Nagib Mahfuz' Kairo im Kontext der kanonischen Metropolenliteratur


Magisterarbeit, 2004

83 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Impuls & Tradition: Ägyptische Literatur im 20.Jahrhunderts
II.1 Europas Einfluss: Neue Wege des geistigen Lebens
II.2 Der Anbruch der Moderne

III. Großstadt und Geschichte
III.1 Versuch einer gattungstheoretischen Definition
III.2 Historische Orientierung
III.3 Die Geburtsstunde des modernen Kairo

IV. Motive der Stadt
IV.1 Das Leiden an der Stadt: Der entfremdete Einzelne
IV.1 a Die Einsamkeit des Anti-Helden: Mahfūz und Poe
IV.1 b Exkurs: Der Erotomane und die weibliche Stadt
IV.2 Die Macht des Wortes: Presse im Großstadtroman

V. Poetik der Stadt
V.1 Formen der Stadt-Referenz
V.2 Der Rhythmus der Stadt
V.3 Symptome der Veränderung

VI. Abschlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Anhang

I. Einleitung

Die Untersuchung von so genannter Metropolenliteratur ist in den letzten Jahren zu einem der bevorzugten Themen der Literaturwissenschaft geworden. Die Forschung bezieht sich bei ihren Betrachtungen jedoch allzu häufig auf kanonische Autoren der westlichen Weltliteratur wie Dickens, Balzac, Zola oder Döblin. Werke aus anderen Kulturkreisen und literarischen Traditionen werden leider oft außer Acht gelassen.

Die vorliegende Arbeit möchte deshalb einen beliebten und viel bearbeiteten Bereich der Literaturwissenschaft mit dem Werk eines in der westlichen Forschung weniger populären Autors in Zusammenhang bringen. Es sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieses Werkes mit so genannten „kanonischen“ Texten der Großstadtliteratur im Hinblick auf ihre Metropolenreflexion untersucht werden.

Nagīb Mahfūz, um dessen Arbeiten es im Folgenden gehen wird, zählt in der arabischen Welt seit über 60 Jahren zu den bekanntesten und meist gelesenen Autoren. Sein Stellenwert in der arabischen Literaturwissenschaft kommt etwa dem von Thomas Mann in der deutschen Forschung gleich[1] und seine Bücher gehören an den ägyptischen Universitäten nicht nur in literaturwissenschaftlichen, sondern auch in geschichts- und politikwissenschaftlichen Fächern zu den Standardwerken[2]. Erdmute Heller schreibt sehr treffend über Mahfūz:

„Wenn, um mit Georg Lukac zu sprechen, die Stadt die Wiege des Romans ist, so kann man sagen, Nagib Machfus ist der Romancier der größten, faszinierendsten Stadt des Orients: Kairos“.[3]

1911 in Kairo geboren ist Mahfūz ein Zeitzeuge aller wichtigen politischen

Ereignisse des 20. Jahrhunderts in seiner Heimat. Von der Befreiung von der britischen Besatzung über die zwei Weltkriege bis zur endgültigen Unabhängigkeit Ägyptens hat er die Entwicklung seiner Geburtsstadt auf dem Weg zu einer der modernsten Metropolen der arabischen Welt miterlebt. Sein gesamtes Werk ist geprägt von diesen Eindrücken der Veränderung und Entwicklung in Kairo, vom Wandel der Menschen, dem Verfall alter Traditionen und dem Hereinbrechen neuer Ordnungs- und Wertesysteme. Der Stellenwert von Mahfūz’ Heimatstadt Kairo, die er mit Ausnahme von drei kurzen Auslandsbesuchen nie verlassen hat, ist kaum zu übersehen. Dennoch ist die Bedeutung, die diese Stadt in seinrm Werk spielt, erstaunlicherweise bislang nur am Rande untersucht worden[4]. In den Interpretationen der Mahfūz’schen Texte kommt ihr im Allgemeinen nicht mehr als die Rolle des Settings zu.

Die vorliegende Arbeit möchte die Relevanz der Stadt Kairo für die Interpretation des Werkes von Nagīb Mahfūz analysieren. Außerdem soll auch das Verhältnis seiner Werke zu denen der klassischen Großstadtliteratur beleuchtet werden. In wie weit findet Mahfūz für seine Heimatstadt eine eigene Poetik, und wie sehr orientiert er sich an den westlichen Vorbildern? Welche Rolle spielen klassische Großstadtmotive der abendländischen Literatur, und in wie weit werden sie, um der Andersartigkeit des orientalischen Kulturkreises gerecht zu werden, modelliert? Dies sind die Fragen, mit denen sich diese Arbeit vornehmlich beschäftigen wird.

Natürlich stellt sich für ein derartiges Vorhaben auch die Frage nach der Textauswahl. Das Werk von Mahfūz umfasst nicht weniger als 50 Romane und Erzählbände, hinzu kommen unzählige Artikel, Essays und drei autobiographische Schriften[5]. Die Wahl eines geeigneten Textes wird außerdem dadurch erschwert, dass der Großteil seiner fiktionalen Texte im Kairo des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist.

Die Entscheidung, die Kairo-Trilogie als repräsentativen Text aus dem Werk von Nagīb Mahfūz auszuwählen und sie auf ihre Metropolenreflexion hin zu untersuchen, ist aus mehreren Gründen nahe liegend. Ihr Umfang von fast 1500 Seiten bietet ausreichend Raum für Darstellung und Beschreibung von großstädtischen Phänomenen und Charakteren. Mahfūz erzählt in den drei Büchern „Bain al-Qasrain“ (Zwischen den Palästen), „Qasr asch-Schauq“ (Palast der Sehnsucht) und „As-Sukkarria“ (Das Zuckergässchen) die Geschichte der Kairener Kaufmannsfamilie Abd-Al-Gawwad. Die Romane umfassen einen Zeitraum von fast 27 Jahren zwischen 1917 bis 1944, in dem sich in Kairo vieles bewegt und verändert hat. Die 1956 in Ägypten erschienene Trilogie bildet ein breites Panorama der Stadt Kairo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Sie bietet ein weites Spektrum an Eindrücken, nicht nur von den Menschen und ihrem Leben, sondern auch von der Stadt selbst. Innerhalb von Mahfūz’ Werk stellen die drei Bände den idealen „Stadt-Text“[6] dar.

Außerdem ist die Trilogie eines der bekanntesten Werke des Autors und in der Wissenschaft vielfach untersucht worden. Der Zugang zu diesen Romanen ist daher leichter als zu anderen, kleineren Werken. Die Trilogie gilt neben dem Roman „Awlād Haritina“ (Die Kinder unseres Viertels) als dasjenige Werk, das Nagīb Mahfūz 1988 den Literaturnobelpreis einbrachte.

