Eine literaturdidaktische Betrachtung des Jugendromans "Die Zeit der Wunder" von Anne-Laure Bondoux


Seminararbeit, 2014

12 Seiten, Note: 1,7

Martin P. Hilbert (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Autorin
Aus den Jurytexten

Literaturwissenschaftliche Analyse
Figurenanalyse
Koumaïl/Blaise
Gloria
Kinder
Erwachsene
Sprachästhetische Analyse

Didaktische Analyse
Begegnung mit dem Fremden
Imagination und emotionale Beteiligung
Fachübergreifende Themen

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Das Jugendbuch „Die Zeit der Wunder“ von Anne-Laure Bondoux ist in Deutschland mehrfach ausgezeichnet worden1. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, inwiefern das Buch den literaturwissenschaftlichen Kriterien für gute Kinder- und Jugendliteratur entspricht, und ob es sich für die Verwendung im Unterricht eignet. Dabei sollen vor allem die Entwicklung und Wandlung der Hauptfiguren Koumaïl und Gloria betrachtet werden, sowie die literarisch-didaktische Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit von Kriegs- und Flüchtlingskindern, dem Motiv der Hoffnung angesichts von Grauen und Leid, sowie mit der Frage nach Wahrheit und Lebensträumen/Illusionen.

Autorin

Anne-Laure Bondoux (Jg. 1971) gilt als eine der renommiertesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen in Frankreich. Nach dem Studium der Modernen Literaturwissenschaften und der Tätigkeit als Journalistin engagiert sich die Autorin und zweifache Mutter nun als preisgekrönte Veranstalterin von Schreibwerkstätten zur Förderung von Kindern mit Lese- und Schreibschwierigkeiten.

Aus den Jurytexten

Neben der ergreifenden Sprache und der sensiblen Übersetzung durch Maja von Vogel, die von allen Kritikern lobend erwähnt werden, zeichnet sich das Buch aus durch die Behandlung gleich mehrerer Themen. Mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2012 wird es ausgezeichnet als eines der Bücher, „die vermitteln, wie seelische und körperliche Gewalt entstehen und wie sie sich in der Realität auswirken. Sie sollen Zivilcourage und gewaltlose Formen der Konfliktlösung aufzeigen und unterstützen“2. Mit der Flüchtlingsgeschichte eines 12-jährigen Jungen aus Georgien erzählt die Autorin „von den politischen und emotionalen Leiden von Flüchtlingen“ (djlp, 2012). Nicht als Dokumentation, sondern „beispielhaft“ für das Schicksal von vielen, beschreibt sie das Aufwachsen „vom vertrauensvollen Kind zum zweifelnden Jugendlichen […] in einer Welt voller Ungewissheit“ (Dankert, 2011).

Besonders gewürdigt wird die Auseinandersetzung mit Leid und Grausamkeit. Die naive Erzählperspektive ermögliche „Leerstellen in den Momenten, wo der Junge nicht alles versteht, was um ihn herum geschieht“ (djlp, 2012). Dass die Autorin „in reduzierten poetischen Bildern Leiden schildert und doch nie als letztgültig stehen lässt“ (kkujbp, 2012), gelingt ihr, indem sie „in ergreifender Sprache […]von entsetzlichen Geschehnissen [erzählt], aber auch von der Kraft der Liebe und der Kraft der Hoffung [sic!] – den einzig wirksamen Heilmitteln gegen die Verzweiflung“ (ebd.).

Literaturwissenschaftliche Analyse

Figurenanalyse

Koumaïl/Blaise

Aus der Ichperspektive des kindlich-naiven Koumaïl erzählt, bekommt der Leser Einblick in die Kinderseele des Protagonisten. Seine detailreichen Erinnerungen an friedvolle Alltage im „großen Haus“ werden überschattet durch die latent lauernde Gefahr3 und unverhofft eintretende Ereignisse mit geschichtswendender Tragweite4. Was den kleinen Flüchtling aufrecht hält, sind die mütterliche Fürsorge Glorias und ihre ausgeschmückten Geschichten über eine friedliche Vergangenheit. Der Leser ahnt, dass die Wirklichkeit anders ausgesehen haben muss – schlimmer, grausamer, komplexer.

