Das Ideal der Einheit von Herz und Vernunft in Gellerts Roman "Leben der schwedischen Gräfin von G***"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

45 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I.) Einführung

II.) Literaturhistorische Einordnung der "Schwedischen Gräfin von G***"

III.) Das Moralitätsideal

IV.) Gellert und die Aufklärung

V.) Das Ideal der Einheit von Herz und Vernunft

VI.) Die Episodenstruktur des Romans

VII.) Die Sterbeszenen

VIII.) Die Wiederbegegnungsszenen

IX.) Die Lösung: "Ehe zu viert"

X.) Die Marianenepisode

XI.) Die Prinzenepisode und Brüche im Gellertschen Ideal

XII.) Entwicklung der Personen oder Statik im Roman

XIII.) Schlußbetrachtungen

Literaturverzeichnis

I.) EINFÜHRUNG

Ziel der vorliegende Hausarbeit ist es, eine umfassende Darstellung von Gellerts Ideal der Einheit von Herz und Vernunft zu geben und seinen einzigen Roman, "Das Leben der schwedischen Gräfin von G***", daraufhin zu untersuchen. Gleichzeitig soll Roman, dessen Bedeutung für die deutsche Literatur gar nicht genug betont werden kann,1 in Beziehung zu seiner Epoche gesetzt werden, da er nach Meinung vieler Literaturwissenschaftler den Mythos der Aufklärung in seiner reinsten, weil elementarsten Form spiegelt2

Der Roman selbst gliedert sich in zwei Teile, wobei der "Erste Theil" vereinfachend gesagt ganz im Zeichen der von der Aufklärung propagierten glücklichen Ehe steht, während der "Zweyte Theil" die Darstellung des exemplarischen Todes beinhaltet:3

"Als Textmontage aus bedeutsamen Episoden, deren Focus auf die Konstitution einer vernünftig geordneten Gesellschaft gerichtet ist, konzentriert sich der Roman auf das Motiv einer harmonischen, von der Liebe getragenen Ehe und auf die Begründung einer säkularen Moral in der Erfahrung des Todes als des unabdingbaren Endes der menschlichen Existenz."4

Zum Erreichen des genannten Ziels, das von der Aufklärung insgesamt getragen wurde, propagiert Gellert dieses Ideal eines von der Vernunft gezügelten, "wohltemperierten Ge- fühls", in dem animo und ratio in Einklang stehen, das alle Wechselfälle des Lebens bestehen kann und das im Mittelpunkt dieser Arbeit steht.

Zunächst einmal soll aber eine literaturhistorischen Einordnung des Romanes erfolgen, der eine Untersuchung des im Roman gegebenen Moralitätsideals einschließlich einer Darstellung desselben und seiner Verbindung zu den Prinzipien der Aufklärung folgt. Dieses selbst soll dann - ganz im Sinne Gellerts - anhand verschiedener Affektszenen, die nach aufklärerischem Verständnis eine Bedrohung für die Konstitution einer idealen Gesellschaft darstellen, auf seine Wirksamkeit und etwaige Brüche hin erprobt werden. Ihren Abschluß findet die Arbeit dann mit der Untersuchung, inwiefern die Träger dieses Herz- und Vernunftideals statisch an- gelegt sind und was die "rechte Erziehung" kennzeichnet, die Basis des zu vermittelnden Tugendsystems ist.

II.) LITERATURHISTORISCHE EINORDNUNG DER „SCHWEDISCHEN GRÄFIN VON G***“

Die Einsicht, daß es für das Verständnis eines literarischen Werkes unabdingbar ist, es in den literaturhistorischen Kontext zu stellen, vor dem es in Szene gesetzt wurde, macht vor der eigentlichen Erörterung des Themas eine knappe Skizzierung der herrschenden Verhältnisse zur Zeit der Entstehung des Romans und den Versuch einer literaturgeschichtlichen Ein- ordnung notwendig.5

