Vertrauen. Ansätze und Modelle der Vertrauensforschung

Einführung in die Vertrauensforschung


Seminararbeit, 2015

30 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Weg zur Begriffsbestimmung
2.1. Stand der Forschung
2.1.1. Vertrauen in der Philosophie
2.1.2. Vertrauen in der Psychologie
2.1.3. Vertrauen in der Soziologie
2.1.4. Vertrauen in der Pädagogik
2.1.5. Vertrauen in den Wirtschaftswissenschaften
2.2. Begriffsbestimmung
2.2.1. Teilaspekte des Vertrauens
2.2.2. Definition

3. Vertrauen im Lebenslauf
3.1. Vertrauen in der Kindheit
3.2. Vertrauen im Jugendalter
3.3. Vertrauen im Alter

4. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1 Vertrauensrelationen

Tabelle 2 Vertrauensentwicklung nach Selman et al.

1. Einleitung

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ diesen berühmten Satz soll Lenin gesagt haben. Allerdings ist diese Aussage kein guter Rat für den Alltag, sondern vielmehr die Umkehrung „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!“. Vertrauen begegnet uns nämlich ständig - über unser ganzes Leben, Tag für Tag - und ist für ein menschliches Zusammenleben unverzichtbar. Es ist so allgegenwärtig, dass uns oft nicht einmal bewusst ist, wie häufig wir es schenken und erwarten.

Vermutlich hat es jeder mal erlebt, dass sein Vertrauen missbraucht worden ist - man ist enttäuscht und verärgert, dennoch vertrauen die meisten Menschen immer wieder einander. Dieses "Gefühl" ist maßgeblich für die Beziehungen zwischen Freunden, Eltern und Kindern, Ärzten und Patienten, Anwälten und Klienten, Regierung und Bürgern oder Kunden und Verkäufern, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und unter Geschäftspartnern, in gewissem Maße sogar gegenüber wildfremden Personen. Wir vertrauen Wettervorhersagen, wir vertrauen darauf, dass uns der Busfahrer sicher ans Ziel bringt und dass der Bankberater uns nicht übers Ohr haut.

Eine Gesellschaft ohne Vertrauen wäre unvorstellbar und würde nicht funktionieren. Doch was ist Vertrauen? Wie kommt es zustande? Wer vertraut wem, und warum?

Die immer größer werdende Bedeutung von Vertrauen hat dazu geführt, dass sich die verschiedensten Forschungsfelder über die Jahre an das Phänomen heran gewagt haben - von Philosophen, Soziologen, Psychologen bis hin zu Wirtschaftswissenschaftlern, was zu einer Vielzahl von Betrachtungsweisen und Blickwinkeln geführt hat.

Aufgrund der Komplexität der Begriffsbestimmung wird in dieser Arbeit schrittweise an das Thema herangeführt. Zunächst werden die unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze einiger ausgewählter Wissenschaften vorgestellt. Hiernach werden weitere wichtige Komponente und Teilaspekte des Vertrauens herausgearbeitet, damit schlussendlich ein Definitionsversuch unternommen werden kann. Im letzten Kapitel wird konkret auf Vertrauen in verschiedenen Lebensphasen eingegangen.

2. Der Weg zur Begriffsbestimmung

Vertrauen ist zwar im Alltag sowie auch in der Wissenschaft mittlerweile ein weit verbreiteter Begriff, jedoch gibt es keine Einstimmigkeit bezüglich der Begriffsklärung. Mitunter ein Grund hierfür sind die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Forschungsdisziplinen, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird.

Anzumerken sei an dieser Stelle, dass wichtige zusammenhängende Begrifflichkeiten wie Misstrauen, Vertrauenswürdigkeit, Zutrauen oder Zuversicht im nächsten Teil der Arbeit vorgestellt werden.

