Mindert die Religionskritik des evolutionären Humanismus die Erklärungskraft einer funktionalen Religionstheorie?


Bachelorarbeit, 2018

44 Seiten, Note: 2,1

Timo Benninger (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Funktion von Religion aus religionsphilosophischer Sicht
2.1. Eine sozio-kulturelle Perspektive
2.2. Eine anthropologische Perspektive
2.2.1. Kontingenzbewältigung und Sinnstiftung
2.2.2. Die Religion und ihr Einfluss auf das solidarische Verhalten des Einzelnen
2.2.3. Die religiöse Gemeinschaft

3. Der evolutionäre Humanismus und die Religionskritik Schmidt-Salomons
3.1. Kontingenzbewältigung und Sinnstiftung
3.2. Unethisches und unsoziales Verhalten durch Religionen
3.3. Religion als abgrenzende Gruppenideologie

4. Religiöse Antworten und Verbesserungsvorschläge
4.1. Unethisches Verhalten
4.2. Die religiöse Lehre als Grund für eine exklusive und aggressive Gruppenideologie
4.3. Sinn, Kontingenz und eine ethisch bessere Welt ohne Religion

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In den westlichen Industriestaaten entsteht heutzutage oftmals der Eindruck, dass Kirchen und Religionen ihre Attraktivität und Funktionalität verlieren. Es kommen beispielsweise die Fragen auf, ob Menschen Religion heutzutage noch brauchen und ob es der Welt ohne Religion nicht deutlich besser gehen?

Um unter anderem diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werden im ersten Teil dieser Arbeit einige Funktionen von Religionen vorgestellt. Diese Funktionen werden auf einer gesellschaftlichen sowie individuellen Ebene betrachtet. Dabei findet vornehmlich eine explizite Betrachtung von Kontingenz, Solidarität und Gemeinschaftsgefühl statt. Diesbezüglich wird als funktional religionstheoretische Perspektive vor allem das Werk „Religion nach der Aufklärung“ von Hermann Lübbe als Basis verwendet. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird zuerst eine kurze Vorstellung des evolutionären Humanismus stattfinden, um im Anschluss verschiedene Kritikpunkte dieser Richtung anzuführen, die sich hauptsächlich gegen die vorgestellten Funktionen von Religionen aussprechen. Die Kritikpunkte basieren hauptsächlich auf Werken und Interviews des Philosophen Michael Schmidt-Salomons. Im abschließenden Teil dieser Arbeit werden die Argumente von Schmidt-Salomon analysiert und kommentiert. Zudem werden im dritten Teil der Arbeit Gegenargumente angeführt, deren Intention es ist, die Argumente zu entkräften.

Das Ziel der Arbeit besteht somit darin, herauszuarbeiten, inwiefern heutzutage eine funktionsorientierte Begründung als Rechtfertigung für ein Weiterbestehen der Religion ausreichen kann. Diesbezüglich werden besonders die Funktionen von Religion hervorgehoben, die trotz zunehmender Säkularisierung und Kritikversuchen auch in Zukunft vermutlich noch von Bedeutung sein werden.

2. Die Funktion von Religion aus religionsphilosophi­scher Sicht

2.1. Eine sozio-kulturelle Perspektive

Die Funktion von Religion wird besonders auf einer religionsphilosophischen Ebene umfassend diskutiert. Bevorzugte Argumente beruhen unter anderem auf der Auffassung, dass ein friedliches Zusammenleben ein gewisses Maß an Bürgermoral benötigt, da dieses sich positiv auf den Gesetzesgehorsam und auf solidarische Wohltätigkeit auswirkt.1 Der Philosoph Jürgen Habermas spricht in diesem Kontext von einer durch Religion beeinflussten „sozialen Energie“2, die sich im Miteinander bemerkbar macht.3 Eine weitere Perspektive, die diesen Ansatz unterstützt, findet sich beim Theologen Friedrich Wilhelm Graf. Dieser sieht die gesellschaftliche Funktion der Religion in ihrem Potential der Umformung einer Gesellschaft zu einer Gemeinschaft, welche sich dadurch auszeichnet, dass Bürger sich untereinander nicht nur als wirtschaftliche Konkurrenten wahrnehmen, sondern dass sie mit einer religiösen Perspektive in ihrem Gegenüber vielmehr einen „Nächsten und Bruder“4 sehen.5 Somit würden einerseits vor allem Mitmenschen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden, als der Hilfe würdig angesehen und andererseits würden Gegner nicht unmittelbar zu Erzfeinden werden. Dahingegen ist es aus einer christlich-religiösen Sicht wünschenswert, den Feinden auch noch Liebe entgegenzubringen.6

