Liebe überwindet alle Grenzen. Zu Schnitzlers Novelle "Sterben"


Hausarbeit, 2015

17 Seiten, Note: 2.0

Ann Chef (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Erste Phase: Die Diagnose als Ausgangspunkt der Entwicklung
– Rollenverteilung und Randordnung
2.2. Zweite Phase: Aufleben ihrer Beziehung
2.3. Dritte Phase: Zunehmende Distanzierung und Entfremdung
2.4. Vierte Phase: Verschiebung der Rollenverteilung
2.5. Fünfte Phase: Vollständige emotionale Distanz

3. Schlussteil

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Man sagt, die Liebe überwindet alle Grenzen. Dass das nicht immer der Fall ist, zeigt sich in Arthur Schnitzlers 1892 entstandenen Novelle „Sterben“. Diese thematisiert den Prozess des Sterbens, welcher einen nicht zu bewältigenden Konflikt für die Beziehung der Hauptfiguren Marie und Felix darstellt.

Durch Felix Diagnose erhält die Liebesbeziehung eine Dynamik, welche nicht mehr aufzuhalten ist: Beide Figuren verfolgen eine entgegengesetzte psychologische Entwicklung, welche letztendlich zur totalen Entfremdung beider führt.

Die Konstellation des Textes gibt Aufschluss über die Psychologie der Hauptfiguren. Während Maries Psychologie geprägt ist von der konfliktreichen Gegenüberstellung ihrer Selbstfindung und der moralischen Pflicht, Felix bis zum Tod zu begleiten, zeichnet sich Felix psychologischer Prozess durch Angst vor dem einsamen Sterben und Hass auf das Leben aus. Die Novelle vermittelt auf diese Weise, welche Auswirkungen die Psychologie des Individuums und der Prozess des Sterbens auf eine Liebesbeziehung haben kann und dass durch das Sterben eine Identitätskrise und –findung entstehen können.

Die Arbeit zeigt die durch den Prozess des Sterbens dynamische Entwicklung der Liebesbeziehung von Marie, welche als Repräsentantin des Lebens gilt, und Felix, welcher die Inkarnation des Todes darstellt. Dies bietet Potential für die zunehmende Entfremdung und emotionale Diskrepanz beider Figuren, sodass diese in einer kontrastreichen Gegenüberstellung von Leben und Tod ihren Höhepunkt erreichen.

Um die Entwicklung dieser Beziehung zu erläutern, werden die einzelnen Phasen genauer untersucht: Die erste Phase beginnt mit dem Einschnitt der tödlichen Diagnose als Ausgangspunkt der Entwicklung, in welcher die Rollenverteilung definiert wird und Marie sich durch ihre emotionale Abhängigkeit von Felix in Form eines gemeinsamen Liebestods auszeichnet, während Felix die Beziehung anfangs durch Rationalität und Verantwortungsbewusstsein zu halten versucht. Hoffnungslosigkeit und Trauer werden in der zweiten Phase zunächst einmal durch die Leidenschaft ihrer Liebe kurzzeitig überwunden, als Marie und Felix vom Arzt Alfred zur Erholung in die Berge geschickt werden.

Die zunehmende Distanzierung beginnt in der dritten Phase, nachdem Marie einen Bewusstwerdungsprozess in den Bergen erfährt und ihre Selbstfindung erlebt und sich schließlich dem Leben zuschreibt.

Mit Felix Erkenntnis, dass Marie das Leben verkörpert, radikalisiert sich die Diskrepanz beider Figuren, da Felix als Repräsentant des Todes eine Abscheu gegen alles Lebendige entwickelt. Eine Verschiebung der Rollenverteilung folgt in der vierten Phase, in welcher sich Felix als Kranker und Todgeweihter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Marie befindet und unter einem Identitätsverlust leidet und es zur Depersonalisierung Felix kommt. Hiervon ausgehend entwickelt sich in der fünften und letzten Phase die Beziehung der Figuren hin zur totalen psychologischen Entfremdung, ausgelöst durch Felix gewaltsamen Mordversuch und Maries Angst und Misstrauen.

Besonders zeichenhaft sind die Räume in den einzelnen Phasen: Differenzieren lässt sich ein Raum des Lebens, wofür der gesellschaftliche Lebensraum sowie Licht zeichenhaft stehen, und ein Raum des Todes wird durch Randbereiche des gesellschaftlichen Lebens und Dunkelheit eröffnet. Auf die semantischen Implikationen der Räume wird im Hauptteil näher eingegangen.

2. Hauptteil

2.1. Erste Phase: Die Diagnose als Ausgangspunkt der Entwicklung – Rollenverteilung und Rangordnung

Schnitzlers Novelle beginnt mit dem Einschnitt Felix Diagnose in die Liebesbeziehung zu Marie. Beide Hauptfiguren haben keine Vorgeschichte und werden somit entindividualisiert. Erst durch den Eintritt der Wendung in ihrer Beziehung in Form der tödlichen Diagnose entwickelt Marie wie auch Felix eine neue Identität. Mit der Diagnose als Ausgangspunkt der Entwicklung ihrer Beziehung beginnt eine erste Definition der Rollenverteilung, welche Felix als Vertreter des Todes und Marie als Repräsentantin des Lebens vorsieht.

Felix, schon im Wissen um seine tödliche Diagnose, will dem Raum der Gesellschaft entfliehen, als er Marie auf der Straße trifft.1 Der gesellschaftliche Raum steht zeichenhaft für das Leben, welchem Felix sich nicht mehr zugehörig fühlt. Aus diesem Grund will Felix abseits der Straßen und in den Prater gehen, welcher sich abseits der Gesellschaft befindet und so einen Bereich des Nicht-Lebens darstellt. Sein Bedürfnis, den Raum des Lebens zu verlassen, ist so stark, dass er Marie nahezu dazu drängt und sich nach dem Prater sehnt.2 Somit wird Felix innere Hingezogenheit zum Bereich des Todes deutlich, da er sich durch seine Diagnose dem Lebendigen und der Gesellschaft nicht mehr zugehörig fühlt. Dass er damit die Rolle des Vertreter des Todes einnimmt, zeigt sich auch dadurch, dass er „auch nicht viel[e] Menschen sehen [will], [denn] das Geräusch tut [ihm] weh […]“3.

Felix erkennt schon anfangs, dass das Leben einen Kontrast zu ihm darstellt und seine innere Abscheu gegen das Leben ihm sogar körperlich schadet, indem der Laut des Lebendigen und die Geräusche der Gesellschaft ihm Schmerzen bereiten. Seine psychologische Distanz zum Bereich des Lebens führt bei Felix zu physischen Auswirkungen, woraus folgt, dass er in den Raum des Nicht-Lebens, den Prater, fliehen will.

Dieser Raum zeichnet sich semantisch durch Hoffnungslosigkeit aus, welche durch die Lichtmetaphorik zum Ausdruck kommt, denn schon der Weg dorthin liegt „beinah ganz im Dunkeln“4 und der Prater selbst ist „kaum beleuchtet“5.

Dass der Prater zeichenhaft für den Raum des Todes steht, wird durch den kleinen Kellnerjungen, der „schlummernd in einer Ecke gesessen [hatte]6, deutlich. Denn somit vereinnahmt dieser Raum das Lebendige, welches hier durch den kleinen Kellnerjungen verkörpert wird. Die Lebhaftigkeit des Kindes wurde von der eigenen Dynamik des Praters als Raum des Nicht-Lebens genommen, so dass dieser bereits ein typisches Merkmal des Kindseins abgelegt hat und selbst von der düsteren Atmosphäre eingenommen ist.

Anders als Felix, der sich dem Bereich des Nicht-Lebens schon anfangs zuschreibt, fühlt Marie sich in diesem Bereich körperlich sehr unwohl, denn sie empfindet den Prater „so kalt [dort] unten“7 und somit wird der Prater als semantischer Raum des Todes konkretisiert. Diese topographische Konkretisierung „ist bei Schnitzler tendenziell nur noch mehr als rein abstrakt-metaphorische Kategorie relevant, die v.a. zur Bezeichnung psychischer Räume auftritt“8. Dadurch, dass der Prater unten lokalisiert ist, stellt dieser für Marie „die fremde nicht-bürgerliche [Welt] […] in der Tiefe“9 dar. Marie konkretisiert diesen Bereich für sich als unten gelegen, entfernt von der Gesellschaft, welchen sie in ihrem Unterbewusstsein ablehnt. Da Marie sich in diesem Raum unwohl fühlt und sich dort nicht wie Felix hingezogen fühlt, verkörpert sie zeichenhaft das Leben. Dies zeigt sich ebenso in ihrer Angst vor Felix, da er im Gegensatz zu ihr eine Abscheu gegen die Menschen und deren Geräusche verspürt.10

Die Rangordnung von Marie und Felix ist anfangs klar festgelegt: Marie ist ihrem Geliebten Felix in der Beziehung untergeordnet, welches durch die Anrede Maries als „Kind“11 deutlich wird.

„Felix [verwendet] sie im Bewusstsein männlicher, intellektueller und wohl auch finanzieller Überlegenheit wohlwollend, abwehrend und entmündigend“12, wodurch ein Machtgefälle in dieser Beziehung entsteht. Verstärkt wird dieses Machtgefälle durch Maries emotionaler Abhängigkeit von Felix, welche durch die Mitteilung seiner tödlichen Diagnose erkennbar wird: Ohne Felix will Marie „keinen Tag [weiter]leben, keine Stunde […]“13 und hängt ihr Leben an Felix Schicksal. Ihre Liebe zu Felix sowie ihre emotionale Abhängigkeit von ihm gipfeln in ihrem Wunsch nach einem gemeinsamen Liebestod.14

Um einen emotionalen und psychischen Zusammenbruch zu vermeiden, versucht sie den bevorstehen Tod Felix zu verdrängen und die Beziehung durch Hoffnung zu stützen. Dies wird offenbart durch das Anzünden einer Kerze in der dunklen Wohnung. Hierbei ist das Licht metaphorisch als Hoffnung zu verstehen, präziser noch: das künstliche Licht der Kerze steht für die erzwungene Hoffnung Maries, welche der Aussichtslosigkeit Felix gegenübersteht. Dennoch erreicht diese Hoffnung Felix nicht, denn er „hatte all das [Licht] nicht mehr gesehen“15 und nur „zu seinen Füßen spielte der Kerzenflimmer“16. Vielmehr schwindet die Hoffnung für ihre Beziehung, denn nachdem Felix den gemeinsamen Liebestod abgelehnt hat, brennt die Kerze tiefer ab und auch Maries Hoffnung nimmt somit ab.17

Anders als Marie also, die sich durch ihren Liebesabsolutismus in der Beziehung identifiziert, zeichnet Felix sich zu Beginn durch seine Rationalität aus, indem er als „verantwortungsbewusst Liebende[r]18 handelt und einen gemeinsamen Tod mit Marie konsequent und vernünftig ablehnt. Die Entwicklung ihrer Liebesbeziehung beginnt also mit einer „Extremsituation zwiegespaltener Gefühlslagen und Bewusstseinszustände beider Liebender“19.

[...]


1 Vgl. Arthur Schnitzler: Sterben. Stuttgart 2014, S. 6.

2 Vgl. ebd., S. 7.

3 Ebd., S. 7, Z. 10f.

4 Ebd., S.7, Z. 24.

5 Ebd., S. 7, Z. 26.

6 Ebd., S.7, Z. 34.

7 Ebd., S. 6, Z. 6.

8 Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, S. 34.

9 Ebd., S. 34.

10 Vgl. Arthur Schnitzler: Sterben. Stuttgart 2014, S. 7.

11 Ebd., S. 10, Z. 30, S. 11, Z. 3.

12 Arthur Schnitzler: Dramen und Erzählungen. Interpretationen. Stuttgart 2007, S.40.

13 Arthur Schnitzler: Sterben. Stuttgart 2014, S. 11, Z. 7f.

14 Vgl. ebd., S. 13.

15 Ebd., S. 12, Z. 31.

16 Ebd., S. 13, Z. 12f.

17 Ebd, S. 13.

18 Arthur Schnitzler: Dramen und Erzählungen. Interpretationen. Stuttgart 2007, S. 36.

19 Christoph Jürgensen/ Wolfgang Lukas/ Michael Scheffel: Schnitzler Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2014, S. 174.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Liebe überwindet alle Grenzen. Zu Schnitzlers Novelle "Sterben"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
2.0
Autor
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V461367
ISBN (eBook)
9783668915190
ISBN (Buch)
9783668915206
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schnitzler, Sterben, Novelle, Literatur, Liebe, Interpretation, Wiener Moderne
Arbeit zitieren
Ann Chef (Autor:in), 2015, Liebe überwindet alle Grenzen. Zu Schnitzlers Novelle "Sterben", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/461367

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