Als Vergleichstexte aus der klassischen Metropolenliteratur sollen Erzählungen von James Joyce, Edgar Allen Poe und Nikolaj Gogol sowie die Romane „Petersburg“ von Andrej Belyj und „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos herangezogen werden. Diese Autoren sind in diesem Zusammenhang von besonderem Belang, da Mahfūz selbst sie als seine literarischen Vorbilder bezeichnet[7]. Es wird interessant sein, zu prüfen, in wie weit Nagīb Mahfūz Einflüsse aus diesen Texten der Weltliteratur für seine Darstellung der Stadt aufgreift und modifiziert, wie er Motive und Poetik dem Rhythmus seiner Heimatstadt anpasst und so seine Werke unverwechselbar zu Kairener Romanen werden.

Vor einer Erörterung der Stadtmotive und der spezifischen Poetik der Metropolentexte in den Kapiteln IV und V soll jedoch ein Überblick über die ägyptische Literaturtradition gegeben werden, um das Werk von Nagīb Mahfūz adäquat verorten und betrachten zu können. Eine literarhistorische Einordnung scheint in diesem Fall besonders wichtig, um auch die Zusammenhänge mit der europäischen und amerikanischen Literaturgeschichte hinreichend verdeutlichen zu können.

Im Kapitel III soll intensiver darauf eingegangen werden, welche abendländischen Einflüsse im Werk von Nagīb Mahfūz zu finden sind und wie sich der literarhistorische Zusammenhang der Kairo-Trilogie mit den hier herangezogenen Vergleichstexten gestaltet.

Am Schluss der Arbeit wird der Zusammenhang zwischen den so genannten kanonischen Texten der Großstadtliteratur und der Kairo-Trilogie deutlich sichtbar sein und es wird evident, dass die Großstadt als erlebtes Moment nicht nur in der europäischen und amerikanischen Literatur ihre Spuren hinterlassen hat.

II. Impuls und Tradition: Ägyptische Literatur des 20. Jahrhunderts

Vergleicht man Artikel, Aufsätze oder Rezensionen zu den Werken von Nagīb Mahfūz in der deutschen und der arabischen Kritik, so lässt sich eine interessante Divergenz feststellen. Besonders auffällig ist dies in Artikeln anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 1988. In deutschen und englischen Zeitungen wird zwar die Fülle des Mahfūz’schen Gesamtwerks gelobt, doch ist eine allgemeine kritische Tendenz erkennbar, die den vermeintlich traditionalistischen Stil des Autors bemängelt. Ihm wird vorgeworfen, zwar Themen aus der europäischen Literatur zu übernehmen, ja zu kopieren, aber nicht die angemessene Poetik zu finden. Mangelnde Sprachexperimente und Sprachreflexion sind die Hauptangriffspunkte, die die Kritik vorzubringen hat[8]. Sein Stil, so der allgemeine Tenor, sei am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß.

Betrachtet man nun die arabische Gegenseite, so sollte man unter den Journalisten und Intellektuellen einstimmige Freude und Stolz darüber erwarten, dass zum ersten Mal einem arabischsprachigen Autor der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird. Doch dies ist nicht ausschließlich der Fall. Eine zweite, ebenfalls verbreitete Position wirft dem neuen Nobelpreisträger vor, sich zu sehr an der westlichen Kunstauffassung orientiert und nur deshalb den Geschmack der Schwedischen Akademie getroffen zu haben. Kritiker in den eigenen Reihen feinden Mahfūz wegen seines „unarabischen“ Stils an, und bezichtigen ihn, in seinem Werk seine literarischen Ursprünge zu verleugnen. Sie sehen den Nobelpreis als „einen Preis, mit dem […] die Anerkennung und Befolgung westlicher ästhetischer Kriterien belohnt werde“.[9]

Beide Seiten greifen Nagīb Mahfūz aus demselben Grund, jedoch mit gegensätzlichen Argumenten an. Es ist offensichtlich, dass sowohl die europäische, als auch die arabische Kritik es versäumt hat, die literarischen Zusammenhänge, Traditionen und Einflüsse von Mahfūz’ Werk adäquat zu untersuchen. Während die europäischen Rezensenten dem Missverständnis erliegen, ein arabischer Autor des 20. Jahrhunderts müsse ebenso schreiben wie ein europäischer Zeitgenosse, verweigert die arabische Kritik die Annahme modernerer Techniken und Themen, die jede ästhetische Entwicklung letztlich mit sich bringt.

Nagīb Mahfūz selbst hat bei verschiedenen Gelegenheiten zu diesen Vorwürfen Stellung genommen und seinen Stil erklärt und verteidigt:

„Ich wusste, dass ich in einem konventionellen Stil schreibe, dem Virginia Woolf unlängst einen Nachruf geschrieben hat. Aber die Erfahrung, die ich dichterisch vermitteln wollte, brauchte diese Form der Darstellung. Ich fühlte, ich würde nur ein Epigone sein, wollte ich versuchen, in einem Neo-Stil zu schreiben. Ich entschied mich für die realistische Erzählweise, die wir in Ägypten bis dahin nicht kannten“.[10]

Angesichts dieser Aussage von Mahfūz und der Positionen seiner Kritiker scheint mir eine ausführliche Betrachtung sowohl der europäischen Einflüsse als auch der genuinen orientalischen Traditionen gleichermaßen bedeutsam. Lediglich mit Hilfe der angemessenen Folie kann eine korrekte komparatistische Analyse der Kairo-Trilogie gewährleistet werden. Der arabischen Literatur des 20. Jahrhunderts liegt eine Tradition zu Grunde, die sich in vielerlei Hinsicht von der westlichen unterscheidet, und die literarische Entwicklung in Ägypten kann mit der der abendländischen Literatur nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden. Aus diesem Grund soll das folgende Kapitel einen kurzen Überblick über die moderne ägyptische Literaturgeschichte geben. Es soll aufgezeigt werden, von welchen Vorbildern Nagīb Mahfūz gelernt hat, und wie er seinerseits später die arabische Literatur beeinflusste.

