Über rationale und ethische Gründe, aus denen wir Fremden mehr vertrauen sollten, als wir es generell tun, und den Umgang mit Stereotypen bei Vertrauensentscheidungen


Bachelor Thesis, 2015

36 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Definitorische Vorbereitungen
2.1 Arbeitsdefinition des „Fremden“
2.2 Definition des Begriffs „Vertrauen“ nach Annette Baier
2.3 Definition des Begriffs „Vertrauen“ nach Olli Lagerspetz
2.4 Der Unterschied zwischen Vertrauen und Zuversicht
2.5 Arbeitsdefinition von „Vertrauen gegenüber Fremden“

3. Warum wir Fremden mehr vertrauen sollten
3.1 Persönliches und „optimales“ Vertrauenslevel
3.2 Ethische und gesellschaftsphilosophische Gründe für optimales Vertrauen
3.3 Eine empirische Studie zum Thema „Vertrauen Menschen zu viel oder zu wenig?“
3.4 Mögliche Gründe für fehlendes Vertrauen gegenüber Fremden

4. Über den Einfluss von Stereotypen bei Vertrauensentscheidungen
4.1 Kategorisierung, Stereotype und Vorurteile
4.2 Probleme von Stereotypen
4.2.1 Die Kategorisierung in Fremd- und Eigengruppe
4.2.2 Fehlende Korrektur von Stereotypen durch Bildung von Substereotypen
4.2.3 Das Problem der sich selbst erfüllenden Prophezeiung
4.2.4 Ethische Probleme von Stereotypen

5. Wie wir es schaffen Fremden mehr zu vertrauen

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Am 18. November 2015, 5 Tage nach den Terroranschlägen des Islamischen Staats in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und über 350 Menschen verletzt wurden1, setzt in Dortmund ein Muslime ein Zeichen für Vertrauen. Der 27-jährige Hakan Sevim steht mit verbundenen Augen und ausgebreiteten Armen in der Dortmunder Innenstadt, neben ihm ein Schild mit der Aufschrift „Ich vertraue dir. Vertraust du mir? Wenn ja, umarme mich“ stehend.2

Die Wichtigkeit von Vertrauen in modernen Gesellschaften ist, vor allem seit den feindlichen Angriffen des Islamischen Staats und durch den vom Syrienkrieg ausgelösten Flüchtlingsstrom nach Europa, wieder stärker in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung getreten. Insbesondere das Vertrauen gegenüber Fremden, womit nicht nur Menschen anderer Ethnien gemeint sind, spielt bei alltäglichen Vertrauensfragen eine große Rolle. Hakan Sevim bittet mit seiner genannten Aktion um mehr Vertrauen gegenüber Muslimen. In dieser Arbeit möchte ich jedoch zeigen, dass eine Forderung nach mehr Vertrauen gegenüber Fremden im Allgemeinen rational, moralphilosophisch als auch gesellschaftsphilosophisch begründet werden kann. Empirische Studien legen die Vermutung nahe, dass die deutsche Gesellschaft, wie auch andere moderne demokratische Gesellschaften, die Vertrauenswürdigkeit Fremder stark unterschätzt, wie wir im Laufe dieser Arbeit erkennen werden. Einer von mehreren Gründen dafür stellt die irrationale Beeinflussung von Stereotypen dar. Wie wir bei Vertrauensentscheidungen mit Stereotypen umgehen sollten, wird daher ebenfalls Thema dieser Arbeit sein.