Der Einfluss einer solchen Perspektive lässt sich unter anderem in religiösen Netzwerken wiederfinden. Erste Beispiele für ein „besseres Zusammenleben“7 stellen unter anderem Diakonien, Caritas und diversen Bildungseinrichtungen dar.8 Das Teilen gemeinsamer religiöser Überzeugungen, insbesondere in sozialen und gesellschaftlichen Einrichtungen, kann moralischen Werten und Normen eine gesteigerte Verbindlichkeit verleihen und somit eher zu einer Umsetzung dieser beitragen.9 Dementsprechend sieht beispielsweise Habermas die Funktion der Religion vor allem in einer Wertevermittlung und Stabilisierung der Moral, da die Religion den Menschen zu einem friedlichen gesellschaftsförderlichen Verhalten auffordert und Richtlinien definiert, um zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können.10 Besonders in der heutigen Zeit, welche von Relativität geprägt ist, die eine eindeutige moralische Kategorisierung von Werten erschwert, können religiöse Moralvorstellungen einen hilfreichen Orientierungshorizont bieten.11 Die Religion liefert somit nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für den Staat „die sozialmoralischen Fundamente des Gemeinwesens.“12 Dies lässt sich im deutschen Grundgesetz wiedererkennen, da bereits in der Präambel geschrieben steht, dass sich das deutsche Volk das Grundgesetz „[i]m Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“13 gegeben hat.

Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Annahme vertreten, dass der Glaube und die Bürgermoral ausschlaggebend für ein tugendhaftes Verhalten sind.14 Diese Auffassung kann heutzutage partiell bestätigt werden, da empirische Befunde über eine Korrelation von Frömmigkeit und gesteigertem prosozialen Verhalten vorliegen.15 Hermann Lübbe betont diesbezüglich nicht nur das für die Gesellschaft förderliche Verhalten von religiösen Menschen, sondern er spricht ausdrücklich von „einem Faktum, daß [sic!] religiöse Bindung die Bindung an moralische Regeln festigt.“16 Hierauf Bezug nehmend wird allerdings darauf hingewiesen, dass die Annahme, Religion würde nur zur Vermittlung von Moralvorstellungen beitragen, nicht ausreichend die Funktion der Religion erfasst. Ansonsten hätte sich mit der in der Aufklärung entstandenen Moralphilosophie eine Alternative für politische und soziale Bürgermoral gefunden, welche ein Weiterbestehen der Religion entbehrlich gemacht hätte.17

Neben einer moralischen Funktion wird der Religion im gesellschaftlichen Kontext auch die Funktion einer kontrollierenden und kontrastierenden Gegenseite zu politischen Ideologien zugesprochen.18 Somit kann eine religiöse Lebensführung die Resistenz gegenüber politischen Ideologien erhöhen, da Religion dazu beiträgt, „selbsttäuschungsresistent und weltanschauungsunbedürftig“19 zu sein. Religion und totalitäre Ideologien sind somit unverträglich, weil eine aufgeklärte Religion eine „weltbildindifferente Kultur“20 widerspiegelt und totalitäre Ideologien im Kontrast dazu stets eine starke „Weltbildfixierung“21 aufweisen. Folglich ist die Religion ist eben nicht auf ein irdisches Weltbild als sinngebende Erklärung und wegweisender Deutungshorizont angewiesen, sondern die sich durch die Religion eröffnete transzendente Perspektive mit ihren Werten, Normen und Regeln sollte unabhängig von totalitären Ideologien weiter Bestand haben und diese gegebenenfalls kritisch ermahnen und ihnen Widerstand leisten.