II. 1 Europas Einfluss: Neue Wege des geistigen Lebens

Das Ende des Osmanischen Reiches und die Besetzung Ägyptens durch die Franzosen im Jahre 1798 markieren den Zeitpunkt der Öffnung des Landes nach Europa. Die Jahre der osmanischen Herrschaft waren für das intellektuelle Klima in Ägypten keine sehr fruchtbare Phase[11], und so wurden die neuen Möglichkeiten für technische Entwicklung, Bildung und Information, die die französischen Besatzer aus Europa mit in das Land brachten, dankbar aufgenommen[12]. Die literarischen Traditionen Ägyptens aus der vorislamischen und mamelukischen Zeit, die hauptsächlich auf lyrischen Texten basierten, waren unter den Osmanen nahezu der Vergessenheit anheim gefallen. Während sich im Europa des 16., 17., und 18. Jahrhunderts verschiedenste literarische Strömungen entwickeln konnten, unterlag die ägyptische Literatur dem Stillstand. Das geschriebene Wort hatte künstlerisch keinerlei Wert und besaß lediglich in Form von Texten zur religiösen und geschichtlichen Erziehung eine Daseinsberechtigung.[13]

Bis zum beginnenden 19. Jahrhundert gab es in Ägypten keine Möglichkeiten zum Buch- oder Zeitungsdruck. Manuskripte wurden handschriftlich vervielfältigt und waren nur zu sehr hohen Preisen erhältlich, eine regelmäßig erscheinende Presse existierte nicht. Erst Napoleon lässt 1799 die erste arabische Druckerpresse ins Land bringen, um französische Proklamationen in arabischer Sprache zu drucken.[14]

Die kurze Zeit der französischen Besatzung dient gleichsam als Vorbereitung für die Begründung der ägyptischen Herrscherdynastie durch Mohammed Ali im Jahre 1805. Das Vorbild der fortschrittlichen Franzosen vor Augen, begann Mohammed Ali, die Neustrukturierung und Modernisierung der ägyptischen Gesellschaft voran zu treiben. Technische Standards der westlichen Welt wurden in Ägypten eingeführt, ein strukturierter Verwaltungsapparat in Kairo und Alexandria etabliert und das Militärwesen nach dem europäischen Vorbild reformiert.[15]

Auch das intellektuelle Leben und das Bildungswesen erfuhr unter der Herrschaft Mohammed Alis wieder stärkere Förderung. Er gründete eine Reihe technischer Schulen und Militärakademien, die sich in ihren Schwerpunkten stark von dem traditionellen, religiösen Erziehungssystem der Azhar unterschieden.

Mohammed Ali holte Lehrer aus Frankreich, Italien und England nach Ägypten, um die Schüler in Naturwissenschaften und Fremdsprachen zu unterrichten. Zuvor war die Lehrtätigkeit an den ägyptischen Schulen fast ausschließlich Geistlichen vorbehalten.

Außerdem schickte Ali zwischen 1826 und 1831 Studentengruppen unter der Leitung des Gelehrten Imām Rifā‛a aţ-Ţahţāwi ins Ausland, hauptsächlich nach Frankreich, um dort die europäische Kultur und Wissenschaft kennen zu lernen und zu studieren[16]. Diesen Studenten sind die ersten, wenn auch noch recht uneleganten Übersetzungen von Werken der französischen Literatur in die arabische Sprache zu verdanken. Aţ-Ţahţāwi selbst war es, der 1834 mit „Waqā’i‛ Tlīmāk“ (Tlimaks Erlebnisse) das erste arabischsprachige Prosawerk vorlegte und damit die so genannte Nahdah, die arabische literarische Aufklärung begründete.[17]

In Alis Regierungszeit fällt auch die Geburtsstunde des ägyptischen Journalismus. Für seine neuen Schulen benötigte Ali Bücher und so ließ er Druckerpressen aus Europa ins Land bringen, mit denen ab 1828 nicht nur die erste Ägyptische Zeitung „al-Waqā’i‛ al-Misriyyah“ gedruckt wurde, sondern auch Übersetzungen europäischer Literatur, klassische arabische Dichtungen von beispielsweise Ibn Khaldūn und Lehrbücher verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen.[18]

Der erleichterte Zugang zu einheimischer und ausländischer Literatur wirkte sich ausgesprochen fruchtbar auf die literarische Produktivität der arabischen Dichter des 19. Jahrhunderts aus. Die Werke, die in den Jahren um 1830 in arabischer Sprache verfasst wurden, orientierten sich einerseits an der europäischen Literatur der Aufklärung. Doch auch die alten arabischen Erzähltraditionen, die unter mamelukischer und osmanischer Herrschaft beinahe vergessen worden waren, erlebten während der Nahdah eine Renaissance[19]. Aţ-Ţahţāwi betonte trotz seiner ausgesprochenen Begeisterung für die europäische Kultur die Nähe seines Werkes zu den traditionellen Dichtern seiner Heimat:

„Bekanntlich sind Darstellung und Dargestelltes in meinen Werken episodenhaft wie in den Makamen des al-Harīrī“.[20]

Es entwickelte sich eine neue Form literarischer Texte, die sich aus den verschiedenen, neu gewonnenen Einflüssen zusammensetzte. Nach Rifā‛a aţ-Ţahţāwi war ‛Ali Mubārak, der zeitweise auch das Amt des Bildungsministers innehatte, die zweite treibende Kraft der literarischen Aufklärung. Neben seinem Prosastück „‛Alam ad-Dīn“ (1880) gelten vor allem seine poethologischen Schriften als richtungsweisend für die gesamte arabische Literaturentwicklung[21]. Die Dichter entdeckten die verschiedenen literarischen Gattungen und adaptierten Formen und Themen der europäischen Vorbilder in ihre Sprache. 1847 wurde von Mārūn an-Naqqāsh das erste arabischsprachige Theaterstück verfasst.

Bis zur Jahrhundertwende wird in der ägyptischen Dichtung hauptsächlich mit Motiven und Formen aus den europäischen Traditionen experimentiert und die Anzahl literarischer Übersetzungen nimmt stetig zu[22]. Die 650 Jahre währende kulturelle Stagnation, der man unter der Herrschaft der Mameluken und Osmanen ausgesetzt war, wird aufgearbeitet und die fehlende Entwicklung langsam nachgeholt. Nur wenigen Autoren gelingt es, sich mit ihren Werken in die Literaturgeschichte einzuschreiben, und so bildet die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam die Vorbereitungsphase für die nächste Generation von Dichtern, die sich durch ein sehr viel höheres Maß an Literarizität und Sprachvermögen auszeichnen wird. Dennoch ist die weitere Entwicklung der Literatur in Ägypten, wie sie fortan stattfindet, ohne diese Pionierzeit nicht denkbar.