Wichtig zu wissen ist, dass Vertrauen meist eine zweistellige Relation ist. Das heißt es gibt immer einen, der vertraut (Vertrauensgeber) und einen, dem vertraut wird (Vertrauensnehmer). Jedoch können diese Relationen je nach Blickwinkel unterschiedlich aussehen, weshalb man von Ebenen der Vertrauensrelation sprechen kann (Rousseau, Sitkin, & Burt, 1989). Für diese gibt es jeweils unterschiedliche Bezeichnungen. Auf einige von ihnen wird in späteren Kapiteln näher eingegangen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 Vertrauensrelationen

Zudem unterscheiden sich grundlegend drei verschiedene Betrachtungsweisen der Forschungsansätze:

1) Die verhaltensorientierten Ansätze beschreiben Vertrauen als ein bewusstes, konkretes Handeln des Vertrauensgebers und eine freiwillige Kontrollabgabe an den Vertrauensnehmer (Coleman, 1990). Diese Sicht geht auf die des Sozialpsychologen Deutsch zurück. Nach ihm steigert Vertrauen die eigene Verwundbarkeit, vertrauensvolles Handeln erfolgt gegenüber einer Person, die nicht der persönlichen Kontrolle unterliegt und der potenzielle Schaden aus diesem Verhalten heraus ist möglicherweise größer als der Nutzen (Deutsch, 1962). Zündorf fügt dem hinzu, dass Vertrauen als freiwillige Abgabe/Übertragung der Kontrolle bedeutet. Dies geschieht über Handlungen oder Ereignisse in Erwartung einer nicht vorher festgelegtem Gegenleistung (Zündorf, 1986).
2) Im Mittelpunkt der verhaltensabsichtsorientierten Betrachtung steht ebenfalls der Vertrauensgeber. Jedoch besteht der Unterschied zur verhaltensorientierten Sichtweise, dass das Vertrauen nicht erst mit der Handlung beginnt, sondern bereits bei der Bereitschaft seitens des Vertrauensgebers, sich auf den Vertrauensnehmer zu verlassen (Cook & Wall, 1980).
3) In den einstellungsorientierten Ansätzen hingegen liegt der Fokus auf dem Vertrauensnehmer und das erwartete Verhalten des Interaktionspartners. Der Grundgedanke hierfür zeigt sich in der Sozialen Lerntheorie von Rotter, wonach Vertrauen eine Persönlichkeitseigenschaft ist. Somit ist Vertrauen das Ergebnis der Wahrnehmung des Vertrauensnehmers durch den Vertrauensgeber, ob dieser beispielsweise zuverlässig und kompetent ist (Rotter, 1967).

Die sogenannten hybriden Ansätze sehen eine Verbindung zwischen der verhaltensabsichtsorientierten und der einstellungsorientierten Betrachtungsweise. Moorman, Zaltman und Deshpande sind der Ansicht, dass bereits die Bereitschaft zu vertrauen andeutet, dass man eine positive Einstellung gegenüber dem Vertrauensnehmer hat und diesen schon als vertrauenswürdig eingeschätzt hat (Moorman, Zaltman, & Deshpandé, 1992).

2.1. Stand der Forschung

Vertrauen ist ein zumeist alltagssprachlicher Begriff und ist mittlerweile in sämtlichen Lebensbereichen anzufinden.

Die Bedeutung von Vertrauen für Individuum, Gesellschaft und Wissenschaft ist zweifellos. Jedoch war dies nicht immer so. Giffin kritisierte in den 60er-Jahren die mangelnde Aufmerksamkeit, die dieses Thema erfährt: "Everybody knows about trust, but few people have studied it" (Giffin, 1967). Allerdings gibt einen enormen Bedeutungszuwachs für dieses Phänomen, zu erkennen an der Masse von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Beiträgen, die die unterschiedlichsten Forschungsgebiete abdecken und verschiedene Schwerpunkte setzen.

Im Folgenden wird Vertrauen aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen vorgestellt - von Soziologie, Psychologie, Philosophie sowie Wirtschaftswissenschaften und Pädagogik. Es konnte natürlich nicht jeder Autor berücksichtigt und jeder Ansatz detailliert beschrieben werden - es wird lediglich ein Überblick geschaffen und die Facetten des Begriffs sollen veranschaulicht werden.