Um diese Art von Kritik an politischen Strömungen zu üben, benötigt es allerdings eine aufgeklärte Theologie, die darauf achtet, dass Religion im öffentlichen Raum nicht für politische und persönliche Zwecke missbraucht wird und damit einhergehend auch die individuellen Freiheiten der Menschen vor einer „religiösen Selbstüberhöhung des Politischen“22 geschützt werden.23

Diese kritisch-prüfende Kontrollfunktion der Religion bezieht sich nicht nur auf den politischen Kontext, sondern auch auf soziale und wirtschaftliche Entwicklungen. Dementsprechend erwähnen Politikwissenschaftler häufig die gemeinschaftsförderlichen und solidarischen Neigungen von Religionen, da diese gerade heutzutage einen Kontrast „zu liberalem Individualismus und wachsender […] kapitalistischer Nutzenegozentrik“24 darstellen. Mit dem Fortschreiten der Säkularisierung reduziert sich allerdings zunehmend der Einfluss der Religion als sozialmoralische und gesellschaftliche Kontrollinstanz.25

Die genannten Aspekte bieten folglich erste Anhaltspunkte dafür, dass die grundlegenden Funktionen von Religion im gesellschaftlichen Kontext durchaus in einer moralischen Komponente zu finden sind. Diese können oftmals dazu beitragen, die Bürgermoral und die öffentliche Ordnung zu stärken, wodurch religiöse Einflüsse häufig auch mit einem gesteigerten Maß an Solidarität und Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden können. Zusätzlich sollte die Religion stets eine gewisse Distanz zum Staat wahren, um diesem bei Überschreitungen von Regeln und Befugnissen kritisch und unabhängig entgegentreten zu können.

2.2. Eine anthropologische Perspektive

2.2.1. Kontingenzbewältigung und Sinnstiftung

Die Religion ist ein Phänomen, welches nicht nur Gesellschaften prägt, sondern ebenso den Menschen auf einer biografischen und persönlichen Ebene berührt, da vor allem Religionen oftmals in der Lage sind, Antworten auf Krisen und essentielle Fragen zu geben.26 Aufgrund dessen war und ist der Glaube „ein zentrales Medium menschlicher Selbst- und Weltauslegung“.27 Hierbei handelt es sich laut dem Religionsphilosophen Herman Lübbe um eine Möglichkeit, sich mit der „unverfügbaren Kontingenz unseres Lebens“28 in ein verständliches Verhältnis zu setzen. Lübbe sieht es als unvermeidbar an, dass die Religionen und die Menschen sich „zur unverfügbaren Kontingenz des Daseins und des Daseins der Welt in eine Beziehung setzen“29. Diese Notwendigkeit mag an der Beschaffenheit des Menschen liegen, da die Religiosität „ein anthropologisches Merkmal menschlicher Existenz“30 ist.

Die Möglichkeit des Menschen und der Religionen, sich in ein Verhältnis zum Unverfügba­ren zu setzen, bezeichnet Lübbe als „Kontingenzbewältigungs­praxis“31. Mit diesem Begriff sollen mögliche Wege beschrieben werden, wie Menschen und Religionen sich „wirklichkeitsadäquat und lebensdienlich“32 zu den Kontingenzen ihres eigenen Daseins in Beziehung setzen können. In anderen Worten handelt es sich hierbei um die Beschäftigung mit Sinnfragen, die Religionen beantworten können. Folglich können Religionen als „ein Medium der Lebenssinngewährleistung“33 verstanden werden.34 Interpretations­vorschläge von Seiten der Religionen können helfen, angemessen mit der Kontingenz der Welt und der eigenen Existenz umzugehen, da ansonsten ein Gefühl der „Nichtnotwendigkeit“35 allen Seins überwiegen kann. Lübbe verweist diesbezüglich auf Leibniz, der die kontingenzbezogene Frage formuliert hat „Warum sind wir überhaupt und nicht vielmehr nicht?“36 Die Spanne der Kontingenzeinflüsse reicht demnach sogar von einer kosmologischen Dimension, welche die Aufmerksamkeit darauf richtet, dass diese Welt und dieses Universum aufgrund von zahlreichen anderen willkürlichen Variablen und Einflussfaktoren auch ganz andere Formen hätte annehmen können, bis zum Individuum, welches einer Vielzahl an Unverfügbarkeiten ausgesetzt ist, wie zum Beispiel der Nationalität, dem Aussehen oder der Muttersprache, welche alle die Identität und Entwicklung eines Menschen unweigerlich prägen.37 Die Kontingenzen auf persönlicher Ebene werden zudem ergänzt durch emotionale Erfahrungen wie beispielsweise Not, Leid und Angst, die den Menschen oftmals auf beliebige Weise überkommen.38 Dies gilt nicht nur für die negativen Einflüsse, denen sich Menschen häufig machtlos ausgeliefert fühlen, sondern auch für die manchmal unvorhersehbaren Momente der Zufriedenheit, Dankbarkeit und Liebe.39 Um eine derartige Kontingenz anzuerkennen, benötigt es einer Bewältigung dieser Kontingenz.40 Die Religion vermag eine Lebenspraxis darzustellen, die diesbezüglich eine Hilfe bieten kann, durch welche der Mensch in der Lage ist, sich in eine Beziehung zur absoluten Kontingenz seines Daseins zu setzen.41