II.2 Der Anbruch der Moderne

Den nächsten großen Schritt in der Entwicklung des ägyptischen Geisteslebens markiert 1908 die Gründung der Kairoer Universität. Dort wird erstmals im arabischen Raum eine Abteilung für europäische Sprachen und Literatur eingerichtet, was eine systematischere und umfassendere Beschäftigung mit den europäischen Kulturen ermöglicht, als es die vereinzelten Exkursionen von aţ-Ţahţāwi und seinen Studenten erlaubten. Während die literarische Moderne in Europa ihren Zenit bereits überschritten hat, entdecken ägyptische Autoren in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts die literarischen Gattungen der Moderne: den Roman und die Erzählung. Die ägyptische Literaturgeschichte ist gegenüber der europäischen um etwa einhundert Jahre im Verzug, als 1914 der erste ägyptische Roman erscheint. „Zainab“ von Muhammad Hussain Haikal läutet in der arabischen Dichtung die literarhistorische „Moderne“ ein:

„Sie wird von den arabischen Literaturwissenschaftlern „ibtida‛iya“ oder „Rūmansīya“ genannt, in welch erstem Begriff die Bedeutung „Erneuerung“, „Neuschöpfung“ einerseits und „Phantasie“, „Einbildungskraft“, „Vorstellungskraft“ andererseits enthalten sind. Der Begriff „Rūmansīya“, zuweilen auch „Rūmantīkīya“ genannt, ist der europäischen Terminologie entlehnt, darf aber nicht ohne weiteres mit dem deutschen Romantik-Begriff identifiziert werden.“[23]

Anders als viele seiner Zeitgenossen schrieb Haikal mit „Zainab“ nicht das, was Mohammed Badawi „historical fiction“ nennt. Themen aus der Geschichte Ägyptens oder der islamischen Welt im Allgemeinen waren in den Anfängen der arabischsprachigen Prosa beliebte Sujets[24], auch Nagīb Mahfūz verfasste zu Beginn seiner Karriere zwischen 1938 und 1943 drei historische Romane[25]. Haikal thematisiert in seinem Roman erstmals das zeitgenössische ägyptische Milieu der Landbevölkerung und widmet einen großen Teil des Buches detaillierten Naturbeschreibungen. Die Geschichte des Romans dreht sich zum einen um die Bauerntochter Zainab, die nach ihrer Heirat mit Hassan hin- und hergerissen ist zwischen der Loyalität zu ihrem Ehemann und der Liebe zu Ibrāhīm, der aus Skrupel nicht um Zainab angehalten hat. Als Ibrāhīm zum Militärdienst in den Sudan geschickt wird, versinkt Zainab in Schwermut und stirbt schließlich an Tuberkulose. Der zweite Handlungsstrang erzählt die Geschichte von Hamīd, einem jungen Studenten aus Kairo, der seine Familie zu den Feiertagen in dem Dorf besucht, in dem auch Zainab lebt. Hamīd hofft, seine Cousine ‛Azīza heiraten zu können, die er seit seiner Kindheit liebt. Enttäuscht muss er feststellen, dass bereits eine anderweitige Heirat für ‛Azīza arrangiert wurde. Als auch Zainab Hamīd ablehnt, da sie bereits mit Hassan verlobt ist, kehrt der junge Mann desillusioniert in die Anonymität Kairos zurück.[26]

Haikal beschreitet mit „Zainab“ thematisch wie stilistisch einen neuen Weg in der ägyptischen Literatur. Seine Protagonisten betreiben eingehende Reflexionen ihrer Gefühlslagen und Stimmungen, und machen damit erstmals den Einfluss des europäischen Realismus sichtbar. Der Schwerpunkt des Romans, der sich auch in dem Untertitel „Manāzir wa-ahlāq rīfiyya“ (Szenen und Charaktere aus dem Landleben) ausdrückt, liegt nicht in dem eigentlichen Plot, der Liebesgeschichte von Ibrāhīm und Zainab oder dem unglücklichen Schicksal von Hamīd, sondern in der Darstellung der Natur und der Seelenzustände der Protagonisten. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich orientiert sich Haikals Roman an der Gegenwart. Der Autor erteilt der artifiziellen Sprache arabischer Dichtung des 19. Jahrhunderts eine Absage und verfasst seinen Text in einfacher und klarer Prosa.

Obgleich „Zainab“ viele Schwächen in Bezug auf die Komposition der Charaktere oder die Stringenz der Handlung aufweist[27], gilt Haikals Werk wegen seines spezifisch ägyptischen Sujets, seiner einheitlichen Handlung und seiner klaren, ungekünstelten Sprache dennoch als der erste wirkliche ägyptische Roman. Haikal schaffte mit „Zainab“ für Romanciers und Publikum gleichermaßen eine Basis, die den Ruhm von Autoren wie Nagīb Mahfūz überhaupt erst ermöglichte.

Die formale politische Unabhängigkeit Ägyptens im Jahre 1919 führte ab den 20er Jahren zu einem außergewöhnlich fruchtbaren intellektuellen Klima:

„The 1920s were an exceptional period for Egyptian cultural expression. Scores of daily newspapers and hundreds of weekly or monthly publications appeared on a regular or semi-regular basis. Cultural debate centered on the respective merits of “old” and “new” (qadīm/ jadīd), synonyms for Arabo-Islamic versus Western ideas”.[28]

In diesem Umfeld bildete sich eine neue Generation von Intellektuellen heraus, die fortan das geistige Leben Kairos mitbestimmten, unter ihnen Taha Hussein, Salāma Mūsa und Ibrāhīm ‛Abd al-Qadir al-Mazinī. Nachdem jeder dieser Männer zumindest einen Teil seiner Ausbildung in Europa absolviert hatte, profilierten sie sich zunächst vor allem als literarische Übersetzer. Die ersten zarten Versuche aus den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts gelangten unter ihnen zu einem hohen Maß an Eleganz und Perfektion.[29]

Doch auch die eigenen Werke vor allem von Taha Hussein hatten großen Einfluss auf die ägyptische Literaturszene. Nach der Lektüre von Husseins autobiographischem Roman „al-Ayyām“ („Die Tage“/ dt. „Kindheitstage“) manifestierte sich beim jungen Nagīb Mahfūz der Wunsch, sein Leben in ähnlicher Form aufzuschreiben[30]. Auch die anderen Werke Taha Husseins, namentlich das in der arabischen Welt kontrovers diskutierte Buch „Fil-shi‛r al-jāhilī“ („Über die vorislamische Dichtung“) von 1926 beeinflussten Mahfūz schon zu dessen Schulzeiten. Husseins Buch regt zur kritischen Re-Lektüre der islamischen Texte und Mythen an und analysiert unter diesen neuen Aspekten klassische arabische Dichtung. Unter dieser Anleitung, so Mahfūz, habe er erneut die arabischen Klassiker al-Ma‛arrī und Ibn al-Rūmī gelesen und sich dort inspirieren lassen.[31]