Zu ersterem sei gesagt, daß das Werk, das in den Jahren 1747 und 1748 in zwei Bänden anonym erschien, in einer Zeit entstand, in der der Roman in Deutschland noch ganz im Schatten der Versepik stand,6 ja, der Roman einen dermaßen schlechten Ruf besaß, daß Gellert es - aus Angst um seine Reputation als ordentlicher Professor für Beredsamkeit und Moral in Leipzig, für den sich die Produktion eines solchen nach damals herrschendem Verständnis nicht schickte - nicht einmal wagte, ihn unter seinem Namen zu veröffentlichen.7 Die literaturhistorische Einordnung des Romanes schließlich, hat die Forschung von jeher vor große Probleme gestellt; nicht nur, daß die Abhängigkeitsverhältnisse des Romans nie ganz geklärt wurden und der Roman an einem geistesgeschichtlichen Übergang zu verorten ist, was das Vorhaben außerordentlich erschwert, er ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie ein literarischer Text, dessen Grundkonstellationen im deutschen Sprachraum musterbildend für eine ganze literarische Großgattung gewirkt haben, aus dem Kanon der gelesenen Literatur herausfallen und damit aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden kann.8 Bei Gellerts einzigem Roman, der noch fünf vom Autor selbst redigierte Neuauflagen im Laufe des 18.Jahrhunderts erlebte und früh in zahlreiche westliche und nordische Sprachen übersetzt wurde, handelt es sich - laut Fritz Brüggemann - um den ersten deutschen bürger- lichen und den ersten deutschen Familienroman überhaupt.9

Er war Teil der frühen bürgerlichen Aufklärung, wie sie durch die „Moralischen Wochen- schriften“ der Zeit vorbereitet wurde, und in deren Verlauf die kirchlich oder christlich legitimierten Ideale von Moralität und Sittlichkeit zunehmend den Erfordernissen der bürger- lichen Lebenskultur angepaßt wurden; eben dies, daß der Roman Teil der Frühaufklärung war, erklärt sowohl seinen großen Erfolg beim Erscheinen, als auch, daß er schnell in

Mißkredit geriet, als die Ideale der Aufklärung, die Gellert in ihm vertrat, im Sturm und Drang über Bord geworfen wurden.10 Es kam jedoch, trotz der großen Beliebtheit beim zeitgenössischen Publikum, auch früh zu ausgesprochener Kritik an der poetischen Qualität des Werkes durch die Fachwelt, unter anderem von Wieland und Klopstock, die damit das fachwissenschaftliche Urteil über zwei Jahrhunderte prägten; erst in jüngster Zeit wird wieder - vor allem seit der richtungsweisenden Dissertation Eckard Meyer-Krentlers - die innovative Leistung Gellerts für den deutsch- sprachigen Roman, der Mitte des 18.Jahrhunderts - wie bereits erwähnt - als Gattung noch von sehr schlechtem Ruf war, betont.11

Konstatiert werden muß, daß es zwar englische, wie Richardsons „Pamela“, und französische, wie Prevosts „Histoire de M. Clevland“, Vorbilder gegeben hat, tatsächlich aber nur eine ge- wisse Abhängigkeit von Richardson festzustellen ist, jedoch auch hier keine bloße Nach- ahmung, wie Gellert oftmals fälschlicherweise unterstellt wurde.12 Es verhält sich vielmehr wohl eher umgekehrt so, daß Gellert sich - trotz der unverkennbaren Ähnlichkeit des weltan- schaulichen Konzepts13 - als ein Original möglichst von Richardson abheben wollte, wie Schlingmann richtig festgestellt hat und was sich auch eindeutig am Textinhalt belegen läßt:14 So unterscheiden sich die Romane beispielsweise dahingehend, daß Gellert im Gegensatz zu Richardson keinen Brief- sondern einen Ich-Roman schreibt, die „verfolgte Unschuld“ nur als Initialzündung dient und nicht prägend für den Roman ist, und die Sexualität der Romange- stalten ganz offensichtlich dazugehört, während selbst für die verheiratete Pamela die körper- liche Liebe etwas Peinliches behält.15 Hinzu kommt noch, daß die Romanfiguren Gellerts viel differenzierter sind, als diejenigen Richardsons;16 hier vermutet man eher französische Vor- bilder, die - wie vor allem La Bruyère - von Gellert stark bewundert wurden17, an denen er jedoch kritisierte, daß sie schlußendlich alles menschliche Streben auf Selbstsucht zurück- zuführen versuchten, so daß auch hier das Bemühen Gellerts sichtbar wird, einen eigenen Weg zu gehen.18