Lübbe ist der Ansicht, dass weder politische Entscheidungen noch technische Fortschritte oder persönliche Anstrengungen in der Lage sind, die kontingenzbewältigende Funktion der Religion zu übernehmen. Durch die Anerkennung der Kontingenz mittels einer religiösen Perspektive ändert sich damit einhergehend auch das Verhältnis zu sich selbst, da es den Menschen in Einklang mit seinen „unverfügbaren Bedingungen“42 bringt.43 Durch die bloße Anerkennung bestimmter gegebener Abhängigkeiten ändert sich diese gewiss nicht von selbst. Erst durch eine anerkennende Einstellung verändert sich die Perspektive des Menschen, welcher dadurch in die Lage versetzt wird, sich geeignet zu jenen zu verhalten.44 Dies ist von Bedeutung, da ein ledigliches sich Bewusstmachen der eigenen Kontingenz und der vorgegebenen Abhängigkeiten an sich keinen Mehrwert bietet. Als förderlich für das eigene Leben wird dieses sich in Beziehung setzen erst erlebt, wenn der Mensch in Übereinstimmung mit seinen Kontingenzen lebt. Diese anerkennende Übereinstimmung ist in der Lage dem Menschen, trotz seiner individuellen Lebensumstände, Zufriedenheit zu ermöglichen. Dies bedeutet beispielsweise, dass ein Mensch auch nach einem scheinbar misslungenen Leben dieses mithilfe von Kontingenzbewältigung akzeptieren kann, ohne sich selbst oder andere dafür anzuklagen und verantwortlich zu machen.45

Die Sprache der Religionen bezieht sich zutreffend auf diese Problematik, da sie dabei hilft, sich auf lebensdienliche Weise in Beziehung zu scheinbar willkürlichen und zufälligen Kontingenzen zu setzen. Die religiösen Auslegungen der Kontingenz der Welt und der Probleme des Menschen ermöglichen es, diese aus einer Perspektive „heilsamer Distanz“46 zu betrachten, wodurch Menschen in Zeiten der Angst und Ungewissheit in religiösen Texten Trost und Halt finden können.47 Vor allem in der heutigen Zeit entsteht im Hinblick auf die Zukunft ein erhöhtes Maß an Ungewissheit, da die stetigen technologischen Entwicklungen es zunehmend erschweren, verlässliche Urteile und Prognosen über die Zukunft zu tätigen.48 Ergänzt werden diese Schwierigkeiten im Umgang mit kontingenten Einflüssen zusätzlich durch die zunehmende Bewertung des menschlichen Lebens mittels des Blickes auf seine Funktionalität. Menschen werden austauschbar und auf der Basis ihrer Leistungsfähigkeit verglichen. Wird der Wert eines Lebens allerdings anhand der Leistung beurteilt, so würde der Wert eines Menschen konsequenter Weise auch mit abnehmender Leistungsfähigkeit sinken. Diese funktionsorientierte Auslegung hätte fatale Folgen für das menschliche Selbstverständnis.49