Ein weiterer Mentor für Nagīb Mahfūz war Salāma Mūsa. „Von Salāma Mūsa habe ich gelernt, an Wissenschaft, Sozialismus und Toleranz zu glauben“ sagt Mahfūz selbst[32]. Sasson Somekh sieht den Einfluss von Mūsa noch weitreichender. Mūsas Werken habe Mahfūz sein Interesse an Darwin, Freud, Marx, Kant, Tolstoi, Ibsen und Shaw zu verdanken. In seinem ersten Jahr an der Kairoer Universität, wo Mahfūz ab 1930 Philosophie studierte, lernt er Salāma Mūsa persönlich kennen und publiziert fortan regelmäßig Artikel zu philosophischen Themen in dessen Zeitschrift „al-Majallah aj-Jadīda“. Die erste Begegnung mit diesem Meister hat Mahfūz später im dritten Band der Trilogie festgehalten, wo er Mūsa die Gestalt des sozialistischen Verlegers Adli Karīm gibt, in dessen Zeitschrift der junge Ahmed Schaukkat seine journalistische Karriere beginnt. Trotz des großen Einflusses von Salāma Mūsa wird Mahfūz nie zum engagierten Marxisten, obgleich er ein Leben lang mit der sozialistischen Ideologie sympathisiert.[33]

Nach dem Abschluss seines Studiums 1934 und weiteren literarischen Gehversuchen unter der Anleitung Salāma Mūsas begann Mahfūz zunächst mit einer Doktorarbeit über Ästhetik. Dieses Vorhaben brachte er jedoch nie zu Ende, da er das Gefühl hatte, sich zwischen einer Laufbahn als Philosoph oder als Schriftsteller entscheiden zu müssen.

Obgleich erzählende Prosa im Allgemeinen und der Roman im Speziellen nach wie vor in Ägypten als niedere Form der Literatur betrachtet wurden, blieb Mahfūz von Beginn seiner Laufbahn an dieser Gattung treu. Nachdem er, wie oben bereits erwähnt, zunächst drei Romane über das Pharaonische Zeitalter verfasst hatte, erstarb sein Interesse für die historischen Themen schnell wieder, obgleich er ursprünglich eine Folge von 40 historischen Romanen geplant hatte, die die Geschichte Ägyptens illustrieren sollte.[34]

1945 erschien der Roman, der nicht nur einen Einschnitt im Werk von Nagīb Mahfūz, sondern in der gesamten ägyptischen Literaturgeschichte markiert. Unter den frischen Eindrücken des zweiten Weltkriegs schreibt Mahfūz „Al-Qāhira aj-Jadīda“ (Das neue Kairo), den ersten aus einer langen Reihe von Kairo-Romanen. Der Roman thematisiert die Veränderung von Menschen und Stadt durch die politischen Begebenheiten der ersten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts. Veränderung als Leitthema zieht sich auch durch die nächsten Romane „Khan al-Khalili“ und „Zuqāq al-Midaq“ von 1946 und 1947, und kulminiert schließlich in der Kairo-Trilogie von 1956. Mahfūz ist der Erste, der sich die Stadt und ihre Bewohner explizit zum Thema nimmt und seinem Pessimismus nach den zwei Weltkriegen durch die Illustration der Stadt im Roman Ausdruck verleiht. Er zeichnet Individuen, die repräsentativ für eine ganze Generation stehen, und begründet damit eine Neuheit in der Geschichte der ägyptischen Erzählprosa. Die Einflüsse seiner europäischen Idole Mann, Tolstoi, Dostojewski und Joyce werden in diesen Büchern evident. Doch auch die Spuren seiner arabischen Vorbilder al-Manfalūti, Ibn al-Rūmī, Haikal und Taha Hussein bleiben in seiner Sprache und seinen Bildern sichtbar. Durch die Bezugnahme auf ägyptische Volksdichtungen und – lieder hat sich Nagīb Mahfūz einen eigenen, genuinen Stil geschaffen, der in der ägyptischen Literatur bis dahin unbekannt war.

Mittlerweile werden Mahfūz’ Themen und Stil bei jüngeren ägyptischen Autoren als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Dennoch gilt er als der unangefochtene Meister des ägyptischen Romans, den nach wie vor junge Dichter der arabischen Welt ihr Vorbild nennen.[35]

III. Großstadtliteratur und Geschichte

Um die Kairo-Trilogie in die Tradition der Metropolenliteratur einzureihen, muss die Beschaffenheit des Gegenstandes „Metropolenliteratur“ zunächst geklärt und definiert werden. Das folgende Kapitel soll problematisieren, was einen literarischen Text zu einem spezifischen Großstadttext macht. Kann es überhaupt inhaltliche oder formale Kriterien geben? Welche Rolle spielen die historischen Entstehungsumstände eines Werkes? In Annäherung an diese Fragestellungen sollen zunächst einige Positionen aus der Literaturwissenschaft vorgestellt und diskutiert werden. Anschließend folgt eine kurze Betrachtung der Geschichte der Großstadtliteratur. Diese historische Orientierung soll helfen, die in dieser Arbeit herangezogenen Vergleichstexte von Nikolaj Gogol, Edgar Allan Poe, James Joyce, Andrej Belyj und John Dos Passos im Kontext der Metropolenliteratur einzuordnen. Ein kurzer Blick auf die Entwicklungsschritte Kairos zur modernen Großstadt und auf die Beschaffenheit der spezifischen Kairo-Literatur bildet den Abschluss dieses kurzen Kapitels.

III. 1 Versuche einer gattungstheoretischen Definition

Ein literarisches Genre zu definieren gestaltet sich selten einfach und ist laut Volker Klotz sogar „wissenschaftlich nutzlos“:

„[…] taugen doch solche Kennmarken des Seeromans, Arbeiterromans, Kriegsromans kaum mehr als die entsprechenden Abteilungen von Leihbücherein, die dem Kunden mit Wildwest-, Frauen-, Berg- und Arztromanen aufwarten. Es sind grobe Orientierungshilfen, weit entfernt von literarischen Kategorien“.[36]

Dennoch stellt Klotz eine Richtlinie für das auf, was er in seinem Buch „Stadtroman“ nennt. Trotz des Widerstandes gegen die Subsumierung literarischer Werke unter ein spezifisches Etikett scheint es nötig, für eine literaturwissenschaftliche Analyse gewisse „Landmarken“ zu setzten. Es muss klar werden, auf welche Merkmale hin ein Text analysiert wird, anderenfalls wird die gesamte Untersuchung halt- und nutzlos.