2.1.1. Vertrauen in der Philosophie

Die Wurzeln der Diskussion zum Vertrauensphänomen liegen in der Philosophie und gehen bis ins Altertum zurück. Diese prägten und beeinflussten die folgenden Forschungen. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. befasste sich Konfuzius in seinen Lehren mit dieser Thematik. Bei der Lösung zwischenmenschlicher Probleme und der Verbesserung der gesellschaftlichen Struktur, schreibt Konfuzius Vertrauen eine wesentliche Bedeutung zu. Die Grundsätze des Konfuzianismus Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Güte und Weisheit bauen auf Vertrauen auf, denn es ist nach seiner Lehre die Basis menschlicher Handlungen und das Prinzip des menschlichen Lebens, wodurch eine Gemeinschaft und eine staatliche Ordnung erst ermöglicht wird. Zwar gab es zu dieser Zeit keine Befunde oder Analysen zur Vertrauensentwicklung oder Ähnlichem, jedoch lässt sich aus dem chinesischen Schriftzeichen für Vertrauen (Hsin) einiges ableiten: Hsin setzt sich aus den Zeichen für Menschen und Sprache zusammen, welche somit unter dem Begriff Vertrauen zusammengefasst werden. Inhaltlich wird der Begriff mit Ehrlichkeit gleichgesetzt. Folglich bedeutet der chinesische Vertrauensbegriff das Einhalten eines Versprechens unter Freunden (Neumaier, 2010).

Zum wirklichen Gegenstand der Forschung wurde Vertrauen jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Der deutsche Philosoph und Altphilologe Rudolph Schottlaender vertritt die Theorie, dass Vertrauen auf den bisherigen Erfahrungen, dem Glauben "an das Spontane in die Zukunft" und an das Gute im Menschen beruht. (Schottlaender, 1957) (Petermann, 1992/96). Mit anderen Worten: Vertrauen basiert auf dem Verhältnis von Wissen (Erfahrungen) und Nichtwissen ("das Spontane in die Zukunft"), vergleichbar mit dem soziologischen Ansatz von Simmel. Schottlaender sieht Vertrauen auf personeller Ebene ebenfalls als Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft. Zwischenmenschliches Vertrauen wird als "Korrelation zweier Freiheiten" bezeichnet, d.h. es entsteht durch den freien Willen, Vertrauen einer anderen Person zu schenken, die wiederum ebenfalls frei ist in ihren Handlungen. Wird wahrgenommen, dass der jeweils andere treu und zuverlässig ist, entsteht Vertrauen. Der Aufbauprozess ist abhängig vom empfundenen Risiko, der Partner sei ggf. unzuverlässig, und davon, dass es trotz dieses Risikos aufgrund von einer wahrgenommenen Sicherheit zu einer willentlichen Abgabe der Kontrolle kommt (Schottlaender, 1955).

Eugen Diesel bezeichnet Vertrauen als ethisches Problem sowie als Voraussetzung für ein funktionierendes menschliches Zusammenleben. Jedoch zieht er die Wichtigkeit von Vertrauen in ökonomischen Beziehungen hinzu, die bisher in anderen philosophischen Ansätzen fehlte. Fehlt dieses Element, so löse sich die Gesellschaft auf. Er geht explizit auf die nationalsozialistische Zeit ein: „Im nationalsozialistischen Staate fehlte das echte Vertrauen. An seine Stelle waren [...] Zwangsmaßnahmen und Vorschriften getreten. Wo das unmittelbare menschliche Vertrauen fehlt, da läßt sich nur schwer atmen, so sehr ist das Leben auf das Element des Vertrauens angewiesen.“ und „ [...] eine Welt ohne Vertrauen [...] müßte wieder zugrunde gehen. [...] Denn Leben als Mensch heißt vertrauen können.“ (Diesel, 1948).

Er sieht ein Verhältnis zwischen den Begriffen Vertrauen, Wahrheit und Recht"In der Tat sind Wahrheit und Vertrauen so eng miteinander verwandt, daß das Vertrauen als eine seelische Folge von wahren, echten, ehrlichen Zuständen, somit als eine der Wahrheit entspringende Macht der Seele erscheint; umgekehrt, daß, wo einmal Vertrauen herrscht, echte und ehrliche Zustände die Folge zu sein pflegen. Ähnlich ist auch das Recht mit Wahrheit und Vertrauen verwandt" (Diesel, 1946). Ebenfalls sieht er eine Verwandtschaft zu dem Begriff Glauben. Dem Verluste des Glaubens folgt die Erlöschung des Vertrauens. Zudem spricht Diesel erstmals von weiteren Begriffen wie Zutrauen, Zuversicht, Hoffnung und Zuverlässigkeit (Diesel, 1946).