Besonders im Hinblick auf derartige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen bieten manche Religionen entschiedene Gegenpositionen. Demgemäß vermag ein christlich verstandener Personalismus einen gravierenden Gegensatz zu den „depersonalisierenden Kräften der Moderne“50 darstellen, welcher zu einem anderen Selbstbild des modernen Individuums beitragen würden.51 Zusätzlich besitzen Religionen die Fähigkeit, „das Leben des Einzelnen in einen letzten Deutungshorizont zu stellen, und sie biete[n] weithin konkurrenzlos symbolische Bestände und Sprachmuster zu individueller Identitätsbildung, Sinndeutung und kohärenter Präsentation der Lebensgeschichte.“52

Die angeführten Ergebnisse lassen erkennen, dass die Religion vor allem im Umgang mit unumgänglichen Kontingenzen und Sinnfragen eine nichtersetzbare Funktion einnimmt. Durch religiöse Angebote der Akzeptanz und Bewältigung der Kontingenz eröffnen sich zudem neue, förderliche Perspektiven auf das eigene Dasein, die eigene Identität und die eigene Sinnhaftigkeit.

2.2.2. Die Religion und ihr Einfluss auf das solidarische Verhalten des Einzelnen

Neben der im letzten Abschnitt angesprochenen sinnstiftenden und kontingenzbewältigenden Funktion der Religion besitzt diese auch eine „handlungsmobilisierende“53 Komponente, welche sich unter anderem positiv auf die Hilfsbereitschaft und auf das soziale Eingebundensein eines Menschen auswirkt.54 Diese Tendenzen zeigen sich beispielsweise bei dem ehrenamtlichen Engagement und der Spendenbereitschaft von gläubigen Christinnen und Christen. Dies berichtet unter anderem das Institut der deutschen Wirtschaft, welches sich bei ihren Untersuchungen auf mehrere Studien im In- und Ausland bezogen hat. Alle Untersuchungen haben ein erhöhtes ehrenamtliches Engagement von christlichen Menschen verzeichnet, wobei vor allem die Entschlossenheit des Glaubens einen entscheidenden Indikator darstellt, denn „[j]e höher die persönliche religiöse Überzeugung, desto wahrscheinlicher ist gemeinnütziges Engagement.“55

Ähnliche Ergebnisse lassen sich auch bei aktuelleren Studien zum Spenderverhalten in Deutschland erkennen. Im Jahr 2012 kamen circa drei Viertel des gesamten gespendeten Geldes von Christinnen und Christen, die ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Die erhöhte Spendenbereitschaft christlicher Menschen wird noch eindeutiger, wenn ein Blick auf die Spendenbereitschaft regelmäßiger Gottesdienstbesucher geworfen wird. 22% der deutschen Bevölkerung sagen von sich, dass sie wenigstens gelegentlich den Gottesdienst besuchen. Diese Gruppe steht bereits für 40% des gesamten Spendenvolumens in Deutschland. Von diesen 22% besuchen 9% regelmäßig den Gottesdienst und diese Gruppe allein verkörpert 24% der gesamten Geldspenden in Deutschland.56 Das Fazit dieser Studie hält folglich fest, dass „Menschen, die religiös gebunden sind, überdurchschnittlich stark zum gesamten Spendenvolumen bei[tragen].“57

Mit Blick auf die weiteren in der Studie abgebildeten Entwicklungen zum Spendenverhalten zeichnen sich momentan allerdings eher unangenehme Entwicklungen ab, denn die Bereitschaft zu spenden hat in den letzten Jahren eher abgenommen.58 Besonders die Spendenbereitschaft berufstätiger Menschen ist beispielsweise innerhalb von 4 Jahren (2005-2009) zwischen 10 und 20% gefallen. Hinzu kommt, dass circa die Hälfte aller Spenden von Menschen über 60 Jahren getätigt werden und diese Generation im Laufe der Zeit stetig abnehmen wird.59 Offen bleibt somit vorerst, ob diese hohe Spendenbereitschaft älterer Menschen vor allem auf den Glauben zurückzuführen ist oder ob noch andere Motive Menschen im Alter dazu veranlassen, sich solidarischer zu zeigen. Für einen Zusammenhang mit dem Glauben spricht unter anderem die Selbsteinschätzung älterer Menschen, die sich mehrheitlich als gläubige Menschen beschreiben.60 Es bleibt somit vorerst zu beobachten, wie das Spendenverhalten künftiger Seniorengenerationen aussehen wird, die womöglich zunehmend konfessionslos geprägt sein werden. Diesbezüglich wären weitere Untersuchungen notwendig, um empirische Erkenntnisse darüber zu erlangen, inwiefern eine Korrelation zwischen der zunehmenden Zahl konfessionsloser Menschen und dem Abfall der Spendenbereitschaft in der Bevölkerung vorliegt. Somit könnte der Zusammenhang zwischen dem Glauben religiöser Menschen und einem solidarischen Verhalten als Funktion von Religion bekräftigt werden.