Einer der Ersten, die sich wissenschaftlich mit dem Phänomen der Metropole in der Literatur auseinander gesetzt haben, ist Gerhard Hermann. In seinem 1931 erschienen Bändchen „Der Großstadtroman“ formuliert er drei Bedingungen, die ein Metropolentext erfüllen soll:

„1. [Der Großstadtroman] muss das Großstadt-Lebensgefühl nicht nur als eine vage Lebensbestimmung zum Ausdruck bringen, etwa in einem besonders spöttischen, frivolen, „kaltschnäuzigen“ Tonfall des Verfassers, in der typischen Haltung des mit allen Wassern gewaschenen, wendigen Großstadtjungen, in einer gewissen erzählerischen „Smartheit“, sondern konkreter: in den realen Lebensumständen der Romangestalten, im Rhythmus ihres Lebenslaufs; 2. Er muss die Großstadt wirklich sichtbar werden lassen, nicht nur als äußere Kulisse, als beliebig gewählten Handlungshintergrund mit künstlich aufgelegtem Lokalkolorit, sondern in direkter Einwirkung auf die Menschen und Geschehnisse: die Großstadt als Seele- und Schicksal-formende Macht; 3. Er muss demgemäß Menschen und Menschenklassen zeichnen, die nur im Großstadtmilieu vorstellbar sind, die soziologisch und seelisch schicksalhaft mit der Großstadt verbunden, von ihr bestimmt und geprägt erscheinen“.[37]

Im Verlaufe seines Textes analysiert Hermann eine Reihe von Romanen in chronologischer Reihenfolge anhand dieser Punkte. Hermann betont jedoch wiederholt, dass vor einer festen Definition Vorsicht geboten sei. Der Begriff des Großstadtromans lasse schon deshalb keine starre Formulierung zu, weil

„In der Großstadtschilderung von Dickens und Balzac bis zu Dos Passos und Döblin ein ständiger Themenwechsel, ein fortwährendes Aufspüren und Ertasten neuer Wirklichkeiten festzustellen ist, weil sich der Darstellungsgegenstand in dauernder Umwandlung befindet und die Darstellungsmittel sich diesem Wandel angepasst haben“.[38]

Neben der Forderung nach einer ganzheitlichen Darstellung der Stadt steht für Gerhard Hermann die Verarbeitung der sich stetig verändernden Stadterfahrung im Mittelpunkt des Großstadtromans.

Volker Klotz, der in „Die erzählte Stadt“ die Affinität des Sujets Stadt zur Gattung des Romans thematisiert, schließt sich in seinem Entwurf des „Stadtromans“ weitgehend den von Hermann aufgestellten „Kriterien“ an. Stärker als Hermann betont Klotz die Bedeutung der erzählerischen Mittel für die Darstellung der Stadt:

„Diese Romane zielen auf die Stadt selber, der sie sich mehr oder minder ausschließlich verschreiben. Wenn sie die Stadt zum Vorwurf nehmen, handeln sie nicht nur davon: ihr Aufbau, ihre Sicht, ihr Stil sind – von Mal zu Mal anders – davon geprägt“.[39]

Eine Schilderung der Großstadt in ihrer Gesamtheit ist nach Klotz nur möglich, wenn sich Stil und Aufbau des Romans dem Darstellungsgegenstand anpassen, und sich die Metropole mit all ihren Facetten in Sprache, Metaphorik und Bildern niederschlägt. Die Stadt nimmt so gegenüber den Protagonisten eines Romans eine ebenbürtige bis übergeordnete Rolle ein und ist nicht länger ausschließlich der Hintergrund des Geschehens.

Ein ähnlicher Ansatz findet sich in dem Essay von Diane Wolfe Levy:

„We would identify „urban“ literature as that where the setting has taken precedence over character; where, in fact, the setting rises to the level of a protagonist“.[40]

Trotz dieser sehr vorsichtigen, und daher wenig konkreten Definitionsversuche kann eine Idee davon gewonnen werden, um welche Art von Texten es sich bei „Großstadttexten“ handelt. Die Darstellung der Stadt als Ganzes muss vor allen anderen Themen eines Romans hervortreten. Sprache, Motive und Rhythmus sollen das Lebensgefühl in der Großstadt widerspiegeln und die Erfahrungswelt Metropole evozieren. Das Selbstverständnis dieser Texte, so Volker Klotz, drückt sich in ihrem Stadtverständnis aus.

Die hier vorgestellten Positionen können als repräsentativ für die Metropolenliteraturforschung gelten. Sie finden sich in zahlreichen anderen Veröffentlichungen zum Thema „Großstadtliteratur“[41]. Auf einige dieser Arbeiten wird im Laufe dieser Untersuchung noch Bezug genommen werden.

III.2 Historische Orientierung

Seit den frühsten Anfängen der Literatur ist die Stadt ein Thema der Dichter. Die Ilias ist nicht denkbar ohne die Stadt, die den Menschen ihre Kraft und Macht zum Handeln gibt. Die Tatsache, dass die Stadt allein ein Produkt des Menschen ist, sieht Diane Wolfe Levy als Grund für die große Faszination des Menschen durch die Stadt:

„One explanation of the attraction of the urban background in literature is the notion of power. Nature is at best indifferent to man. The city, on the other hand, is his own creation, and in it he must realize his own salvation or damnation”.[42]

Seit der Zeit der Aufklärung bestimmt die Großstadt das soziale, ökonomische und kulturelle Leben in der westlichen Welt. Ländliches Leben wird zugunsten von Urbanität vermehrt aufgegeben, und gesellschaftliche Strukturen werden komplexer. Technische Errungenschaften beschleunigen und beeinflussen das Leben eines jeden Einzelnen. Die zunehmende Mechanisierung in den Städten verändert die sozialen Strukturen und das Arbeitsumfeld des Städters.