In vielen philosophischen Ansätzen basiert Vertrauen auf Ethik und Moral, d.h. es wird als Resultat von korrektem Handeln und Entscheiden verstanden.

Es können zwar Erklärungsansätze abgeleitet werden, jedoch sind in der Philosophie spezifische Aussagen über das Konstrukt, dessen Bedeutung und den Entstehungsprozess unklar und allgemein gehalten. Andererseits bieten diese Auffassungen eine Grundlage für weitere Forschungen über das Vertrauensphänomen.

2.1.2. Vertrauen in der Psychologie

In der Psychologie ist das Vertrauensphänomen ein bedeutsames Thema, das dort aber vielmehr als Persönlichkeitsvariable gesehen wird. Der Mensch an sich und dessen Persönlichkeit, die Voraussetzungen und Einflussfaktoren für Vertrauen stellen den Kern der psychologischen Forschung dar. Demzufolge ist Vertrauen ein Konstrukt, das ein Individuum entwickeln kann (Deckow, 2006).

Eines der bekanntesten Theorien ist das tiefenpsychologische Entwicklungsmodell von Erik H. Erikson. Er ist der Auffassung, dass Menschen vor allem in den ersten beiden Lebensjahren ein sogenanntes 'Urvertrauen' aufbauen zu ihren Bindungspersonen (meist die Eltern bzw. die Mutter), das ihr ganzes Leben prägt und sich nur noch unwesentlich verändert: „Vertrauen hängt von frühkindlichen Erfahrungen, vor allem von der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung ab. Unnötige Versagungen, Drohungen und persönliche Unzuverlässigkeit verhindern Vertrauen“ (Erikson, 1953). Ohne Vertrauen bilde sich zudem keine stabile Persönlichkeit (Petermann, 1992/96). Dieser Ansatz von Erikson und das Vertrauensphänomen in der Kindheit werden in einem späteren Kapitel umfassend behandelt.

Julian B. Rotter bezieht sich in seinen Sozialen Lerntheorien auf die Urvertrauens-Theorie Eriksons, geht jedoch davon aus, dass sich die Tendenzen zu Vertrauen und Misstrauen im Laufe des Lebens durch gute und schlechte Erfahrungen entwickeln und dass dadurch eine Persönlichkeitseigenschaft entsteht. Ferner bekräftigt er die Bedeutung von Kommunikation. Vertrauen basiert auf der Erwartung, sich auf ein kommuniziertes Versprechen verlassen zu können, da schon positive Erfahrungen damit gemacht wurden(Rotter, 1967).

Der amerikanische Sozialpsychologe und Konfliktforscher Morton Deutsch zieht die Betrachtung der situativen Einflüsse hinzu. Er vertritt die These, dass Vertrauen eine Handlungsentscheidung ist, die aus konkreten Situationen resultiert (Deutsch, 1958). Die Entscheidungswahl wird beeinflusst von den Folgen, die diese Entscheidung mit sich bringt. Handelt eine Person risikofreudig, schätzt sie zwar die Gewinnchance gering ein, jedoch werden die potenziellen Gewinne durch die Hinnahme des Risikos höher eingeschätzt als die denkbaren Verluste. Eine Person handelt vertrauensvoll, wenn die Gewinnchance als sehr wahrscheinlich gesehen wird, jedoch die potenziellen Verluste höher sind als die erreichbaren Gewinne (Deutsch, 1962). Die mögliche Gefahr des Verlustes wird laut Deutsch demgemäß immer in Betracht gezogen, denn wer vertraut, begibt sich der Gefahr, dass das Vertrauen missbraucht wird (Kenning, 2002).

Der 'behavioral scientist' Dale E. Zand unterscheidet die Begriffe Vertrauen und Zuneigung. Seiner Auffassung nach kann man einer Person gegenüber zwar Zuneigung empfinden, jedoch nicht zwingend Vertrauen: „Ein Vater liebt beispielsweise seinen zehnjährigen Sohn, vertraut ihm sein Auto jedoch nicht an. Man kann auch Vertrauen in einen Menschen haben, ohne Zuneigung zu ihm zu empfinden. Ein Flugpassagier hat Vertrauen zum Piloten, empfindet aber keine Zuneigung für ihn“ (Zand, 1983).