Vorerst bleibt allerdings die Frage offen, warum Menschen der christlichen Religionsgemeinschaften eher solidarische Verhaltensweisen zeigen als Menschen aus anderen gesellschaftlichen Gruppen. Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, der eine mögliche Antwort auf die Frage nach der überdurchschnittlichen sozialen Bereitschaft religiöser Menschen geben soll. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf verweist diesbezüglich auf die Position protestantischer Theologen, die der Annahme waren, dass „sich dem Menschen seine Humanität nur erschließt, wenn er sich sub specie Dei, als gerechtfertigter Sünder wahrzunehmen vermag.“61 Diese Aussage wird vermutlich auf Kritik von manchen konfessionslosen Menschen stoßen, weswegen im Folgenden mögliche Unterschiede im Selbstverständnis eines Menschen „sub specie Dei“ dargestellt werden, welche sich tendenziell positiv auf ein solidarischeres Verhalten auswirken.

Mit Blick auf die biblischen Überlieferungen zeichnet sich das Selbstverständnis christlicher Menschen unter anderem durch ein hohes Maß an Dankbarkeit aus. Es finden sich beispielsweise bei Paulus zahlreiche Stellen, in denen er seinen Dank äußert. In 1 Kor 1,4f. dankt er Gott für seine Gnade, in Röm 6,17f. dankt er Gott für die Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde und in 1 Tim 1,12f. spricht er seinen Dank für die gespendete Kraft, Barmherzigkeit und Treue Gottes aus.62 Nun stellt sich die Frage, welche Auswirkungen ein derartiges Gefühl von Dankbarkeit auf das solidarische Verhalten haben kann.

Zunächst lässt sich festhalten, dass Dankbarkeit häufig auch im Sinne einer grundsätzlichen „Daseinsfreude“63 verstanden wird, welche unter anderem auf das Gelingen des eigenen Lebens zurückgeführt werden kann, oder aber auch auf das Gefühl, anderen Menschen beim Gelingen ihres Lebens unterstützt zu haben.64 Bevor ein Mensch allerdings einem anderen Menschen hilft, setzt dies „immer schon das Moment des Dankbarseins im Sinne des Beschenktseins als ursprüngliches Motiv voraus“.65 Dieses Motiv zeigt sich in Paulus‘ Dankbarkeit als eine Art christlichen Selbstverständnisses, durch welches sich ein Christ stets als von Gott beschenkt ansieht. Aus dieser Erfahrung erwächst die Bereitschaft, anderen aus freien Stücken etwas zurückzugeben, denn „[d]ie Bereitschaft zu geben verweist auf das Beschenkt- und Geliebtsein des Gebenden“.66 Der Mut und die Bereitschaft, helfend und gebend auf andere Menschen zuzugehen, lässt sich folglich auf ein „Gefühl der Liebe, genauer, der Erfahrung des Geliebtseins“67 zurückführen. Dies wird unterstrichen durch die Bibelstelle 1 Joh 4,19, in der geschrieben steht: „ Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“68

[...]


1 Vgl. Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz, u.a.: Verlag Styria, 1986, 84.

2 Ebd.

3 Vgl. Drehsen, Volker; u.a. (Hg.): Kompendium Religionstheorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, 279f.

4 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: C.H. Beck, 2004, 94.