Das bisher aufgezeigte, das nur exemplarisch belegen soll, daß Gellerts "Schwedische Gräfin" tatsächlich eine originäre Neuschöpfung darstellt, die zu keinem der zeitgenössischen oder historischen Romane in ein enges Abhängigkeitsverhältnis gesetzt werden kann,19 ergibt, daß - auch vom Vergleich mit anderen Werken und Autoren dieser Zeit her - die Rechnung nicht aufgehen kann, wenn im Sinne einer kontinuierlichen Literaturgeschichtsschreibung Gellerts Roman in eine wie auch immer geartete geistesgeschichtliche und literarische "Strömung" eingebettet wird, ohne daß dabei die Frage nach den entsprechenden Oppositionen20 einbe- zogen wird.21 Dies deshalb, da Gellerts Ideal, von dem der Roman nachhaltig geprägt ist, sich ja durch eben diesen geistesgeschichtlichen Übergang erklärt, und daher notwendig nicht mit den entsprechenden Idealvorstellungen der großen Epochen konform gehen kann, sondern Inhalt des Vorher und des Nachher widerspiegelt und so wiederum etwas eigenständiges ist. Dies soll später bei der Darstellung seines Ideals noch näher analysiert werden, doch macht dies zunächst einmal eine Erörterung der didaktischen Intention des Werkes erforderlich.

III.) DAS MORALITÄTSIDEAL

Auch wenn Schlingmann dahingehend recht hat, daß im aufklärungsfreudigen 18.Jahrhundert ein Autor keinen Roman schreiben mußte, um seine Ideen unters Volk zu bringen, sondern einen direkteren Weg der Belehrung wählen konnte, so ist es doch keinesfalls so, daß Gellert bei der Abfassung seines Romans nur von der elementaren Lust des Fabulierens getrieben wurde.22 Vielmehr wollte „der große Tugendlehrer der Nation“ mit der "Schwedischen Gräfin" ein Moralitätsideal vermitteln, wie bereits Johann Andreas Cramer erkannte, der dem Autor attestierte:

Das Verlangen, durch das Vergnügen zu nützen, ist das beständige Gepräge seiner Arbeiten, und dieses läßt sich auch hier nicht verkennen."23

Diese Intention Gellerts, offenbart sich vor allem in der gezielten Miteinbeziehung seiner Leser, in der stark appellativen Struktur vor allem des ersten Teils seines Romanes: So wird der "Leser" immer wieder direkt angesprochen; der Rezepient von Gellerts Werk ist zudem ein "geneigter" und ein "kundiger" Leser, dessen Lebens- und Lektüreerfahrung ihm eine gewisse Erwartungshaltung aufdrängen. Obwohl dies der Erzählerin manche ausführliche Erklärung erspart,24 wird diese Erwartungshaltung jedoch regelmäßig enttäuscht und durch etwas anderes ersetzt, so daß der Leser seine bisherigen Ansichten revidieren muß, wenn er sich den an ihn gestellten Erwartungen nicht ganz verschließen will.25 Dies belegt anschaulich die pädagogisch-didaktische Motivation Gellerts bei der Abfassung seines Romanes: Dem an den entscheidenden Stellen des Werkes genannten oder eindeutig angesprochenen "Roman"-Leser, der mit dem vorzustellenden Tugendsystem noch nicht vertraut ist, soll ein Weg gewiesen werden, auf dem er aus der Welt des "Romans" in die neue, bessere Welt der "Schwedischen Gräfin",26 aus der galanten in die aufklärerische Welt gelangen kann.27 Dies wird noch deutlicher dadurch, daß die Erzählerin dann auch immer wieder auf den exemplarischen Charakter ihrer Erfahrungen verweist; so zum Beispiel wenn es heißt:28

"Ja, ich erfuhr, daß ein großes Unglück in den Gemütern vieler Menschen fast eben die Wirkungen hervorbringt, welche sonst ein großes Glück zu verursachen pflegt." (31, 15 ff.29 )

"Das Unglück, das uns zeither betroffen, hatte unsere Gemüter gleichsam aufgelöset, die Ruhe nunmehr desto stärker zu schmecken. Man dürfte fast sagen, wer lauter Glück hätte, der hätte gar keines. Es ist wohl wahr, daß das Unglück an und für sich nichts angenehmes ist; allein es ist es doch in der Folge und in dem Zusammen- hange. Wenigstens gleichet es den Arzneien, die unserm Körper einen Schmerz verursachen, damit er desto ge- sünder wird." (53, 8 ff.)

Das Eingeständnis einer moralisch-pädagogischen Absicht ergibt sich aber auch in anschau- licher Weise aus der Selbstdeutung, die Gellert in der fingierten Wechselrede mit seiner Nichte vorlegt:

„Für zwo Stickereyen von Ihren Händen, schicke ich Ihnen zwey Bücher von den meinigen; einen Catechismus30 und einen Roman. Wenn Sie der letzte verderbt, so soll Sie der erste unmittelbar wieder bessern. Sie lachen? Wollen Sie mir etwan dadurch sagen, daß ich mir diese Sorge nicht machen dürfte; daß mein Roman selber ein Catechismus wäre? Ei, ei, Jungfer Muhme, das war zu boshaft gelacht! So beißend hat mich noch kein Mensch kritisieret. Ich vergebe es Ihnen, weil ich nicht gleich ein Mittel weis, mich zu rächen. Wir sind nahe Freunde und -- ja; und wer weis, ob Sie ganz Unrecht haben?“31

Diese gespielt-ironische Provokation, in der Gellert seinen Roman mit einem Katechismus gleichsetzt32, beinhaltet ziemlich ungeschminkt den Anspruch, den der Autor mit seinem Roman erhebt: Ein Katechismus ist ein Lehrbuch über die Grundlagen und -tatsachen des christlichen Glaubens zur Unterweisung in Familie, Kirche und Schule33 und in eben der Weise, wie ein solcher Katechismus seinen Lesern Anweisungen zu einem rechten Leben nach den Maximen des christlichen Glaubens gibt, bietet Gellert seinen Lesern ein Lehrbuch, das zum richtigen Leben nach dem Ideal eines von der Vernunft gezügelten „wohl- temperierten Gefühl“, das alle Wechselfälle des Lebens bestehen kann, anleitet.

IV.) GELLERT UND DIE AUFKLÄRUNG

Um die Stellung von Gellerts Roman in seiner Epoche voll erkennen zu können, muß man sich zunächst einmal die Hintergründe der Aufklärung (ca. 1720 - 1785), die sich bei Gellert "in seiner reinsten, weil elementaren Form"34 manifestiert, vor Augen führen, da für die deutsche Literatur der Aufklärungszeit die geistesgeschichtlichen Strömungen - wie der Rationalismus, der Pietismus und die Empfindsamkeit - von wesentlich größerer Bedeutung waren, als für jede andere Epoche; hierzu soll zunächst einmal das neue Weltbild, das diese Zeit prägte beleuchtet werden:

Die Philosophien der Empiristen, die Erfahrung für die einzige Quelle menschlichen Wissens hielten, und der Rationalisten, die davon ausgingen, daß alle menschliche Erkenntnis angeborenen, allgemein feststehenden Begriffen und Sätzen entspringe, und deren Gegensatz erst durch Kants Erkenntnistheorie aufgehoben wurde, verminderte in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts allmählich den Einfluß dogmatischer Theologen auf das Geistesleben.

Die - seit den Wirren der Religionskriege - im konfessionell und politischen zerrissenen Reich verbreitete pessimistische Seelenangst, die noch einen Gryphius deutlich gekennzeichnet hatte, begann seit Leibnitz (1646 - 1716), der die - noch im 17. Jahrhundert vielgeschmähte - Welt für "die beste aller möglichen Welten" erklärte, langsam einem auf das Diesseits orientieren Glücksstreben, einem auf die Nützlichkeit ausgerichteten Denken zu weichen.35 An die Stelle religiösen Bekehrungseifers traten jetzt vernünftige Belehrung und die Idee der Toleranz, was Kant am Ende der Epoche - zur Beantwortung eines folgenschweren Artikels der "Berlinischen Monatsschrift" mit der provozierenden Frage "Was ist Aufklärung" - in seiner bekannten Begriffsbestimmung wie folgt zusammenfaßte:36

"Aufkl ä rung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unm ü ndigkeit. Unm ü ndigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."37

Diese ins unermeßliche gesteigerte Wertschätzung der Vernunft, die zeitweilig der Schlüssel zur Lösung aller Probleme zu sein schien, bedrängte zwar jede Form von Orthodoxie, jedoch nicht die subjektive Herzensfrömmigkeit, die ebenso wie der Rationalismus auf dem Grund- gedanken der Toleranz baute, weshalb der von Jacob Sprenger (1635 - 1705) ins Leben ge- rufene deutsche Pietismus,38 dem auch Gellert nahestand und der die Selbstverantwortlichkeit des religiösen Individuums in seiner Gottbeziehung betonte und die Autorität von Kirche und Theologie in Frage stellte, von Anfang an eine große Bindung zu dieser neuen geistigen Strömung aufwies.39 Die Pietisten40 pflegten in privaten religiösen Zusammenkünften, den so- genannten Konventikeln, einen bis zur Rührseligkeit gehenden Seelen- und Freundschafts- kult; man belauschte seine Seele nach inneren Gotteserlebnissen, die dann in schwärmerischer Erbauungsliteratur, in Autobiographien, Briefen, Tagebüchern und ähnlichen Formen als "Be- kenntnisse einer schönen Seele", wie Goethe es später bezeichnete, niedergelegt wurden.

Diese Geisteshaltung, die auch in der "Schwedischen Gräfin" deutlich wiederzuerkennen ist,41 wurde mehr als eine Ergänzung, denn als ein Gegensatz zum Rationalismus gesehen,42 und ist später in säkularisierter Form unter dem Namen "Empfindsamkeit" in die Literaturgeschichte eingegangen.

Diese Empfindsamkeit (ca. 1740 - 1780) machte nach allgemeinem Verständnis das Gefühl zum Maßstab, meinte das Aufgeschlossensein für innerseelische Regungen sowie die Bereit- schaft und das Vermögen, empfundene oder beobachtete Stimmung zu zergliedern und fein abgestuft wiederzugeben, spiegelt also sozusagen - im Gegensatz zu dem oben über die Ver- nunft gesagten - die Herzkategorie des Gellertschen Herz- und Vernunftideals wieder.43 Diese beiden Seiten - Rationalismus und Empfindsamkeit - des zu analysierenden Tugend- ideals, das zum einen die Logik des Lesers aktiviert und zum anderen seine Besserung über Rührung und Mitleid anstrebt,44 was treffend als Konzept der Besserung durch Rührung"45 bezeichnet wurde, sind also keineswegs eine spezifisch Gellertsche Erscheinung, sondern fest in den Idealen der Aufklärung, wie sie von den führenden Geistern der Zeit vertreten wurden, immanent; das spezifische bei Gellert ist es vielmehr, daß er eine ungewöhnlich enge Ver- bindung dieser beiden Geistesströmungen in seinem Ideal der Einheit von Herz und Vernunft zuwege bringt, die nur gemeinsam eine Basis für das allseitige Glück in sich bergen, was mit der Entstehungszeit seines Romanes im geistesgeschichtlichen Übergang von Rationalismus und Empfindsamkeit zusammenhängt und beweist, wie eng der Roman mit den übergeordne- ten philosophischen Strömungen der Zeit verknüpft ist.

V.) DAS IDEAL DER EINHEIT VON HERZ UND VERNUNFT

Das Lebens- und Verhaltensideal, das den didaktischen Rahmen des Romans ausmacht und - wie dargestellt - ganz im Zeichen der Aufklärungsepoche steht, beinhaltet ein enges und ein- vernehmliches Zusammenspiel von Herz und Vernunft. Dies zeigt sich im Roman darin, daß die Figuren sich selbst dann außerordentlich besonnen und klug abwägend verhalten, wenn die (konstruierte) Situation ihren Gefühlen sehr zusetzt, aber auch immer wieder ihre Gefühls- stärke beweisen, obwohl sie sich der Steuerung durch den Intellekt - wie beschrieben -unter- werfen: Einerseits bieten Mäßigung und Zähmung der Affekte die beste Gewähr für ein angenehmes und selbst bei schlimmsten Herausforderungen immerhin noch erträgliches Leben. Andererseits darf sich dieses nicht allein auf einen kalten Rationalismus stützen, denn zur Vervollkommnung der Persönlichkeit und zum zufriedenstellenden Umgang mit anderen gehört unbedingt das intensive Empfinden.46

Diese Verbindung von Herz und Geist knüpft also - wie im vorigen Kapitel dargestellt - an das ältere rationalistische System an, durchbricht es gleichzeitig aber bereits, und bietet so ein Vorspiel für die Seelenverfassung der kommenden Generation, ohne bereits Schluß mit der der vorhergehenden zu machen.47

Deshalb versucht Gellert auch hinsichtlich der Frage, wie man mit Affekten umgehen könne und solle, ein Konzept zu entwerfen, das geistig zwischen der planen Unterdrückung sozial unerwünschter, inopportuner Affekte durch die vorhergehende Generation und dem verderb- lichen Ausleben der Leidenschaften durch die nachfolgende Generation liegt.48 Es geht nicht um das Ausleben der Triebe und auch nicht um ihre Unterdrückung, sondern um ihre Be- herrschung, indem je nach Situation ein Affekt bewußt in einen anderen überführt wird. Diese Besonderheit von Gellerts Herz- und Vernunftideal muß man verstehen und im historischen Kontext eines geistesgeschichtlichen Übergangs begreifen, will man eine Affekttrans- formation verstehen, die eine "Ehe zu viert" möglich macht, aber bei ihrem Ausbleiben in die Katastrophe führt, wie in der Marianenepisode, wo Geschlechterliebe nicht in Geschwister- liebe transformiert wurde.

Bedingung dieser Beherrschung der Affekte ist nach Gellerts Verständnis die Erreichung eines ausgeglichenen Affekthaushaltes, was von Kritikern, wie Greiner, bisweilen als "Musterfall moralischer Planwirtschaft" und als Planwirtschaft der Affekte verunglimpft wurde;49 diesen erreicht man nicht, wenn man die Affekte als Laster diffamiert, wie Gottsched es tat,50 der die Vorstellung hatte, daß die affektbedingten Gefährdungen der Gesellschaft auf einem Mangel an Einsicht beruhen, also auf einem Defizit des Verstandes!51 Die Beherrsch- ung der Affekte, die Gellert meint, ist jedoch Bildung, Kultivierung, Disziplinierung, und setzt deshalb ihre Erkenntnis und Erforschung, kurz: die Aufklärung der Affekte voraus.

[...]


1 Ein ganzer Strang der Unterhaltungs- und Trivialliteratur bis hin zu Karls Mays Koportageroman "Deutsche Herzen - Deutsche Helden" und den heutigen Groschenromanen zählt zu den - teilweise vielleicht illegitimen - Nachfahren der "Schwedischen Gräfin". (vgl. Schmiedt 1993, S. 32)

2 vgl. Witte 1996, S. 144

3 vgl. ebd., S. 138

4 ebd., S. 144

5 vgl. Meyer-Krentler 1974, S. 3

6 vgl. Schlingmann 1967, S. 140

7 vgl. Witte 1996, S.162 und ebd., S. 167

8 vgl. ebd., S. 112

9 vgl. Kjndlers Neues Literaturlexikon Bd. 10 , S. 194

10 So heißt etwa bei Unzer und Mauvillon 1771: "Der ganze erste Theil ist das abgeschmacktetste, was nur jemals geschrieben worden. Aus welchen längstvergeßnen französischen Memoires mag doch der gute Man den Inhalt zusammengestoppelt haben! [...] Wie konnte ein in Absicht des delikaten Geschmacks und des moralischen Gefühls so gepriesener Mann, wie Gellert, ein so fatales Sujet zu dieser Episode [gemeint ist die Marianenepisode; Anm. d. Verf.] erwehlen, als die Vermählung zweiyer Geschwister ist!" (zitiert nach Witte 1996, S. 117)(vgl. auch Kindlers Neues Literaturlexikon Bd. 10, S. 194)

11 vgl. Kindlers Neues Literaturlexikon Bd. 10, S. 194

12 vgl. Schlingmann 1967, S. 141

13 vgl. Meyer-Krentler 1974, S. 18

14 vgl. ebd., S. 141

15 vgl. Schlingmann 1967, S. 141 f.

16 So hat Richardson im Gegenteil zu Gellert keinerlei Wert auf psychologische Wahrscheinlichkeit gelegt; seine Charaktere bestehen gewöhnlich nur aus einer einzigen Eigenschaft, die je nach ihrer Funktion im Roman von einer völlig anderen abgelöst werden kann. In diesem Sinne wirken auch bei Gellert zwei Randfiguren, Dormund und Wid, durch den extremen Umschlag von Tugendlosigkeit in Reue und Mitleid unglaubwürdig, nicht jedoch die anderen Romanfiguren, bei denen Gellert ein feines Gespür für Menschenkenntnis erweist. (vlg. auch Schlingmann 1967, S. 143)

17 vgl. ebd., S. 143

18 vgl. Schlingmann 1967, S. 143

19 Weitere Hinweise zu diesem Thema finden sich bei Meyer-Krentler 1974, S. 18 ff.

20 Was hier dahintersteht ist, neben dem literaturgeschichtlichen Hintergrund einer Positionierung im geistes-

geschichtlichen Übergang, vor allem die antithetische Struktur des Romans, die damit einhergeht, daß Gellert in seinem Roman auch gegen sämtliche Traditionen anschreibt: zum einen handelt es sich um so etwas wie einen antipietistischen Romen, worauf im Schlußwort noch näher eingegangen werden wird, und zum anderen sogar um so etwas wie einen "Antiroman" überhaupt, was in diesem Zusammenhang jedoch leider nicht näher ausgeführt werden kann (Näheres bei Witte 1980, S. 158).

21 vgl. Meyer-Krentler 1974, S. 21

22 vgl. Schlingmann 1967, S.142

23 Cramer: "Gellerts Leben" 1775, S. 65 f.(zitiert nach Meyer-Krentler 1974, S. 1)

24 Exemplarisch sei für diesen Umstand die Einführung in die Hofszene (Roman S. 21 ff.) genannt.

25 vgl. Meyer-Krentler 1974, S. 23 ff.

26 vgl. ebd., S. 99

27 Dies ist der Grund, weshalb Gellerts "Schwedische Gräfin" auch immer wieder als Gegenentwurf zum

barocken Roman, als "Anti-Roman" bezeichnet und gewertet worden ist; so etwa bei Witte. (vgl. Witte 1996, S. 119)

28 vgl. Schmiedt 1993, S. 34

29 An dieser Stelle sei zur Erläuterung gesagt, daß sich die in Klammern gesetzten Zahlenangaben hinter den Textbelegen hier und im Folgenden auf die Seiten- und die Zeilenzahl der Textstelle in der (im Literaturver- zeichnis aufgeführten) Reclam-Ausgabe von Gellerts "Leben der schwedischen Gräfin von G***" von 1985 beziehen.

30 1748 war Gellerts deutsche Übersetzung von Jacob Saurins Katechismus, eines damals weit verbreiteten

religiösen Laienbuchs, unter dem Namen "Jacob Saurins Kurzer Begriff der Christlichen Glaubens- und Sittenlehre", erschienen.

31 Witte (Hrsg.): 69. Brief; Gesammelte Schriften 1989 Bd. 4, S. 213 (zitiert nach Witte1996, S. 113)

32 Dies hatte Gellert mehrfach brieflich getan, als seine Übersetzung des Saurins und der zweite Teil des Romans gleichzeitig zur Michaelismesse erschienen waren; so forderte er beispielsweise Moritz Ludwig Kersten auf: "Seyn Sie [...] so gütig, und überreichen Sie dem Herrn Grafen ein Exemplar davon [gemeint ist der 2. Teil des Romans; Anm. d. Verf.] nebst dem Saurin." (Reynolds [Hrsg.]: Briefwechsel 1983 Bd.1, S. 26; zitiert nach Witte 1996, S. 113)

33 vgl. Brockhaus PC-Bibliothek 3,0 "Katechismus"

34 Witte 1990, S. 84

35 Rothmann 1997, S. 64

36 Bahr (Hrsg.) 1996, S. 3

37 ebd., S. 9

38 In diesem Zusammenhang muß auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich diese geistige Bewegung auf das vorliegende Werk niedergeschlagen hat. Dabei kommt man zu einem Befund, der entgegen dem Trend der Aufklärung, nicht nur Kritik an allen religiösen und kirchlichen Autoritäten übt, sondern auch darüber hinaus, und vor allem angesichts der Person des (zumindest zeitweisen) Pietisten Gellert, der ja auch der Verfasser der „Geistlichen Oden und Lieder“ ist, doch überrascht: „Die schwedische Gräfin“ ist als ein antipietistischer Roman konzipiert, worauf im Schlußwort noch etwas näher eingegangen werden soll, da dies auch für das noch darzulegende Tugendideal des Gellertschen Romanes von größter Bedeutung ist.

39 vgl. Bahr (Hrsg.) 1988, S. 15 f.

40 Das Wort stammt vom lateinischen "pietas" und bedeutet soviel wie "Frömmler".

41 Wie noch zu belegen sein wird, ist dies in der "Schwedischen Gräfin" insofern wiederzuerkennen, als sich Gellert der Begriffe der "Empfindsamkeit", die sich ja aus dem Pietismus herleitet, bedient, und der Roman selbst als so etwas wie ein antipietistischer Roman konzipiert ist.

42 Diese Aussage beansprucht jedoch keine Allgemeingültigkeit: Teile der Rationalisten lehnten den Pietismus und auch dessen säkularisierte Form, die Empfindsamkeit, als Mystik ab, die den Prinzipien der Vernunft diametral entgegenstehe.

43 vgl. Rothmann 1997, S. 65

44 vgl. Meyer-Krentler 1974, S. 99

45 ebd. , S. 98

46 vgl. Schmiedt 1993, S. 34

47 vgl. Nachwort von Fechner im Roman 1985, S. 172

48 vgl. Schön 1991, S. 37

49 vgl. Kindlers Neues Literatur Lexikon Bd. 10, S. 194

50 vgl. Schön 1991, S. 38

51 vgl. ebd., S.37

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Das Ideal der Einheit von Herz und Vernunft in Gellerts Roman "Leben der schwedischen Gräfin von G***"
Hochschule
Universität Stuttgart  (Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
HS: Freundschaft und Liebe im 18. Jahrhundert
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
45
Katalognummer
V46093
ISBN (eBook)
9783638433624
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ideal, Einheit, Herz, Vernunft, Gellerts, Roman, Leben, Gräfin, Freundschaft, Liebe
Arbeit zitieren
Daniel Rentschler (Autor:in), 2004, Das Ideal der Einheit von Herz und Vernunft in Gellerts Roman "Leben der schwedischen Gräfin von G***", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46093

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