Die gewandelten Lebensumstände der Menschen stellen eine neue Herausforderung an die Literatur dar:

„Die moderne Großstadt und die Literatur sind im Verhältnis der Moderne gleichsam Geschwister, hervorgegangen aus der Emanzipationsbewegung der europäischen Aufklärung, beide mit neuer Freiheit versehen, mit deren Reiz und Risiko. Eine aus den traditionellen Schemata befreite Literatur fand sich mit einem Gegenstand konfrontiert, für den es Darstellungsmodelle ohnehin nicht gab – ein weites Experimentierfeld, dessen Wandelbarkeit der modernen Erfahrung von Fortschritt und Beschleunigung bestens entsprach: aus dem anfänglichen Schreckbild scheint ein künstlerischer Idealzustand zu werden“.[43]

Auch Richard Lehan betont den engen Zusammenhang der Entwicklung der Großstädte in Europa mit der Herausbildung einer neuen Strömung in der Literatur. Die wachsende Anonymität, explodierende Stadtzentren und sämtliche andere Veränderungen, die diese neue Erfahrungsinstanz „Großstadt“ mit sich bringt, verlangen nach neuen Möglichkeiten der Darstellung:

„As the city becomes more complex as a physical structure, the ways of seeing it become more difficult and the individual more passive in relationship to it“.[44]

Aus dieser neuen Komplexität werden Romane geboren, die bis heute die Metropolenliteratur prägen. 1726 erscheint mit Lesages „Le Diable Boiteux“ ein Werk, das die Stätte seiner Handlung – in diesem Falle Madrid – erstmals als Panorama ganzheitlich darzustellen versucht. Sowohl Corbineau-Hoffmann als auch Klotz bezeichnen Lesages Werk als den ersten modernen „Großstadtroman“, obgleich Lesages Buch aus einer Zeit stammt, in der die Reflexion einer modernen Großstadt noch gar nicht möglich ist[45]. Dennoch sorgen die pittoresken und detailgetreuen Beschreibungen in „Le Diable Boiteux“ für die Darstellung eines „realistischen Sittentableaus“, das die städtische Gesellschaft repräsentiert, wie es in der Literatur zuvor noch nicht gezeichnet worden ist.[46]

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts steigt die Zahl der Großstadttexte rapide an. Die ersten Auswirkungen von Industrialisierung und Expansion in den Städten spiegeln sich in den 1830er und 40er Jahren bei Hugo, Dickens und Balzac wieder. In ihren Romanen findet sich das, was Corbineau-Hoffmann als „Gemälde der Stadt“ bezeichnet. Die Romanciers beschreiben Stadt und Gesellschaft sehr detailliert und bildhaft. In dieser Zeit entstehen auch Nikolaj Gogols Erzählung „Der Newski Prospekt“, und Edgar Allan Poes „The

Man of the Crowd“. Trotz der Form der Kurzgeschichte gelingt es vor allem Gogol, auf wenigen Seiten ein ganzheitlich anmutendes Bild von Petersburg zu zeichnen.

Die Stadtliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts entfernt sich von den narrativen, epischen Stadtdarstellungen Dickens’ oder Balzacs, und entwickelt vor allem neue stilistische Methoden, um dem Darstellungsgegenstand Metropole beizukommen. Besonders Andrej Belyjs „Petersburg“ (1915) und John Dos Passos’ „Manhattan Transfer“ (1925) bilden hier erzähltechnische Meilensteine.

Auch im 21. Jahrhundert ist ein Ende des Faszinosums Stadt in der Literatur nicht abzusehen. In Italo Calvino, Paul Auster oder Alain Robbe-Grillet haben die Klassiker der Metropolenliteratur ihre Enkel gefunden.

[...]


[1] Darauf weist unter anderem Abdallah Abu Hasha in seiner Dissertationsschrift hin: Abu Hasha, Abdallah M.: Gesellschaftskritik in Romanen der fünfziger Jahre. Untersuchungen zur literarischen Darstellung des „Milieus“ bei Heinrich Böll und Nagib Mahfuz, Münster 1986. Im Folgenden zit. als Abu Hasha: Gesellschaftskritik.

[2] Vgl.: Allen, Roger: Naguib Mahfouz and the arabic novel. In: Beard, Michael; Haydar, Adnan (Hg): Naguib Mahfouz. From Regional Fame to Global Recognition, New York 1993. Allen schildert, dass die Werke von Nagīb Mahfūz nicht nur wegen ihrer literarischen Qualitäten, sondern vor allem wegen ihrer hohen Authentizität und ihrer historischen Korrektheit als Anschauungsmaterial für Studenten und Wissenschaftler interessant seien.

[3] Heller, Erdmute: Nagib Machfus: Vater des ägyptischen Romans. In: Tagesanzeiger Zürich, 10. Dezember 1988.

[4] Nadia Al-Bagdadi weist in ihrem Aufsatz auf diesen Sachverhalt hin: Al-Bagdadi, Nadia: Großstadtreflexionen in der Nasser-Ära: Metropolis und Verbrechen in Nagib Mahfuz’ Al-Liss Wa’l-Kilab. In: Die Welt des Islam. Internationale Zeitschrift für die Geschichte des Islam in der Neuzeit, Nr. 34, Leiden 1994. Im Folgenden zit. als: Al-Bagdadi: Großstadtreflexionen.

[5] Vgl.: El-Ghitani, Jamal: Nagīb Mahfūz yatathakkar (Nagīb Mahfūz erinnert sich). Gesammelte Interviews, Kairo 1987, und Mahfūz, Nagīb: Echoes of an autobiography, Kairo 1996.

[6] Vgl.: Mahler, Andreas (Hg): Stadt-Bilder. Allegorie – Mimesis – Imagination, Heidelberg 1999 (Im Folgenden zit. als: Mahler: Stadt-Bilder). Mahler unterscheidet in seinem Buch „Stadt-Texte“ und „Stadtbild-Texte“. Auf diese Analyse Mahlers, die für die Untersuchung der Poetik von Mahfūz’ Romanen relevant ist, soll im Kapitel V. noch ausführlich eingegangen werden.

[7] Vgl.: Somekh, Sasson: The Changing Rhythm. A study on Najib Mahfuz’ novels, Leiden 1973, S. 45. Im Folgenden zit. als: Somekh: The Changing Rhythm.

[8] Vgl.: Fähndrich, Hartmut: Nagib Machfus. Editon Text & Kritik, Schreiben anderorts, München 1991. Im Folgenden zit. als: Fähndrich: Nagib Machfus. Fähndrich stellt im ersten Kapitel seines Buches einige Positionen sowohl aus der deutschen als auch aus der ägyptischen Kritik dar.

[9] Fähndrich: Nagib Machfus, S. 7. Weitere Positionen finden sich in: Enani, Mohammed M. (Hg): Naguib Mahfouz. Nobel 1988, Egyptian Perspectives. A collection of critical essays, Kairo 1989.

[10] Naguib, Nagi: Der sozialhistorische Hintergrund von Nagīb Mahfūz’ Romanen. In: Die Welt des Orients. Wissenschaftliche Beiträge zur Kunde des Morgenlandes. Hg. v. Wolfgang Röllig, Wolfram v. Soden, Band 9, Göttingen 1977-1978, S. 130.

[11] Vgl.: Radwan, Kamal: Das Wiedererwachen der Arabischen Literatur in Ägypten. In: Falk, Walter (Hg): Parallele Ägypten. Die epochengeschichtlichen Verhältnisse in der ägyptischen und deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1984, S. 9: „Ägypten blieb durch die Tatkraft der Mameluken zwar von den Mongolen bewahrt, doch zeigten die Mameluken für geistige Arbeit kein großes Verständnis. Ich sage „kein großes Verständnis“ im Vergleich zu den Osmanen, denn die zeigten überhaupt keins“.

[12] Ebd., S. 10.

[13] Vgl.: Abu Hasha: Gesellschaftskritik, S. 19 ff.

[14] Der Rahmen der vorliegenden Arbeit erlaubt es nicht, ausführlicher auf die Entwicklungsschritte des intellektuellen Lebens in Ägypten zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert einzugehen. Für einen detaillierten Überblick vgl.: Badawi, Mohammed M. (Hg): Modern Arabic Literature, Cambridge 1992. Im Folgenden zit. als Badawi: Modern Arabic Literature.

[15] Vgl.: Richmond, J.B.C.: Egypt 1798-1952. Her advance towards a modern identity, London 1977, S. 32 ff.

[16] Badawi: Modern Arabic Literature, S. 6.

[17] Vgl.: Badawi: Modern Arabic Literature, S. 1, und Abu Hasha: Gesellschaftskritik, S. 20.

[18] Badawi: Modern Arabic Literature, S. 9. Ein sehr guter Überblick über diese ersten Entwicklungsschritte ägyptischer Presse findet sich auch in: Ayalon, Ami: The Press in the Arab Middle East. A History, Oxford 1995.

[19] Vgl. Abu Hasha: Gesellschaftskritik, S. 21 f, und Badawi: Modern Arabic Literature, S. 37 ff.

[20] Ebd., S. 20. Die Makamen sind eine der ältesten arabischen Erzählformen, die etwa um 980 n. Chr. begründet wurde. Es handelt sich dabei um episodenhaft aneinander gereihte Prosastückchen, die zumeist von den Abenteuern eines gewitzten und kühnen Helden erzählen und eine Art Erzählzyklus bilden. Sie sind geschrieben in einer hochgradig artifiziellen Reimprosa und enthalten oftmals ungewöhnliche Metaphern und ausgefeilte Rhetorik. Die Meister der Makamen waren Badī‛ az-Zamān al-Hamadhānī und Muhammad al-Qāsim al-Harīrī. Vgl. hierzu auch Badawi: Modern Arabic Literature und Kilpatrick, Hillary: The modern egyptian novel. A study in social criticism, London 1974.

[21] Badawi: Modern Arabic Literature, S. 38 f.

[22] Neben den Werken von Chateubriand, Hugo, Walter Scott und Conan Doyle wurden vor allem die Bücher von Pièrre Loti, Comtesse Dash, Henri Bordeaux und George Ohnet gelesen. Auch Abenteuer- und Kriminalgeschichten von Alexandre Dumas oder Jules Verne erfreuten sich hoher Beliebtheit. Vgl. hierzu: Badawi, Mohammed M.: Modern Arabic Literature and the West, London 1985, S. 129. Im Folgenden zit. als: Arabic Literature and the West.

[23] Vgl.: Abu Hasha: Gesellschaftskritik, S. 21.

[24] Vgl.: Badawi: Arabic Literature and the West, S. 134.

[25] Siehe Werkverzeichnis von Nagīb Mahfūz im Anhang dieser Arbeit. Siehe dort auch Angaben zu den deutschen Übersetzungen.

[26] Vgl.: Kilpatrick, Hillary: The modern egyptian novel. A study in social criticism, Oxford 1974, S. 21 ff. Im Folgenden zit. als: Kilpatrik: Modern Egyptian novel.

[27] Vgl.: Badawi: Modern Arabic Literature, S. 224 f.

[28] Jankowski, James: Egypt. A short history, Oxford 2000, S. 129.

[29] Vgl.: Radwan, Kamāl: Das Wiedererwachen der arabischen Literatur in Ägypten. In: Walter Falk (Hg): Parallele Ägypten. Die epochengeschichtlichen Verhältnisse in der ägyptischen und deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1984, S. 11.

[30] Vgl.: Somekh: The Changing Rhythm, S. 37. Somekh deutet diese Lektüre als die frühste Inspiration für die Trilogie, die 25 Jahre später erschien.

[31] Somekh: The Changing Rhythm, S. 38.

[32] Ebd., S. 40.

[33] Ebd., S. 43.

[34] Vgl.: Fähndrich: Nagib Machfus , S. 53.

[35] Vgl.: Mehrez, Samia: Egyptian Writers between History and Fiction. Essays on Naguib Mahfouz, Sanallah Ibrahim and Gamal al-Ghitani, Kairo 1994, S. 18.

[36] Vgl.: Klotz, Volker: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München 1969, S. 10. Im Folgenden zit. als: Klotz: Die erzählte Stadt.

[37] Hermann, Gerhard: Der Großstadtroman. 12. Beiheft zur Bücherei zur Bildungspflege, Stettin 1931, S. 4.

[38] Ebd., S. 5.

[39] Klotz: Die erzählte Stadt, S. 10

[40] Wolfe Levy, Diane: City Signs: Towards a Definition of Urban Literature. In: Modern fiction studies, Band 24, West Lafayette 1978, S. 66.

[41] Vgl. etwa: Gotzmann, Werner: Literarische Erfahrungen von Großstadt (1922-1988), Frankfurt am Main 1990, oder Wirth-Nesher, Hana: City Codes. Reading the urban novel, Cambridge 1996.

[42] Wolfe Levy: City Signs, S. 66.

[43] Corbineau-Hoffmann, Angelika: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt, Darmstadt 2003, S. 10.

[44] Lehan, Richard: The City in Literature. An Intellectual and Cultural History, Berkeley und London 1998, S.8.

[45] Corbineau-Hoffmann: „Lesages Roman hält nicht durchs Hauptportal, sondern den Hintereingang Einzug in die Geschichte der Großstadtliteratur“. In: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt, S. 14.

[46] Ebd., S. 21.

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Nagib Mahfuz' Kairo im Kontext der kanonischen Metropolenliteratur
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
83
Katalognummer
V46100
ISBN (eBook)
9783638433679
Dateigröße
833 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nagib, Mahfuz, Kairo, Kontext, Metropolenliteratur
Arbeit zitieren
Rasha Khayat (Autor:in), 2004, Nagib Mahfuz' Kairo im Kontext der kanonischen Metropolenliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46100

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