5 Ebd.

6 Vgl. ebd., 225.

7 Rösener, Antje (Hg.): Was bringt uns das? Vom Nutzen religiöser Bildung für Individuum, Kirche und Gesellschaft. Münster, u.a.: Waxmann, 2013, 22.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. Drehsen: Kompendium, 314.

10 Vgl. ebd., 279.

11 Vgl. Rösener: Nutzen, 22f.

12 Graf: Wiederkehr, 252. (Vgl. Präambel des dt. Grundgesetzes)

13 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Präambel. In: www.gesetze-im-internet.de. URL: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/pr_ambel.html (letzter Aufruf 20.9.18)

14 Vgl. Lübbe: Religion, 84.

15 Vgl. ebd., 99.

16 Ebd., 213.

17 Vgl. Lübbe: Religion, 87f.

18 Vgl. ebd., 326.

19 Ebd., 63.

20 Ebd., 238.

21 Ebd.

22 Ebd., 273.

23 Vgl. ebd.

24 Graf: Wiederkehr, 15.

25 Vgl. Lübbe: Religion, 91.

26 Vgl. Drehsen: Kompendium, 244.

27 Graf: Wiederkehr, 38.

28 Lübbe: Religion, 17.

29 Ebd., 241.

30 Drehsen: Kompendium, 241.

31 Lübbe: Religion, 149.

32 Ebd., 178.

33 Ebd., 180.

34 Vgl. Ebd., 179f.

35 Ebd., 156.

36 Ebd.

37 Vgl. ebd., 159f.

38 Vgl. ebd., 151.

39 Vgl. ebd.

40 Vgl. ebd., 166.

41 Vgl. ebd., 156.

42 Ebd., 16.

43 Vgl. Ebd.

44 Vgl. ebd., 167.

45 Vgl. ebd., 177.

46 Ebd., 39.

47 Vgl. ebd., 39f.

48 Vgl. ebd., 24.

49 Vgl. ebd., 182ff.

50 Drehsen: Kompendium, 154.

51 Vgl. ebd., 154.

52 Graf: Wiederkehr, 207.

53 Drehsen: Kompendium, 330.

54 Vgl. ebd., 330f.

55 Der Glaube versetzt Berge!. In: www.iwkoeln.de. URL: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-kurzberichte/beitrag/ehrenamt-der-glaube-versetzt-berge-53238.html (letzter Aufruf 20.9.18)

56 Aktueller Stand der Forschung zu Geldspenden in Deutschland. Empirische Literaturstudie. In: URL: http://docs.dpaq.de/3143-endbericht_spendenforschung_f_r_frt.pdf (letzter Aufruf 20.9.18), 19f.

57 Ebd., 57.

58 Vgl. ebd., 3 u. 11.

59 Vgl. ebd., 12f.

60 Als wie gläubig würden Sie sich bezeichnen? In: www.statista.com. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/387843/umfrage/umfrage-zur-persoenlichen-religiositaet-in-der-schweiz/ (letzter Aufruf 20.9.18)

61 Graf: Wiederkehr, 249.

62 Vgl. Luther, Martin: Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen. Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers mit Einführungen und Erklärungen. Hrsg. von der EKD. 2. verbesserte Auflage. Stuttgart: Dt. Bibelgesellschaft, 2007.

63 Burbach, C.; Heckmann, F.: Generationenfragen. Theologische Perspektiven zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, 104.

64 Vgl. ebd.

65 Ebd., 107.

66 Ebd., 108.

67 Ebd.

68 1 Joh 4,19.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Mindert die Religionskritik des evolutionären Humanismus die Erklärungskraft einer funktionalen Religionstheorie?
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
2,1
Autor
Jahr
2018
Seiten
44
Katalognummer
V459811
ISBN (eBook)
9783668885431
ISBN (Buch)
9783668885448
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Religionskritik, Evolutionärer Humanismus, funktionale Religionstheorie
Arbeit zitieren
Timo Benninger (Autor:in), 2018, Mindert die Religionskritik des evolutionären Humanismus die Erklärungskraft einer funktionalen Religionstheorie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459811

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Mindert die Religionskritik des evolutionären Humanismus die Erklärungskraft einer funktionalen Religionstheorie?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden