das Wunder miteinander verbunden. Im Märchen gelangt der Mensch durch das Wunder zum Glück und zum Erfolg, in der Legende wird das Wunder aus dem religiösen Bereich bewirkt und gedeutet (Pöge-Adler, 2011:39ff).

In Sagen, Legenden oder in Märchen werden die Vorgänge und Geschehen auf Menschen bezogen:

- In der Sage beziehen die Vorgänge sich auf den vom Außerordentlichen Getroffenen,
- in der Legende auf den Träger des Sakralen
- und im Märchen auf die handelnde Figur, die mit dem Wunder verbunden ist (Lüthi, 1979:11).

1.4. Mythos

Im Mythos dagegen handelt es sich fast ausschließlich um Götter oder/und Halbgötter, die in Gestalt von Menschen oder/und Tieren auftreten können. Der Mythos wählt seinen Standpunkt gerne im „Ganz Anderen“ und hebt damit das Geschehen aus dem Irdischen und aus der Zeitlichkeit heraus (ebd.). Im Mythos wird die Welt und deren Entstehung meistens religiös gedeutet. Im Märchen dagegen wird keine Deutung gegeben, sondern nach Deutung verlangt. Der religiöse Bezug sowie das Göttliche und Heroische des Mythos unterscheidet ihn vom Märchen, da dieses seine Helden unter gewöhnlichen Menschen auswählt (Poser, 1980:31).

1.5. Fabel

Die Grenze zwischen Tiermärchen und Fabeln ist schärfer zu ziehen. In beiden Erzählungsarten handelt es sich bei den Figuren um sprechende und handelnde Tiere, Pflanzen, Dinge oder sogar Körperteile. Die Vorgänge und Figuren werden bei der Fabel nicht als so wichtig genommen, sondern werden wegen ihrer praktischen Bedeutung erfunden (Lüthi, 1979:13). Die Fabel hat eine parabolische Struktur bei der die Tiere Menschen verkörpern. Die Fabel muss entschlüsselt und auf die Realität übertragen werden (Poser, 1980:34). Die Fabel nutzt die Tiere um etwas zu demonstrieren, während das Märchen „seinen“ Tieren ein gewisses Eigenleben lässt (Poser, 1980:35).

1.6. Volks- und Kunstmärchen

Märchen sind nicht nur von benachbarten Gattungen abzugrenzen. Man kann sie auch in zwei Arten unterteilen, in Volks- und Kunstmärchen. Die bekanntesten Märchen sind die Volksmärchen, die einer mündlichen Überlieferung abstammen. Die Frage nach dem Ursprung des Volksmärchens wird immer neu gestellt und ist bis heute nicht geklärt (Lüthi, 1968:5). Die heutigen Erzählungen sind im Laufe der Zeit verändert und gekürzt worden. Sie wurden kindgerechter gemacht und kennzeichnen sich durch eine einfache Sprache und Handlungsstruktur aus. In den Volksmärchen geht es um das Streben nach Glück. Sie unterhalten ihre Leser auf eine spielerische und auf eine bildliche Art und Weise. Sie beinhalten eine Botschaft, die dem Leser etwas vermitteln soll. Kunstmärchen sind eine andere Art von Märchen, können aber Motive von Volksmärchen beinhalten. Ihre Geschichten sind oft länger als die der Volksmärchen, doch auch hier geht es darum, dem Leser etwas mit auf den Weg zu geben. Die Inhalte von Kunstmärchen sind oft realitätsnah und nicht selten wird der Ort der Handlung bekannt gegeben (Klotz, 2002:7ff ). Die Sprache eines Kunstmärchens ist bewusst künstlerisch ausgestaltet. Im deutschen Sprachraum sind vornehmlich die Märchen von Hans Christian Anderson bekannt. Folgende Märchen sind Kunstmärchen: „die Prinzessin auf der Erbse“, „das hässliche Entlein“, „die Schneekönigin“ oder „das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (Zitzlsperger, 2007:87).

Nachdem der Begriff „Märchen“ näher erklärt und von benachbarten Gattungen differenziert wurde, wird im Folgenden die Geschichte und die Entwicklung des Märchens etwas genauer betrachtet.

2. Zur Geschichte des Märchens

Das Märchen hat Jahrhunderte lang anhand von mündlichen Überlieferungen von Generation zu Generation überlebt. Bis heute gibt es keine konkreten wissenschaftlichen Belege dafür wann, wie und wo Märchen entstanden sind und auch Alter und Herkunft des Märchens sind bis heute nicht geklärt (Reuschel, 1985:4). „Wann und wo diese Märchen entstanden, ist dann eine Frage, die wir wohl nie werden beantworten können, da ihre Entstehungszeit oft in eine Zeit zurückreichen mag, in die der Menschengeist nicht vordringen kann“ (Rittershaus, 1902:XLIII, zit. nach Aarne, 1985:52). Max Lüthi weist darauf hin, dass verschiedene Forscher Entstehungstheorien des Märchens in Verbindung mit der Steinzeit entwickelt haben; andere Forscher aber glauben, die meisten Märchen wären im Mittelalter entstanden. Genauso umstritten ist die Theorie, welche die Herkunft des Märchens in Ägypten, Babylon oder Kreta vermutet. Trotz dieser Ungewissheit über den Ursprung des Märchens, gibt es verschiedene Anhaltspunkte. Sowohl in Ägypten wie in Griechenland und Rom und entdecke man zum Beispiel Texte auf Papyrus mit märchenhaften Elementen (1979:40). Märchen wären also historisch geprägt. Nach Max Lüthi findet man in der Literatur besonders im alten Griechenland und Rom Hinweise auf Kinder- und Ammenmärchen und Altweibergeschichten (ebd).

Manche Forscher sprechen sich für einen indischen Ursprung aus. So macht Antti Aarne auf einen Gedanken des Indologen Theodor Benfey aufmerksam nachdem beinahe alle Märchen aus Indien stammten und ihre Wurzeln im Buddhismus hätten. Nach dieser „indischen Theorie“ wären sie über die buddhistische Literatur über die ganze Welt verbreitet worden. Nur die Tiermärchen, die in den Fabeln des griechischen Dichters Aesop ältere Vertreter haben als die indischen, haben sich in entgegengesetzter Richtung bewegt, von Griechenland nach Indien (Aarne, 1985:45; zit. nach Benfey 1859:XXIff). Dagegen verlegt Wesselski die Entstehung des Märchens erst ins späte Mittelalter und bezeichnet das Märchen der Gebrüder Grimm „das Eselein“ als das vermutlich erste Märchen in Europa das er allerdings auch aus einer indischen Quelle ableitet (Lüthi, 1979:44).

Über die Existenz von Märchen in vorgeschichtlicher Zeit kann man keine Vermutungen anstellen, da es keine Quellen gibt. Im Altertum jedoch konnte man schon Geschichten mit märchenhaften Spuren finden. Diese auf Papyrus aufgezeichneten Erzählungen waren jedoch keine Volksmärchen, sondern hauptsächlich nur für die Schicht der Gebildeten gedacht und eher in das Mythenhafte anzusiedeln (Aarne, 1985:56).

Auch die aus dem Mittelalter überlieferte Literatur enthält märchenartige Elemente, die als Hinweis auf die Existenz des Volksmärchens aufgefasst werden können. Schon im frühen Mittelalter fand man Geschichten, die als Schwankmärchen bezeichnet werden, wie zum Beispiel die Geschichte vom Meisterlügner. Gegen 1200 entstanden Geschichten von Lüge und Wahrheit, die bekannten Bilder von Todeszeichen, warnenden Tiere, Hindernisflucht und Unheilsprophezeiungen enthielten (Lüthi, 1979:41). Im späten Mittelalter ließen sich ebenfalls Fabeln und Schwänke finden, die märchenhafte Elemente, Motive und Abläufe von Märchen beinhalten (ebd). Sogenannte keltische Märchen haben die Literatur des Mittelalters sehr stark beeinflusst, denn diese knüpfen an Volkssagen und an Volksmärchen an. Sie beinhalten schon den typischen Hang zum Wunderbaren und Phantastischen. Diese spiegeln sich auch in den französischen Versnovellen und in der Artusepik wieder (Lüthi, 1979:45).

In der Neuzeit und vor allem im 16. Jahrhundert begannen die Quellen reichhaltiger zu fließen und man fand immer häufiger Märchenmotive in den Erzählungen. Die ersten Buchmärchen traten auf und enthielten teilweise Stoffe, die bis heute populär geblieben sind (Karlinger, 1983:15). Märchennamen wie „Aschenputtel“ und „Aschenbrödel“ tauchten immer mehr auf. Der Italiener Straparolas veröffentlichte eine Sammlung von 73 mündlich überlieferten Erzählungen, von denen 21 als Märchen betrachtet werden können. Die Sammlung beinhaltet zum Beispiel die Geschichte vom Drachentöter, vom gestiefelten Kater, vom Tierprinzen oder vom Zauberlehrling (Lüthi, 1979:47f). Der italienische Schriftsteller Basile hat mit seinem Werk „Pentamerone“ einen sehr wichtigen Beitrag zum Märchenforschung geleistet. Seine Märchen sind in einem italienischen Dialekt aufgezeichnet, in einer Sprache, die oft komische und pompös wirkt. Die Beiträge von Straparolas und Basile haben später auch die Gebrüder Grimm beeinflusst (Von der Leyen, 1958:9). Die Brüder entdeckten später im Vergleich mit diesen Beiträgen Parallelen zu ihren eigenen Märchen, unter anderem bei Tischleindeckdich, Dornröschen, Rapunzel, Aschenputtel und Schneewittchen (Lüthi,1979:48).

Einige Jahre später, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, erschienen die „Contes de ma Mère l’Oye“ von Charles Perrault, einer der wichtigsten Märchensammlungen vor den Gebrüder Grimm. „Seine Märchen stammen aus dem Volke, aber Perrault hat sie auf kunstvolle Weise erzählt, voll Anmut und Feinsinnigkeit, und diese Märchen haben wieder auf das Volk zurückgewirkt“ (Von der Leyen, 1958:10). Charles Perrault hat acht Erzählungen herausgegeben, von denen sieben echte Volksmärchen sind. Dies sind Rotkäppchen, Blaubart, der gestiefelte Kater, Frau Holle, Aschenputtel und der Jüngling beim Menschenfresser. Perrault hat die Märchen in einer einfachen Sprache erzählt, die keine Ausschmückungen oder Erweiterungen beinhaltet (Lüthi, 1979:49). In Frankreich entstanden danach immer neue „Märchen“, die von Frauen geschrieben wurden und in 41 Bänden unter dem Namen „le Cabinet des fées“ veröffentlicht wurden (Von der Leyen, 1958:10). Sie stammten aus einer Kombination von orientalischen Erzählungen und eigenen Erfahrungen und waren ungemein beliebt. Im 18. Jahrhundert - wenige Jahre nachdem Perrault seine Märchen veröffentlicht hatte - hat Jean Antoine Galland, , zehn Bände mit dem Namen „Tausend und eine Nacht“ veröffentlicht, die einen sehr großen Erfolg hatten. Nach „Mille et un jour“, ein fünf bändiges Werk von Pétis de la Croix und Le Sage, folgte ein Ansturm auf pseudoorientalische Schriften, in dem die Schriftsteller eigene Erfahrungen und heimische Volkserzählungen einbanden. Diese Geschichten und die Feengeschichten waren sehr gut geeignet um das Bedürfnis des Menschen nach Phantastischem und Wunderbarem zu befriedigen (Lüthi, 1979:50f).

Im 19. Jahrhundert, genau im Jahr 1812 kam das Buch der gesammelten „Kinder und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm heraus. Dies war zweifellos das entscheidendste Ereignis in der Geschichte der deutschen Volksmärchen. „Das lange Zeit so verachtete Volksmärchen [...] war endgültig buchfähig geworden, es war aus der Kinder- und Gesindestube ins gedruckte Hausbuch aufgestiegen; nach dem Grimmschen Vorbild begann man bald auch in anderen Ländern Volksmärchen aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Gleichzeitig aber wurde damit der [...] mündlichen Überlieferung ein kräftiger Stoß versetzt, das ins Buch gerettete Märchen tat das seinige, der mündlichen Erzählkultur weiteren Boden zu entziehen, es trat immer mehr an die Stelle des von Generation zu Generation, von Erzähler zu Erzähler überlieferten Märchens“ (Lüthi, 1979:52). Das Besondere an den Märchen der Gebrüder Grimm ist, dass die Märchen so formuliert sind, wie das Volk sie erzählte. Es ging den Brüdern nur darum, die Mittler zu sein und das Erzählte so weiterzugeben, wie sie es aus dem Munde von märchenkundigen Männern oder Frauen gehört hatten (Von der Leyen, 1958:14). Auf die Gebrüder Grimm und deren Entwicklung wird im folgenden Kapitel dieser Arbeit näher eingegangen.

3. Die Gebrüder Grimm

Das Feld der Grimm’schen Märchenbearbeitungen ist zu groß, als dass es hier im Ganzen vorgestellt werden könnte. Stattdessen wird ein kurzer Einblick in das Leben der Gebrüder Grimm gegeben, sowie die Entwicklung ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen beschrieben.

Die „Gebrüder Grimm“ wurden in Hanau bei Frankfurt als älteste von neun Geschwistern geboren; Jacob im Jahre 1785, Wilhelm 1786. Die Brüder Grimm verband eine einmalige Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Der Vater Philipp Wilhelm Grimm war Jurist und arbeitete als Verwaltungsbeamter. 1796 stellte der frühe Tod des Vaters die Familie vor schwerwiegende Probleme. Die Amtswohnung musste aufgegeben werden und Wilhelm und vor allem Jacob übernahmen in sehr jungen Jahren mit großem Ernst die Verantwortung über die Familie. Schul- und Universitätsbesuch in Kassel waren nur durch Hilfe einer Schwester der Mutter möglich (Rölleke, 2004:30).

In den Jahren 1802/03 kam der entscheidende Anstoß mit der Beschäftigung der Volkspoesie. Ein Professor der Brüder, Friedrich Carl von Savigny führte sie in den Kreis der Romantiker ein. Er stellte den Brüdern seinen Schwager Clemens Brentano und dessen Schwager Achim vom Arnim vor, welche die Gebrüder für die romantische Mittelalterrezeption, unter anderem den Minnegesang begeisterten (Rölleke, 2004:31f). Von 1806 bis 1808 arbeiteten die beiden mit Arnim und Brentano an der romantischen Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ und gewannen so einen Einblick in das Sammeln und Bearbeiten von volkstümlichen Texten (Rölleke, 2004:32ff). Es war der Plan Arnims und Brentanos, die Liedersammlung durch eine Märchensammlung zu ergänzen. Als Brentano die ersten Ergebnisse der Gebrüder Grimm forderte, schickten sie ihm das Konvolut der Originalschriften, ließen es aber davor vorsichtshalber abschreiben. Danach ließ Brentano nichts mehr von sich hören und so entschlossen sich die Brüder 1811 zu eigener Verwendung des rasch wachsenden Materials (Rölleke, 2004:80).

Jacob und Wilhelm Grimm begannen selbst, die überlieferten Texte zusammenzutragen. Rölleke schreibt: „Die Grimms sind keineswegs märchensammelnd über Land gezogen und schon gar nicht zu einfachen Leuten, sondern sie ließen die Märchenbeiträger fast ausschließlich zu sich kommen und gerieten dabei an eloquente, gebildete junge Damen aus gutbürgerlichen Kreisen“ (Rölleke, 2004:78). Die Familien Hassenpflug und Wild aus Hessen lieferten zahlreiche Märchen zur Grimm’schen Sammlung hinzu. Vor allem Jacob forderte eine wörtliche Aufzeichnung mit einer möglichst geringen Nachbearbeitung, die Märchen sollten lediglich schriftlich festgehalten werden (Brüder Grimm, 2005:133). In der Vorrede zur ersten Auflage der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die Weihnachten 1812 veröffentlicht wurde, heißt es: „Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden“ (ebd). Des weiteren schreiben sie: „Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten“ (Brüder Grimm, 2005:134).

Die Kritiken in Bezug auf das Werk richteten sich auf zwei Punkte. Zum einen glaubte man, dass die Sammlung nicht kindgemäß genug sei und zum anderen wurde die zu wenig kunstvolle Diktion kritisiert (Rölleke, 2004:85). Daraufhin feilten die Gebrüder Grimm an den Texten, bearbeiteten sie stilistisch und passten sie der Zeit und deren sittlichen Normen an (Karlinger, 1983:49ff). So fanden sie einen eigenen originellen Volksmärchenton, der den ungewöhnlichen Erfolg der Kinder- und Hausmärchen bedingte (Rölleke, 2004:86). Die Sprache der Erzählungen der Brüder wechselte zwischen der Freude am Detail und breiten Schilderungen. Bald wurde den beiden klar, dass solche Märchen für Kinder wie geschaffen sind, und so wurde eine gewisse Ethnisierung und Pädagogisierung vorherrschend (Schaufelberger, 1987:19). Ein zweiter Band der Kinder- und Hausmärchen wurde 1815 veröffentlicht und enthält 156 Titel. Im Jahr 1819 wurde die zweite Auflage der Kinder- und Hausmärchen gedruckt, 1822 erschien der dritte Band und die kleine Ausgabe erschien 1825 (Rölleke, 2004:94ff).

Wilhelm gründete erst 1825 eine Familie, während Jacob unverheiratet blieb. 1840 erschien die dritte Ausgabe der Grimm’schen Märchen und weitere folgten. 1841 wurden die Brüder in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen (Schede, 2004:131ff). Im selben Jahr erhielt Jacob den Orden der französischen Ehrenlegion und einige Monate später den Orden pour le mérite. Er konnte sich jedoch kaum über seine Verdienste freuen, da sein Bruder Wilhelm schwer erkrankte. Um 1850 beendeten die Brüder ihre Vorlesungen an der Universität, gaben ihre Dozententätigkeit jedoch nicht auf und erfüllten ihre Zeit als Forscher und Gelehrte (Schede, 2004:157ff). Wilhelm starb 1859 im Alter von 73 Jahren im Beisein seiner Familie in Berlin. Jacob starb 1863 im Alter von 78 Jahren, ebenfalls in Berlin (Schede, 2004:178ff). Die bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm sind beispielsweise Aschenputtel, Tischleindeckdich, die Gänsemagd, Dornröschen, der Froschkönig, Frau Holle, Hänsel und Gretel, Schneewittchen, der gestiefelte Kater und viele mehr.

Nachdem die Wichtigkeit der Gebrüder Grimm für die Niederschreibung der Märchen aber auch deren Rezeption in der Gesellschaft analysiert und beschrieben wurden, wird im Folgenden versucht verschiedene Merkmale und Funktionen von Märchen heraus zu filtern, damit der Begriff präziser eingegrenzt wird.

4. Funktionen und Merkmale von Märchen

Die Bezeichnung der „Kinder- und Hausmärchen“ durch die Gebrüder Grimm lässt annehmen, dass diese Erzählungen nur für Kinder gedacht waren. Die Volksmärchen wurden jedoch von Erwachsenen für Erwachsene gestaltet und dienten als Erzählungen und Unterhaltungen für Arme (Röhrich, 2002:360 ff).

Mehrere Wissenschaftler aus den Bereichen der Psychologie, der Volkskunde, der Religionskunde und der Soziologie versuch t en die Frage nach Sinn und Funktion des Märchens im System menschlichen Daseins zu klären. ). Lange Zeit lautete die Antwort „ausschließlich Unterhaltung“ (Lüthi, 1968:76, zit. nach Panzer, 1926:40). Sogar bis heute ist eine genaue Antwort auf die Frage nicht gegeben (Lüthi, 1968:76).

Über die Jahrhunderte wurde der Stil der einzelnen Märchen durch die Eigenart, das Temperament und die Interessen des Volkes beeinflusst. Auch nationale, zeitliche und individuelle Verschiedenheiten prägten das Märchen. Dennoch kann man von einem Grundtyp des europäischen Volksmärchens sprechen, der ähnliche Grundzüge besitzt und als ein Idealtyp gesehen werden muss. Diese Idealvorstellung kommt jedoch nie in reiner Form vor (Lüthi, 1979:25). Es lassen sich einige Merkmale des sogenannten Grundtyps des europäischen Volksmärchens feststellen, die im Folgenden analysiert werden.

4.1. Themen und Motive

Das Glück spielt im Märchen eine erhebliche Rolle. Der Held oder die Heldin zieht aus, um sein/ihr Glück zu erreichen und/oder findet es durch Zufall. In vielen Märchen ist dieses Glück zum Beispiel Reichtum, das Finden einer Braut oder eines Bräutigams oder die Aussicht auf einen Königsthron (Poser, 1980:19).

Der Handlungsverlauf eines Märchens ist im Allgemeinen gekennzeichnet durch einen Konflikt und dessen Lösung. Die Schwierigkeiten die vom Helden gelöst werden müssen, können in einem Kampf oder in einer Aufgabe bestehen und werden durch einen Sieg erreicht (Lüthi, 1979:25f).

Die Sympathie des Märchens gilt nur dem Helden oder der Heldin. Poser sagt: „Hilfsbereitschaft gegenüber Mensch und Tier, Mut und Geduld sind im Märchen wichtiger als Heldentum und musterhaftes Verhalten“ (Poser, 1980:21). Er oder sie handelt richtig, folgt seinem/ihrem Herzen und ist mitleidig, furchtlos und verschont die Tiere. Lüthi verdeutlicht „Was das Märchen seinen Figuren wirklich schenkt, sind nicht Dinge, sondern M öglichkeiten. Es führt sie dahin, wo es etwas zu leisten gilt; und dem, den es zu solcher Leistung bereit findet, läßt es dann auch seine Hilfen zufließen, aber nur ihm“ (Lüthi, 1968:80f).

Märchen beinhalten immer wiederkehrende Themen und auch die Motive wiederholen sich (Poser, 1980:21). Wichtige Themen im Märchen sind beispielsweise

- die Opposition von Schein und Sein,
- die Umkehrung einer Situation in das Gegenteil
- oder der Sieg des Kleinen (des physisch und/oder soziologisch Schwachen) über den Großen (den physisch und/oder soziologisch Starken).

Ebenso gelten Paradoxie und Ironie als charakteristische Merkmale eines Märchens, die so selbstverständlich sind, dass sie kaum mehr auffallen (Lüthi, 1979:25f).

Allein an Hand von Themen und Motiven kann man ein Märchen jedoch nicht bestimmen; deswegen wird im Folgenden näher auf den Ablauf und auf die stilistische Mittel eines Märchens eingegangen.

4.2. Ablauf und stilistische Mittel

Zu Beginn des Märchens steht ein Mangel oder eine Notlage, wie zum Beispiel Armut, Kinderlosigkeit, Krankheit oder Verlust eines Elternteils usw. Der Held oder die Heldin muss ein Ziel erreichen und eine Reihe von Konflikten und Aufgaben lösen, bevor das Glück in Reichweite ist. Charakteristisch für ein Märchen ist der stets gute positive Ausgang des Geschehens (Lüthi, 1979:25).

Nach Panzer stammen Märchenhelden oder -heldinnen aus zwei gesellschaftlich entgegengesetzten Schichten. Entweder sind sie Königssöhne, oder sie stammen aus der niedrigsten Gesellschaftsschicht und treten als Bauernsohn oder -tochter, JägerIn oder BesenbinderIn auf (1985:92). Hierfür muss der HeldIn das Elternhaus verlassen und auf Wanderschaft gehen. Die Aufgaben die er/sie lösen muss, sind meist so schwierig, dass er/sie sich auf Hilfe von Überirdischen verlassen muss, das sind zum Beispiel Zauberer, Glücksfeen, hilfreiche Tiere oder Erdmännchen. Das Interesse des Helden ruht eigentlich nicht beim Schatz, der anschließend gewonnen wird, sondern beim Abenteuer an sich. Die Aufgaben die der Held oder die Heldin bewältigen muss, sind oft Mutproben zum Beispiel ein Kampf, welche die Geduld und die Ausdauer prüfen, und den Gewinn der Braut oder des Bräutigams zum Ziel haben (Poser, 1980:19f).

Viele Märchen sind in Bezug auf ihren Handlungsablauf zweiteilig: „Nach der Lösung der Aufgabe, dem Bestehen des Kampfes, dem Gewinn von Braut oder Bräutigam werden Held oder Heldin des Preises beraubt oder geraten in eine neue Notlage, die sie bewältigen oder aus der sie gerettet werden müssen“ (Lüthi, 1979:25). Der Ablauf eines Märchens wird von Außen durch gestellte Aufgaben, Verbote, Hilfen aller Art, Bedingungen oder Ratschläge gelenkt (Panzer, 1985:95). Nach Lüthi sind einige Forscher wie Propp oder Berendsohn der Meinung, die zweiteilige Erzählung wäre die eigentliche vollendete Form des Märchens. Von dieser Tendenz zur Zweigliedrigkeit abgesehen, teilt sich das Märchen zur Darstellung des Geschehens in drei Abläufe: die drei Brüder ziehen nacheinander aus um eine Aufgabe zu lösen, drei Ungetüme zu überwältigen und drei Zauberdinge aufspüren und holen. Im Falle eines Einzelnen Helden oder einer Heldin, bewältigt diese(r) die drei Aufgaben nacheinander (ebd). Die Dreigliedrigkeit beherrscht den Aufbau des Märchens. Sie erscheint sehr oft und ist häufig die entscheidende Gliederung (Panzer, 1985:95).

Nach Lüthi sind europäische Märchen sehr handlungsfreudig und zeigen ein rasches Fortschreiten in ihrer Handlung. Diese ist meist in überschaubare Episoden gegliedert und gibt der Erzählung so Klarheit und Bestimmtheit. Im Märchen werden selten Schauplätze genannt und auch die Beschreibung der Handlungspersonen ist sehr selten, was für eine Erleichterung des Verständnis sorgt (und die Fantasie der Zuhörer und Leser anspornt). Das Innenleben oder die Umwelt der Figuren sowie die Region in der sich das Märchen abspielt, spielen keine Rolle. Der Märchenstil prägt sich durch reine Farben wie schwarz, weiß und rot aus und verwendet gerne grobe Umrisse sowie runde Zahlen (Lüthi, 1979:29f).

4.3. Personen und Dinge

Die Personen und Dinge im Märchen haben prägnante Zuordnungen. Üblicherweise übernimmt der Held oder die Heldin die Hauptrolle im Märchen und tritt in menschlicher Gestalt auf. Andere Figuren sind in irgendeiner Weise mit der Hauptperson verbunden, sei es als deren Helfer, Partner, Auftraggeber oder Schädiger. Autoritätspersonen wie Eltern, Könige oder Prinzessinnen beauftragen die Hauptperson häufig mit Aufgaben, um deren Tauglichkeit zu prüfen (Panzer, 1985:85f). Der Gegner oder Feind tritt häufig in einer übernatürlichen Gestalt auf, beispielsweise als Hexe, Fee, Zauberer, Zwerg oder Riese. Die Charaktere eines Märchens bekommen fast nie Eigennamen oder werden individuell gezeichnet. Es werden neue Namen definiert die bestimmte Eigenschaften des Wesens hervorheben oder die Figuren werden aufgrund ihres Berufes oder ihrer Gestalt bezeichnet. Beispiele für die Namensgebungen sind unter anderem Rotkäppchen, Schneewittchen oder Dornröschen, aber auch Stiefmutter, Schmied, Handwerker, König oder Bettler (Lüthi, 1979:27).

Der Märchenheld oder die Märchenheldin wird öfters mit einem Namen genannt. Sie bekommen aber „Allerweltsnamen“ die nicht individualisieren, zum Beispiel Namen wie Hans, Gottlieb oder Iwan. Die meisten Personen bleiben jedoch unbenannt, sie sind einfach Soldat, König, Stiefmutter, Schmied oder Bauernjunge (Lüthi, 1979:28). Im Märchen ist alles in Schwarz oder Weiß gemalt und die Figuren sind scharf in gut und böse oder in schön oder hässlich eingeteilt. Es gibt keine menschliche, keine problematische Mitte (Panzer, 1985:93).

[...]

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Die Benutzung von Märchen als Lehrmaterial. Besteht eine Verbindung zu persönlichen Erfahrungen der Lehrpersonen?
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Bildungswissenschaft)
Note
1,5
Autor
Jahr
2014
Seiten
78
Katalognummer
V464195
ISBN (eBook)
9783668988026
ISBN (Buch)
9783668988033
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen Unterricht Lehrpersonal Erfahrungen
Arbeit zitieren
Liesbeth De Cuyper (Autor:in), 2014, Die Benutzung von Märchen als Lehrmaterial. Besteht eine Verbindung zu persönlichen Erfahrungen der Lehrpersonen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/464195

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