Bevor die inhaltlichen Schwerpunkte dieser Arbeit diskutieren werden können, müssen jedoch einige definitorische Vorbereitungen getroffen werden. Dazu gehört sowohl eine Definition des verwendeten Begriffs des „Fremden“ als auch des „Vertrauens gegenüber Fremden“. Dafür werden zwei unterschiedliche philosophische Vertrauensdefinitionen vorgestellt sowie der begriffliche Unterschied zwischen „Vertrauen“ und „Zuversicht“ betrachtet. Nachdem eine Arbeitsdefinition für Vertrauen gefunden wurde, werde ich die Bedeutung eines „optimalen Vertrauenslevels“ gegenüber Fremden vorstellen und erklären, warum ein solches rational, moralphilosophisch als auch gesellschaftsphilosophisch zu fordern ist. Darüber hinaus wird eine empirische Studie nahelegen, dass die deutsche Gesellschaft kein „optimales Vertrauenslevel“ gegenüber Fremden besitzt, woraufhin wir mögliche Gründe für das fehlende Vertrauen untersuchen werden. Einer dieser Gründe stellt der Einfluss von Stereotypen dar, weshalb wir sozialpsychologische als auch moralische Probleme von Stereotypen betrachten werden. Zum Ende dieser Arbeit werden wir klären, ob und wie es möglich sein kann der gut begründeten Forderung nach mehr Vertrauen gegenüber Fremden, nachzukommen.

2. Definitorische Vorbereitungen

Wie bereits in der Einleitung erläutert, widmet sich das erste Kapitel dieser Arbeit einigen definitorischen Vorbereitungen bezüglich des Begriffs des „Fremden“ als auch des „Vertrauens gegenüber Fremden“. Dafür werden zwei unterschiedliche Definitionen von „Vertrauen“ von Annette Baier und Olli Lagerspetz vorgestellt und zur Findung einer geeigneten Definition von „Vertrauen gegenüber Fremden“ verglichen. Dabei wird die Unterscheidung von „Vertrauen“ und „Zuversicht“ nach Niklas Luhmann von Bedeutung sein.

2.1 Arbeitsdefinition des „Fremden“

In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit dem Thema „Vertrauen gegenüber Fremden“. Bevor ich jedoch den Begriff des „Vertrauens“ definieren möchte, werde ich näher erläutern, welche Personen in dieser Arbeit als „Fremde“ bezeichnet werden.

Dazu betrachten wir eine Definition aus dem „Soziologie-Lexikon“, herausgegeben von Dr. phil. Gerd Reinhold. Dort heißt es, ein Fremder ist „eine Person, die bislang unbekannt war, weshalb über ihre soziale Herkunft, ihre Eigenschaften nichts bekannt ist, was das Verhalten ihr gegenüber erschwert […]“3.

Diese Definition scheint für die folgenden Kapitel als sehr sinnvoll, da sie im Gegensatz zu anderen Definitionen keine kulturellen oder ethnologischen Unterschiede voraussetzt. Wir begegnen im Alltag einer Vielzahl von Menschen, welche uns fremd sind. Dies liegt jedoch nicht daran, dass sie sich im Verhalten oder Glauben von uns unterscheiden, sondern dass wir keine näheren Informationen zu ihnen haben. Wie bereits im zitierten Artikel erwähnt wird, fällt uns der Umgang mit diesen Menschen oft schwer, weshalb wir in der Regel eine angemessene und höfliche Distanz wahren. Trotz dieser Distanz entstehen häufig Situationen, die von Vertrauen oder fehlendem Vertrauen zu Fremden geprägt sind. Mit diesen Situationen wollen wir uns im Folgenden näher beschäftigen.

2.2 Definition des Begriffs „Vertrauen“ nach Annette Baier

Um eine geeignete Definition von „Vertrauen“ zu finden, wollen wir zunächst die oft rezipierte Definition von Annette Baier betrachten. In ihrem Aufsatz „Vertrauen und seine Grenzen“ stellt sie Vertrauen als ein „dreistelliges Prädikat“4 vor. Eine Person A vertraut einer Person B ein von Person A wertgeschätztes Gut C an. Der Begriff „Vertrauen“ wird somit auf den Begriff „anvertrauen“ reduziert, wobei es oft schwierig ist das Gut C genau zu benennen.5 Diese Schwierigkeit zeigt sich bereits am Beispiel der Liebesbeziehung. Gehe ich eine solche Beziehung ein, bin ich meist gewillt zu sagen, dass ich meinem Partner oder meiner Partnerin vertraue. Doch auf welches Gut bezieht sich dieses Vertrauen? Es könnte die Beziehung selbst sein, welche ich als schützenswertes Gut ansehe, aber auch mein Glaube an die Treue, meine Ehre, mein leibliches Wohl oder meine Autonomie könnten von meinem Partner geschädigt werden und sind somit mögliche Vertrauensgüter.

Nach A. Baier ist die vertrauende Person A sich dem Risiko bewusst, dass das für sie wertvolle Gut von Person B nicht beschützt oder vielleicht sogar gefährdet wird. Beim Vertrauen hofft man jedoch, auf das „Wohlwollen“6 der Person B und schätzt das Risiko verletzt zu werden als gering ein. Besonders gering wird das Risiko eingeschätzt, wenn das Gut C nicht nur von Person A, sondern auch von Person B wertgeschätzt wird.7 In unserem obigen Beispiel wird Person A wahrscheinlich davon ausgehen, dass auch für Person B, ihrem Partner oder ihrer Partnerin, die Beziehung ein schützenswertes Gut darstellt.

In einer Vertrauensbeziehung ist jedoch oft nicht klar definiert wie das Gut C zu schützen sei. Der Person B steht dabei ein gewisser „Ermessensspielraum“8 offen, wie sie sich um das Gut C kümmert. Engagiere ich beispielsweise einen Bodyguard, so lege ich meine Sicherheit in seine Hände. Ich vertraue ihm, die richtigen Entscheidungen zu treffen um meine Sicherheit zu gewährleisten.

„Vertrauensverhältnisse aber müssen nicht immer so ausdrücklich sein“9, so A. Baier. Damit sind unter anderem Beziehungen wie die zwischen Eltern und Kindern gemeint. Kinder haben eine Art Urvertrauen zu ihren Eltern, welches sich erst im Laufe der Jahre zu einem bewussten gegenseitigen Vertrauensverhältnisses entwickelt, wenn sich auch das Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern, zu Gunsten der Kinder, verändert.10 Mit späteren Jahren sind auch Kinder in der Lage ihre Eltern zu verletzen und ihr Vertrauen zu missbrauchen, wenn sie beispielsweise lügen um eine Tat zu verschleiern.

Im Gegensatz zu Kindern ist der Erwachsene, nach A. Baier, nicht in der Lage einer Vertrauensaufforderung willentlich nachzukommen, solange für das Vertrauen keine guten Gründe vorliegen.11 Dieser Aspekt wird in späteren Kapiteln dieser Arbeit wieder aufgegriffen.

2.3 Definition des Begriffs „Vertrauen“ nach Olli Lagerspetz

Nach der Definition von Annette Baier wollen wir nun eine konträre Definition von Vertrauen betrachten. Olli Lagerspetz stellt in seinem Text „Vertrauen als geistiges Phänomen“ klare Unterschiede zwischen A. Baiers und seinem Verständnis von Vertrauen dar.

Zunächst ist es nach O. Lagerspetz wichtig zu betrachten, in welchen Situationen wir von Vertrauen sprechen. Dies ist vor allem der Fall, wenn ein Verdacht besteht, dass das Vertrauen verletzt werden könnte. Er schreibt dazu: „Über Vertrauen zu sprechen heißt, die Möglichkeit des Verrats in Erwägung zu ziehen.“12. Der Grund für diese Annahme zeigt sich am besten an einem Beispiel. Wie auch im vorherigen Abschnitt betrachten wir die Vertrauenssituation eines Liebespaares. In den meisten Fällen schlafen Paare nebeneinander ein, ohne den Verdacht der Andere könnte ihnen im Schlaf beabsichtigt physischen Schaden zufügen. Die Partner vertrauen einander ohne darüber nachzudenken. Sollte ein Partner jedoch aktiv über die Möglichkeit nachdenken, im Schlaf angegriffen zu werden, so ist ein Funken Misstrauen geweckt. Erst jetzt stellt sich die Frage ob er seinem Partner oder seiner Partnerin überhaupt vertraut. Es wäre jedoch seltsam zu sagen, dass er erst mit den aufkommenden Zweifeln zu vertrauen beginnt und der vorherige unüberlegte Zustand nicht von Vertrauen geprägt war.

Dieses Beispiel zeigt zudem, warum O. Lagerspetz die Meinung A. Baiers nicht teilt, Vertrauen definiere sich durch „akzeptierte Verletzbarkeit“13. Im Gegensatz zu A. Baiers Definition ist sich der Vertrauende seiner Verletzbarkeit nicht bewusst. Sollte er es sein, würde dies bedeuten Vertrauen sei „eine Art Selbstbetrug“14. Er erkennt ein Risiko, sei es auch gering, verhält sich jedoch als ob keines existiere. Auch nach einem Vertrauensbruch würde sich der Partner in unserem Beispiel wohl damit verteidigen, dass er kein Risiko gesehen hätte, da er seinem Partner oder seiner Partnerin nun einmal vertraut hätte.

Dies führt jedoch zu einem anderen Problem. Nach einem Vertrauensbruch behauptet der Geschädigte Vertrauen gehabt zu haben. Vor dem Vertrauensbruch hätte er dies jedoch nicht behauptet.15 Außenstehende Beobachter hätten jedoch auch bereits vor dem Vertrauensbruch von Vertrauen gesprochen. So würden in unserem Beispiel Bekannte des Paares auf Grund der Situation, dass das Paar in einem Bett schläft, eine Vertrauensbeziehung annehmen. Beide Partner wären jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit beleidigt, sollte ihnen vom anderen das Vertrauen ausgesprochen werden, nicht im Schlaf vom Partner oder der Partnerin angegriffen zu werden. Nach O. Lagerspetz lassen sich diese Situationen darin unterscheiden aus welcher Perspektive die Situation betrachtet wird. Er unterscheidet dabei zwischen „einem handelnden Subjekt und einem von anderen beobachteten Objekt“16. In unserem Beispiel sind die Partner zunächst die handelnden Subjekte. Ihr Vertrauen ist unbewusst und sie sehen kein Risiko darin neben dem Anderen einzuschlafen. Von außen betrachtet, begeben sich beide jedoch in eine äußerst verletzbare Position und man nimmt an, dass sich die Partner vertrauen, da dieses Risiko keine Auswirkung auf ihr Verhalten hat. „Der Beobachter hält mein Verhalten für vertrauensvoll, weil ich dies nicht tue“17, so O. Lagerspetz. Die Beobachterrolle ist jedoch nicht auf Außenstehende reduziert. Auch der Handelnde kann zur Rolle des Beobachters wechseln, wenn sein Vertrauen beispielsweise verletzt wurde. Rückblickend kann der ehemalige Handelnde ebenfalls an seinem Verhalten erkennen, dass er vertraut hat, da ihm plötzlich das Risiko bewusst wird. Nach O. Lagerspetz gibt es also „nichts >>Objektives<<, das man als >>Vertrauen<< bezeichnen könnte“18, da es stark von der angenommenen Perspektive abhängt.

2.4 Der Unterschied zwischen Vertrauen und Zuversicht

Bevor wir zur Diskussion unserer Arbeitsdefinition von Vertrauen kommen, müssen wir noch eine wichtige Begriffsunterscheidung treffen. Vor allem in Bezug auf Vertrauen zu Fremden ist es wichtig den Begriff des Vertrauens vom Begriff der Zuversicht abzugrenzen. Dazu betrachten wir den Text „Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen: Probleme und Alternativen“ von Niklas Luhmann. Zuversicht und Vertrauen sind nach Luhmann beide mit Erwartungen verbunden, welche enttäuscht werden können.19 Sie unterscheiden sich jedoch darin, ob die Enttäuschung eine Gefahr oder ein Risiko darstellt.20 Zuversicht wird im alltäglichen Leben benötigt, da wir sonst nicht mehr handlungsfähig wären. Der Grund dafür liegt in den unausweichlichen Gefahren die uns umgeben. Schon der Weg zur Arbeit erfordert Zuversicht, dass der Zug nicht entgleist oder ich nicht auf offener Straße erschossen werde. Ich habe keine andere Wahl als diese Gefahren auszublenden21, wenn ich mein Leben nicht voller Angst in einem gesicherten Bunker verbringen möchte (wobei selbst dieses Leben noch Gefahren birgt). Anders verhält es sich nach N. Luhmann mit dem Vertrauen. Zu vertrauen birgt ein Risiko und keine Gefahr, da ich eine echte Wahl habe nicht zu vertrauen. N. Luhmann schreibt dazu: „Man kann vermeiden, ein Risiko einzugehen, aber nur, wenn man gewillt ist, auf die damit verbundenen Vorteile zu verzichten.“22 So kann ich beispielsweise meiner Nachbarin während meines Urlaubs meinen Haustürschlüssel anvertrauen, damit sie sich um meine Post und meine Blumen kümmern kann. Ich habe jedoch auch die Wahl dies nicht zu tun, ohne mich in eine Situation der Handlungsunfähigkeit zu begeben. Ich verzichte damit aber auch auf den Vorteil, dass mein Briefkasten nicht überläuft, wenn ich vom Urlaub zurückkomme. Die Wahl zu haben ein Risiko einzugehen führt jedoch auch dazu, dass ich mir selbst eine Mitschuld eingestehen muss, wenn ich enttäuscht werde.23 Schließlich habe ich das Risiko falsch eingeschätzt und der falschen Person vertraut. Wird meine Zuversicht enttäuscht, so werde ich keine Reue empfinden, da ich keine andere Wahl hatte als Zuversichtlich zu sein.24

Für das Thema „Vertrauen zu Fremden“ bedeutet dies, dass nicht jede Alltagssituation, in der wir mit positiven Erwartungen Fremden begegnen, eine Vertrauenssituation darstellt. Nach N. Luhmann wäre dies erst der Fall, wenn wir eine Alternative in Betracht ziehen können.25 Dabei ist jedoch zu beachten, dass dies nicht für den Vertrauensbegriff nach O. Lagerspetz zutreffen kann, da dort, wie bereits beschrieben, vom Vertrauenden kein Risiko erkannt wird und somit auch keine Alternative nötig wäre.

2.5 Arbeitsdefinition von „Vertrauen gegenüber Fremden“

In diesem Kapitel haben wir bereits zwei Definitionen von Vertrauen betrachtet und den Begriff des Vertrauens, vom Begriff der Zuversicht abgegrenzt. Mit Hilfe dieser Vorarbeit möchte ich nun eine Arbeitsdefinition zum „Vertrauen gegenüber Fremden“ entwickeln.

Es lässt sich leicht erkennen, dass die Definitionen von Vertrauen von A. Baier und O. Lagerspetz sich stark unterscheiden. Bei A. Baier sieht der Vertrauende ein Risiko, geht dieses jedoch ein, weil er auf das Wohlwollen des Gegenübers baut und das Risiko daher als gering einschätzt. Nach O. Lagerspetz hingegen, sieht der Vertrauende gerade kein Risiko und ist sich deshalb auch dem Vertrauen nicht bewusst. Das Vertrauen kann nur aus einer Außenperspektive erkannt werden. Es stellt sich daher die Frage, wie zwei solch unterschiedliche Definitionen von Vertrauen existieren können. Die Antwort gibt O. Lagerspetz bereits selbst, wenn er sagt: „Weiterhin scheint es merkwürdigerweise so zu sein, dass ich mir meines Vertrauens um so weniger bewusst bin, je stärker es ist.“26 Diese Erklärung scheint die beiden Definitionen zusammenbringen zu können. Wenn A. Baier von einem bewussten Risiko spricht, dann kann dies nicht auf Situationen starken Vertrauens bezogen sein. Ein Risiko zu erkennen bedeutet, nicht in vollem Maße zu vertrauen. Die Stärke des Vertrauens hängt stark von der Wahrscheinlichkeit ab, die wir der Möglichkeit der Enttäuschung zuschreiben. Dies muss nicht mit der reellen Wahrscheinlichkeit zusammenhängen. Schätzen wir die Wahrscheinlichkeit enttäuscht zu werden gleich Null ein, so sind wir uns keinem Risiko bewusst. Wo wir jedoch kein Risiko sehen, da sehen wir auch nicht die Notwendigkeit von Vertrauen. An dieser Stelle kommt der von O. Lagerspetz genannte Perspektivwechsel ins Spiel. Der stark Vertrauende mag das Vertrauen nicht erkennen, dafür jedoch Außenstehende, da sie eine andere Risikokalkulation aufstellen. Auch der Vertrauende kann erkennen, dass er vertraut hat, sobald sich seine Risikokalkulation verändert, beispielsweise nach einem Vertrauensbruch. Auch der Vertrauende nach A. Baier erkennt, dass er Vertrauen benötigt, da die Risikowahrscheinlichkeit nicht gleich Null ist.

[...]


1 „Anschläge in Paris“, in: ZEIT ONLINE, http://www.zeit.de/thema/anschlaege-in-paris , (Zugriff 16.01.2016, 14:30 Uhr)

2 Felix Guth, „Dortmunder Moslems setzen Zeichen für Vertrauen“, in: RuhrNachrichten.de, http://www.ruhrnachrichten.de/staedte/dortmund/44141-Innenstadt~/Westenhellweg-Video-Dortmunder-Moslems-setzen-Zeichen-fuer-Vertrauen;art930,2875238 , letzte Aktualisierung 19.11.2015 (Zugriff 16.01.2016, 14:45 Uhr)

3 „Fremder“, in: Soziologie-Lexikon, hg. v. Dr. phil. Gerd Reinhold unter Mitarb. Von Siegfried Lamnek und Helga Recker, München 1991, S. 175.

4 Annette Baier, „Vertrauen und seine Grenzen“, in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 45.

5 Ebenda, S. 47.

6 Ebenda, S. 44.

7 Ebenda, S. 56.

8 Ebenda, S. 51.

9 Annette Baier, „Vertrauen und seine Grenzen“, in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 52.

10 Ebenda, S. 55.

11 Ebenda, S. 58.

12 Olli Lagerspetz, „Vertrauen als geistiges Phänomen“ , in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 92.

13 Olli Lagerspetz, „Vertrauen als geistiges Phänomen“ , in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 101.

14 Ebenda, S. 104.

15 Ebenda, S. 95.

16 Ebenda, S. 109.

17 Ebenda, S. 111.

18 Olli Lagerspetz, „Vertrauen als geistiges Phänomen“ , in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 113.

19 Niklas Luhmann, „Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen: Probleme und Alternativen“ , in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 147.

20 Ebenda, S. 149.

21 Ebenda, S. 148.

22 Ebenda, S. 148.

23 Niklas Luhmann, „Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen: Probleme und Alternativen“, in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 148.

24 Ebenda, S. 148.

25 Ebenda, S. 148.

26 Olli Lagerspetz, „Vertrauen als geistiges Phänomen“ , in: Vertrauen – Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, hg. v. Martin Hartmann, Claus Offe, Frankfurt/Main 2001, S. 95.

Excerpt out of 36 pages

Details

Title
Über rationale und ethische Gründe, aus denen wir Fremden mehr vertrauen sollten, als wir es generell tun, und den Umgang mit Stereotypen bei Vertrauensentscheidungen
College
TU Dortmund
Grade
1,0
Author
Year
2015
Pages
36
Catalog Number
V462545
ISBN (eBook)
9783668906648
ISBN (Book)
9783668906655
Language
German
Keywords
Vertrauen, Stereotype, Vorurteile, Praktische Philosophie, Annette Baier, Olli Lagerspetz, Fremd
Quote paper
Vivien Schaefer (Author), 2015, Über rationale und ethische Gründe, aus denen wir Fremden mehr vertrauen sollten, als wir es generell tun, und den Umgang mit Stereotypen bei Vertrauensentscheidungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/462545

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