Als Teeny fühlt sich Koumaïl hin und hergerissen zwischen Nähe und Distanz5 zu Gloria, zwischen wachsender Selbständigkeit und emotionaler Abhängigkeit6, kritischer Distanzierung und kindlicher Anhänglichkeit7. Das Ende der Kindheit – mit den Geschichten von der Vergangenheit und den Träumen von der Zukunft – kommt für den Leser wie für Koumaïl sehr abrupt und wird eingeleitet mit dem Satz „ Die letzte Erinnerung an meine Kindheit ist gleichzeitig die schmerzhafteste“ (S.125). Mit dem Verschwinden Glorias ist Koumaïl nicht nur räumlich von ihr getrennt, denn ihr ungeklärtes Wegbleiben und ihr Ruf bei den Erwachsenen8 haben ihn tief enttäuscht. Dass er trotz der ernüchternd-harten Wirklichkeit im Land seiner Träume nicht bald verzweifelt, hat er den von Gloria übernommenen Überlebensstrategien zu verdanken, aber auch der geduldigen Hilfe seiner Betreuer, und der liebevollen Partnerschaft mit Prudence.

Trotz der geklärten äußeren Umstände (französischer Pass, Schulabschluss, Ausbildung, Partnerschaft) wird der junge Mann Blaise weiter umgetrieben von der Frage nach seiner Herkunft – ein Indiz dafür, dass ihn Geld und äußere Freiheit allein nicht zufrieden machen. Bei seiner beharrlichen Suche nach Jean Fortune, seiner französischen Mutter, und dann nach Gloria lässt er sich von bitteren Enttäuschungen nicht zurückschrecken. Mutig stellt er sich neuen (emotionalen) Herausforderungen, vor allem, als er Stück für Stück die wahre Geschichte erfährt. Sein jugendlicher Überschwang9 muss an der Unerbittlichkeit von Glorias Krankheit zerschellen, und er lernt es neu, sich damit zu „begnügen, den Augenblick zu genießen“ (S.186). Seine Wahrnehmung wird vertieft und bereichert durch das Erleben und Durchleben von Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Verlust und Gewinn, Liebe und Dankbarkeit. Bis ins Erwachsenenalter hinein bleiben Fragen offen und bleibt Koumaïl auf der Suche nach seiner Rolle, seinem Platz in der Welt. Aber es ist ein Suchen mit Hoffnung. Und so schließt das Buch mit einer poetischen Feststellung Koumaïls vor einer metaphorischen Szene – Koumaïl wendet der leblosen Gloria den Rücken zu und richtet seinen Blick in die Weite, über die Stadt, dem baldigen Morgen zu –

„Menschen gehen. Menschen kommen. Sie folgen ihrem Weg und arrangieren sich mit den Widrigkeiten, den Sorgen, dem Kummer und den Kalaschnikows … ich habe einen Vater, der vielleicht in dieser Stadt auf mich wartet, eine Geliebte in einer anderen Stadt und ein Herz, das einen Spagat zwischen den Seiten des Atlasses macht“

um den Leser im letzten Satz dann gleichsam mit ihm zu entlassen, um immer weiter zu gehen, „Neuen Horizonten entgegen“ (S.189).

Gloria

Eine starke Frau, die nach „Waschpulver und Tee riecht“ – ein Synonym für ihren Fleiß als Wäscherin und ihre Freude am Leben. Sie kann sehr feinfühlig, zärtlich und nachsichtig, aber auch beharrlich und unnachgiebig sein und auch mal behände zupacken10. Ihre blühende Phantasie hilft ihr nicht nur dabei, die Lebensgeschichte des Koumaïl mit immer neuen Details auszuschmücken, sie dient ihr auch dazu, ihre Wissenslücken zu kompensieren11. Trotz der Widrigkeiten sieht sie die Dinge positiv12, versucht immer eine Hoffnung zu hegen – ihr Patentrezept gegen die Verzweiflung. Ihre treibende Kraft auf der Flucht nach Frankreich ist ihre Mutterliebe, die sie vor Koumaïl aber verbergen muss, um ihren Plan ausführen zu können (S.174). Tapfer und selbstlos kämpft sie gegen ihre Krankheit und den drohenden Tod an, um wenigstens ihm ein Leben in Frieden und Freiheit zu ermöglichen. In ihrem Leben muss(te) sie schon oft loslassen: ihre Eltern, ihre Beziehung zu ZemZem, ihren Sohn Koumaïl. Sie hat ihr Leben aufgeopfert: zuerst als revolutionäre Aktivistin für die Idee der Freiheit, dann – auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit – für die Freiheit ihres Sohnes. Doch sterben kann sie erst, als sie befreit wird von dem Anspruch, für Koumaïl da sein zu müssen, und als sie durch die Offenbarung der „ganzen Wahrheit“ frei wird von der Last ihres Gewissens und den Fängen ihrer konstruierten Geschichte13.

In den Figuren von Gloria und ZemZem bricht die Autorin mit gängigen Vorurteilen, wenn sie einen Erklärungsvorschlag auf die Frage liefert, was denn das für Menschen sind, die Terroranschläge verüben. ZemZem wird als ein schöner, intelligenter und liebenswürdiger Mann vorgestellt (S.168f), und Gloria erkennt im Rückblick, dass die ihr eigene Naivität sie labil gemacht hat für die ideologische Verblendung der sich radikalisierenden Gruppe um ZemZem14. Dass sie sich wiederum einer Illusion bedient, um sich und ihren Sohn zu retten, erscheint geschickt und der Situation geschuldet. Ob dieses Konzept trägt, scheint Blaise im Rückblick zu bezweifeln15.

Kinder

Die Kinder im Roman sind meist älter als Koumaïl, wirken etwas reifer, oder wenigstens gewiefter. Sie sind nicht nur seine Spielgefährten, sondern teilen Erlebnisse und Geheimnisse mit ihm, was sie zu Vertrauten macht. Neben den fast idyllischen Beschreibungen von banalem Kindheitsalltag findet der Leser Schlüsselszenen, die das Geheimnis für die tiefe Verbundenheit dieser Schicksalsgemeinschaften offenbart: geteiltes Leid und geteilte Hoffnung. Manchmal geschieht dieses Teilen durch Worte, wenn Erlebtes und Erhofftes im Dialog reflektiert wird und in eine poetisch zusammengefassten Weisheit mündet16, manchmal durch gemeinsames Spiel oder gegenseitige Fürsorge, und manchmal auch unausgesprochen durch körperliche Nähe oder einen festen Händedruck17.

Erwachsene

Die Beschreibung der Erwachsenen erfolgt zunächst aus der kindlich-naiven Perspektive des kleinen Koumaïl. Lebendig und detailreich werden seine Beobachtungen und Einschätzungen über die Erwachsenen geschildert, die ihm mal zutrauliche Nähe erlauben (Monsieur Ha, Babik), mal misstrauische Distanz erfordern (‚Schrecklichen Sergei‘) – und bei ZemZem verkehrt sich die kindliche Faszination später zu Schaudern bis Ablehnung, die eine innere Zerrissenheit hinterlassen: „[Ich habe] einen Vater, der vielleicht(!) auf mich wartet“ (S.189). Im Verlauf seiner Entwicklung bekommt Koumaïl tieferen Einblick in die Begrenztheit der Möglichkeiten, die den Erwachsenen zur Verfügung stehen18, ihre äußeren und inneren Hürden, die ihr Verhalten bestimmen19, aber auch die Unerbittlichkeiten des Lebens, die es tapfer und beharrlich immer neu auszuhalten gilt.

Sprachästhetische Analyse

Für ein ästhetisch-genussvolles Lesen bietet der Text einige Aspekte. Formal fallen die ohne Leerzeichen aneinandergereihten Worte auf, die Umschrift der wenigen französischen Sätze, die Blaise bei seiner Ankunft in Frankreich kann. Ihr mühevolles Entziffern entlockt dem Leser nicht nur ein Schmunzeln, sondern vermittelt unwillkürlich etwas von der Hilflosigkeit des jungen Koumaïl, dessen stammelnde aber beharrliche Aneignung der in Lautschrift geschriebenen Wendungen ihm nicht nur zu einer neuen Sprache, sondern auch zu einem neuen Selbstverständnis verhelfen: „ Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen Republik.“ (S.5). Eben diese neue Identität wird deutlich abgegrenzt durch die von Gloria bewusst kontrastierend eingesetzte Ansprache Koumaïls mit „ Monsieur Blaise“ – ein sprachlicher Winkelzug, der den subtilen Humor von Gloria wie den der Autorin durchschimmern lässt.

[...]


1 Luchs des Monats Mai 2011; Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2012; Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2012 (kkujbp); Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012 (djlp)

2 Das allgemeine Kriterium für die Verleihung des Preises (Heinemann-Preis, NRW, 2012)

3 Wachdienst und Alarmglocke, der Blick nach dem Marschgepäck

4 Flucht, Bombardement, Kälte- und Hunger, Verlust von liebgewonnenen Weggenossen

5 lehnt den Kopf an Glorias Schulter vs. denkt über das Gesicht seiner frz. Mutter nach (S.104)

6 hilft Gloria beim Tragen des Marschgepäcks (S.123) vs. „ich brauche dich doch immer noch, auch wenn ich groß bin,

oder?“ (S.123)/wird von ihr vor dem Bauern gerettet (S.108-109),

7 „ich glaube ihr nicht mehr“ (S.112) vs. „wäre Gloria gestorben, ich hätte mich neben sie gelegt“ (S.116).

8 „… sie ist eine Prostituierte, … sie hat sich aus dem Staub gemacht…“ „Er lügt!“ (S.138).

9 „Du bleibst keine Sekunde länger in diesem Zimmer!“ (S.163)

10 Z.B. als LKW-Fahrerin (S.52) oder als die streitbare Verteidigerin von Koumaïl gegen den Bauern (S.108)

11 „Wenn man etwas nicht weiß, stellt man es sich eben vor, Monsieur Blaise.“ (S.105)

12 „Jetzt ist das Marschgepäck eben leichter. Im Grunde genommen haben mir die Diebe einen Gefallen getan.“ (S.106)

13 „Sie hat so viele Geheimnisse gehütet! Das war ihre Bürde: eine Art unsichtbares Marschgepäck, das sie zwang, immer weiterzumachen.“ (S.188)

14 „… ich hörte seine Reden und fing Feuer. … Wir waren so leichtsinnig. Und so jung! … Ich glaube ein Teil von mir weigerte sich einfach, die Sache ernst zu nehmen.“ (S.170f)

15 „‘Wenn die Geschichte schön ist, möchte man doch daran glauben, oder nicht?‘ ‚Ich weiß nicht.‘“ (S.182)

16 „Ich kenne nicht dein Gesicht, aber dein Herz und den Klang deiner Geige“ (S.92), „Sei vorsichtig, Koumaïl, mein Bruder, […] im Westen gibt es Menschenfallen“ (S.121)

17 „Schweigend stehen wir davor, Schulter an Schulter“ (S.121)

18 „‘Mit diesem Hilfsmittel könnt ihr fast alles herausfinden,‘ korrigierte sie sich“ (S.144)

19 „Ich hatte nicht das Gefühl, dich zu belügen. Meine einzige Sorge war, dich zu beschützen.“ (S.175)

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Eine literaturdidaktische Betrachtung des Jugendromans "Die Zeit der Wunder" von Anne-Laure Bondoux
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
12
Katalognummer
V463489
ISBN (eBook)
9783668923027
ISBN (Buch)
9783668923034
Sprache
Deutsch
Schlagworte
eine, betrachtung, jugendromans, zeit, wunder, anne-laure, bondoux
Arbeit zitieren
Martin P. Hilbert (Autor:in), 2014, Eine literaturdidaktische Betrachtung des Jugendromans "Die Zeit der Wunder" von Anne-Laure Bondoux, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/463489

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