Unter dem psychologischen Blickwinkel werden zudem wichtige Abgrenzungen von Vertrauen als Persönlichkeitsvariable, Situationsvariable und Beziehungsvariable getroffen. Verschiedene Merkmale und Variablen beeinflussen nach Ansicht des jeweiligen Autors die Vertrauensbildung. Diese Begrifflichkeiten werden in einem späteren Kapitel näher erörtert.

2.1.3. Vertrauen in der Soziologie

Bereits im Jahr 1908 war Vertrauen für Georg Simmel ein Aspekt der Soziologie. In seinem Buch „Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ untersucht er das "Systemvertrauen". In seinen Ansätzen geht es vielmehr um das Vertrauen von Gruppen in soziale Geschäftsgefüge, statt zwischen Menschen untereinander. Diese Gruppen können Verbände, Familien oder Organisationen sein. Er bezeichnet Vertrauen als "eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft"(Simmel, 1908). In einer Gesellschaft gibt es bestimmte Werte und Normen, die das Verhalten der Menschen beeinflussen und für der Überwindung des Nichtwissens zugutekommen, somit wird eine Basis für das Vertrauen geschaffen. Der Grundgedanke liegt in der Theorie, dass Vertrauen "ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen [ist]. Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen" (Simmel, 1908). Simmel greift den philosophischen Ansatz von Schottlaender hierbei auf, wonach Vertrauen von Wissen (Erfahrungen) und Nichtwissen (von Schottlaender als "Glauben an das Spontane" bezeichnet) abhängt. Simmel fügt hinzu, dass sich Vertrauen nur entwickeln kann, wenn eine Wissensbasis vorherrschte.

In der Soziologie wird zwischen system-, strukturations- und handlungstheoretischen Ansätzen unterschieden (Loose & Sydow, 1994)(Funder, 1999)(Deckow, 2006).

Wesentliche systemtheoretische Ansätze bietet der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann. Der Grund für die soziale Komplexität innerhalb eines Systems sieht er in der Anzahl von Handlungs- und Entscheidungsalternativen. Vertrauen ist der notwendige Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität und ist notwendig, um individuelle und systemerhaltende Handlungsfähigkeiten sicherzustellen und die Handlungsmöglichkeiten auszuweiten (Luhmann, 1968).

Der Mensch - ein informationsverarbeitendes Wesen - ist demnach nur handlungsfähig, wenn er in der Lage ist, sinnvolle Formen der Informationsreduktion wahrzunehmen. Durch Vertrauen wird folglich die Komplexität menschlichen Handelns reduziert, gibt zudem Sicherheit und erweitert die Möglichkeit zu handeln, obwohl Vertrauen auch der Verzicht auf Kontrolle bedeutet und zu Enttäuschungen führen kann.

Luhmann schließt sich in seinen Ansätzen Simmel an und fügt ebenfalls hinzu, dass Vertrauen eine Mischung aus Wissen und Nichtwissen ist. Jedoch sei Vertrauen nicht rational begründbar und stellt immer ein Wagnis dar (Luhmann, 1968).

Eine strukturationstheoretische Sichtweise zeigt der Soziologe Anthony Giddens. Er ergänzt die Theorien von Luhmann und Simmel und sieht Vertrauen auch auf personeller Ebene: „Das Vertrauen in abstrakte Systeme reicht also nicht aus, um Sicherheiten gegenüber den Risiken in einer gefahrvollen Welt zu erlangen.“ (Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995). Er schließt sich den anderen Vertretern an, und geht ebenfalls davon aus, dass Vertrauen aufgrund von Unwissenheit notwendig ist. Die Handlungen der einzelnen Akteure des Systems sind nicht immer wie zu erwarten, die Akteure können grundsätzlich also anders handeln - dies führt zu der Ungewissheit. Folglich ist ein Vertrauen in diese Personen von großer Notwendigkeit (Giddens, 1984).

Handlungstheoretische Ansätze gehen zurück auf die Arbeiten von James Samuel Coleman, in denen er die Meinung vertritt, dass Vertrauen als eine Tauschhandlung unter Risiko zu verstehen ist, das von dem Verhalten des Partners abhängt: „treat trust as a phenomenon that parallels risk-taking behavior“ (Coleman, 1990). In diesem Rational-Choice-Ansatz gilt der Grundgedanke, dass die Akteure (Individuen, Gruppierungen, politische Parteien, Unternehmen) ihre Handlungen trotz unvollständiger und lückenhafter Informationen ausführen. Jede dieser Handlungen stellt jedoch ein Risiko für den Handelnden dar, das er hinnehmen muss, um für ihn selbst nutzenmaximierend agieren zu können (Funder, 1999). Das Funktionieren einer Gemeinschaft soll durch das Verhalten der einzelnen Akteure erklärt werden. Für die Vertrauensübergabe spielt vor allem eine Rolle, ob die Chance zu gewinnen für einen selbst höher liegt als die Chance zu verlieren (Coleman, 1991). In Colemans Ansatz wird jedoch, anders als bei den übrigen Ansätzen, der wichtige Aspekt der Unwissenheit außer Acht gelassen. Ebenso Emotionalität, kulturelle Prägungen und soziale Strukturen in Entscheidungssituationen, die Vertrauen beeinflussen (Preisendörfer, 1995).

2.1.4. Vertrauen in der Pädagogik

Auch in Erziehung und Bildung spielt Vertrauen eine große Rolle, was verschiedene Befunde in der pädagogischen Vertrauensforschung belegen. Er ist "ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens" und Erziehungsfaktor (Luhmann, 1968).

Martin Schweer beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit dem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. In seinem Sammelband "Interpersonales Vertrauen", in dem Theorien und empirische Befunde dargelegt werden, wird speziell auf das Thema "Vertrauen als pädagogischer Imperativ" eingegangen, insbesondere auf den „Vertrauensaufbau und [die] soziale Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden“. Es wurde deutlich, dass Lernende, die eine hohe Vertrauensintensität verspüren, mehr teilhaben, mit ihrer Schul/-Ausbildungssituation zufriedener sind und ihren eigenen Lernerfolg höher bewerten (Schweer, 1997).

Ebenfalls in Schweers Werk beschreibt Uhle drei Hinsichten von Vertrauen in der Pädagogik: "1) Erziehungsmittel im Sinne einer sozialen Einstellung, Disposition, Gesinnung oder Tugend von Erziehern, deren vielfältige Einzelhandlungen eben durch diese und andere Einstellungen als 'pädagogische' qualifiziert werden, weil sie hilfreich für den Umgang mit Educanden (zu Erziehende) sind; 2) Als Erziehungs- und Bildungsziel, weil der Erwerb, eine differenzierende Handhabung des Vertrauens und das Erleben von gegenseitigem Vertrauen wichtig für ein selbstbestimmtes Leben des Heranwachsenden ist und 3) Als Kombination der vorhergehenden Ansichten: das Erziehungsziel des Vertrauens wird durch das Erleben vertrauensvoller Einstellungen, aber auch durch soziale Atmosphären und Beziehungsstrukturen wie Freundschaft, Gegenseitigkeit, Nähe, Wärme, Verstandenfühlen usw. gefördert" (Uhle, 1997).

Bollnow vertritt die Meinung, dass Vertrauen nicht lediglich als Bedingung für erfolgreiches pädagogisches Handeln zu sehen sein darf, sondern "eben als Voraussetzung, dass Pädagogik überhaupt möglich ist" (Bollnow, 1997).

Bryk & Schneider konnten ebenfalls darlegen, dass der Lernerfolg in den Schulen höher ist, in denen ein hohes Maß an Vertrauen herrscht (Bryk & Schneider, 2002).

Vertrauen ist demnach kein Ziel der Erziehung, sondern ein Mittel. Durch "Erziehung in Freiheit", d.h. "ohne bewachende Erziehung", also ohne Verbote, Gebote, Strafen oder auch Belohnungen, kann das Vertrauen der Heranwachsenden gewonnen werden, "auch in sich selbst, um nicht mutlos zu wirken" (Uhle, 1997).

2.1.5. Vertrauen in den Wirtschaftswissenschaften

Die Forschungen in Bereichen der Soziologie und Psychologie macht sich auch die Ökonomie zu Nutze. Die gewonnenen Erkenntnisse werden auf die Wirtschaftswissenschaft übertragen, wodurch neue Implikationen erschließt werden können (Neumaier, 2010). Das Konstrukt Vertrauen wird in diesem Bereich erst seit kurzer Zeit betrachtet und gewann Anfang der 90er-Jahre an größerer Aufmerksamkeit (Fombrun, 1996)(Gilbert, 2007). In der Volkswirtschaftslehre hat Vertrauen einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen. Konsumenten, die der wirtschaftlichen Lage nicht trauen, schaden der Gesamtwirtschaft und dem Wachstum der Volkswirtschaft (Sell, 2004)(Wünschmann & Müller, 2008). Auch die Wirtschaftskrise ab 2008 hat deutlich gemacht, dass Vertrauen für ein funktionierendes Wirtschafts- und Finanzsystem notwendig ist und eine Basis des wirtschaftlichen Handel darstellt. Banken, die einander misstrauten, verliehen einander kein Geld mehr.

In der Betriebswirtschaftslehre stellte Neumann drei Forschungsbereiche fest (Neumann, 2007): 1) Vertrauen innerhalb und zwischen Organisationen, 2) Vertrauen im Rahmen von Geschäftskundenbeziehungen und 3) Vertrauen zwischen Unternehmen und Kunden.

In der organisationalen Vertrauensforschung geht es um die Beziehungen zwischen den Organisationen und Unternehmen. Auch für Geschäftsbeziehungen spielt Vertrauen eine wichtige Rolle, wie Spekmann schon früher feststellte: "the cornerstone to the strategic partnership is mutual trust" (Spekman, 1988). Innerhalb der Organisationen geht es primär um die Beziehungen zwischen Mitarbeitern untereinander und zu den Vorgesetzten sowie die Theorie/Leitsätze der Unternehmung selbst. Albach kritisiert, dass dieses Thema in den Leitsätzen zu selten und zu wenig aufgegriffen und weist darauf hin, dass Vertrauen das effizienteste Führungssystem sei (Albach, 1980).

Die Vertrauensforschung im Rahmen von Geschäftskundenbeziehungen hat insbesondere im Bereich der Händler-Zulieferer-Beziehungen und der Dienstleistungsbeziehungen Ende der 80er-Jahre immer mehr an Bedeutung gewonnen(Doney, Barry, & Abratt, 2007)(Johnson & Auh, 1998).

Erst im 21. Jahrhundert jedoch geriet die Beziehung von Kunden zu Marken und Unternehmen in den Fokus. Grund hierfür ist, dass innerhalb der Unternehmen die "Macht des Vertrauens", wie Diesel es nannte, nicht unterschätzt bzw. nicht wirklich wahrgenommen wurde (Diesel, Die Macht des Vertrauens, 1946). Seit Mitte der 90er-Jahre wird sich seitens der Unternehmen intensiver mit Kundenbindungen befasst. Es entstand ein breites Repertoire an Literatur zu dieser Fragestellung - von Beziehungsmarketing über Stammkundenmarketing und -pflege bis hin zu Kundenzufriedenheit und Beschwerdemanagement.

In den Wirtschaftswissenschaften wird Vertrauen mit den Begriffen Finanz-, Human- und Sozialkapital in Verbindung gebracht. Sozialkapital beschreibt die persönlichen Beziehungen. Es muss kein Austausch von Ressourcen stattfinden, so wie es beim Finanzkapital der Fall ist, sondern die Vertrauensbeziehung hat das Potenzial, als Kapital wirksam zu werden. „Beim Sozialkapital geht es immer um soziale Beziehungen, über die einzelne Akteure verfügen. Das können z.B. Freundschaftsbeziehungen sein, Vertrauensverhältnisse, Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, geschäftliche Verbindungen etc. Dabei gehen Akteure längerfristige Beziehungen ein, die immer wieder durch neue Interaktionen in ihrem Bestand bestätigt werden müssen" (Albrecht, 2002).

Die neueste Forschung der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zeigt, dass es verschiedene Blickwinkel auf das Thema Vertrauen in den Wirtschaftswissenschaften gibt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Vertrauen. Ansätze und Modelle der Vertrauensforschung
Untertitel
Einführung in die Vertrauensforschung
Hochschule
Hochschule Heilbronn, ehem. Fachhochschule Heilbronn
Note
1,0
Jahr
2015
Seiten
30
Katalognummer
V461349
ISBN (eBook)
9783668904590
ISBN (Buch)
9783668904606
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vertrauen, ansätze, modelle, vertrauensforschung, einführung
Arbeit zitieren
Anonym, 2015, Vertrauen. Ansätze und Modelle der Vertrauensforschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/461349

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