Zur Identitätsproblematik bei Schwerhörigkeit im Alter


Magisterarbeit, 2017

93 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kurzfassung

1. Einleitung

2. Zur Forschungslage

3. Grundlagen zur Schwerhörigkeit im Alter
3.1 Prävalenz und Begriffsbestimmungen
3.2 Stand und Ablauf der Hörgeräteversorgung

4. Folgen von Schwerhörigkeit im Alter
4.1 Soziologie des Hörens - Primäre Auswirkungen von Schwerhörigkeit
4.2 Stigmatisierung - Sekundäre Auswirkungen von Schwerhörigkeit im Alter
4.3 Umgang mit der Stigmatisierung

5. Identitätsproblematik durch Schwerhörigkeit im Alter
5.1 Herausforderung der Neuidentifizierung
5.2 Leib-Körper-fundiertes Identifikationsmodell von Gugutzer

6. Fragestellung und Methode der qualitativen Untersuchung

7. Ergebnisse der Interviewauswertung
7.1 Auswertung der Experteninterviews
7.2 Auswertung der Kundeninterviews

8. Diskussion und Schlussfolgerung

9. Literaturverzeichnis

Anhang 1

Anhang 2

Anhang 3

Anhang 4

Anhang 5

Anhang 6

Anhang 7

Anhang 8

Anhang 9

Vorwort

Durch private Kontakte zu einem Hörgerätefachgeschäft, das mit fünf Filialen im Rhein-Main-Gebiet vertreten ist, durfte ich bereits im Laufe meines Studiums viele Einblicke in die Berufswelt der Hörgeräteakustik gewinnen. Die Kunden der Hörgeräteakustiker sind überwiegend ältere Menschen. Mir fiel auf, dass den Betroffenen der Gang zum Hörgeräteakustiker große Überwindung kostet und die Hörgeräteanpassung viele Hürden mit sich bringt, die weniger auf der technischen Seite als auf der menschlichen Seite liegen. Diese Situation war für mich zwar nachvollziehbar, aber aufgrund meiner Begeisterung für Musik, die sich während des Studiums meines zweiten Magisterhauptfaches Musikwissenschaft vertieft hat, ist eine Schwerhörigkeit in meiner Vorstellung ein unerträglicher Zustand, den es zu beheben gilt. Der Wunsch, diese Situation zu verstehen, war die Grundlage, auf der die Idee für die vorliegende Arbeit entstanden ist. Aus der Kundschaft der Firma durfte ich die Interviewpartner generieren und anschließend die Interviews in den Filialen durchführen. Daher gilt der Firma, deren Namen ich aus Datenschutzgründen nicht nenne, mein besonderer Dank für ihre Unterstützung. Mein weiterer Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Allert, der mich dazu ermutigt hat, dieses Thema zu untersuchen und Prof. Dr. Lemke, der sich dazu bereit erklärt hat, das Zweitgutachten für meine Arbeit zu erstellen.

Kurzfassung

Der theoretische Teil der Magisterarbeit untersucht klassische Texte der Soziologie von Simmel und Goffman auf ihre Aussagen über das Gehör und seine gesellschaftsbildende Funktion sowie Folgen einer Funktionsstörung des Gehörs. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Stigmatisierungsprozesse gelegt, die im Falle der Schwerhörigkeit im Alter nicht nur einen, sondern zwei Faktoren betrifft. Im weiteren Verlauf der Abhandlung wird die Rolle der Identität für die Akzeptanz von Schwerhörigkeit und Alter untersucht. Der schleichende Verlauf dieser beiden Prozesse die zu Schwerhörigkeit und Alter führen, stellen dabei eine besondere Schwierigkeit bei der Neuidentifizierung dar. Im empirischen Teil der Arbeit werden mithilfe qualitativer Interviews, die mit Hörgeräteakustikern als Experten und Hörgeräteträgern als Betroffenen geführt wurden, Schwerpunkte im Prozess der Neuidentifizierung herausgearbeitet. Durch die qualitative Inhaltsanalyse, mit der die Interviews ausgewertet wurden, konnten die Ergebnisse der Interviewaussagen präzisiert werden. Abschließend wurden in Verbindung mit den aus dem Theorieteil der Arbeit stammenden Ergebnissen Hypothesen formuliert, die als Grundlage für weitere Forschungen dienen können.

1. Einleitung

Die vorliegende Magisterarbeit untersucht die Frage nach Ursachen der Unterversorgung mit Hörgeräten. Zwar gibt es unterschiedliche Zahlen über die Verbreitung von Schwerhörigkeit im Alter, jedoch gilt es als erwiesen, dass der Versorgungsstand mit Hörgeräten grundsätzlich zu niedrig ist. Die schlechte Versorgungsrate ist nicht mit einer Verweigerung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen oder einem erschwerten Zugang zu Hörgeräteakustikern zu erklären. Die Betroffenen zeigen zu selten und zu spät Eigeninitiative, um eine Änderung ihres Zustandes aktiv und rechtzeitig herbeizuführen. Welche Faktoren beeinflussen den Umgang einer Person mit Schwerhörigkeit im Alter? Ein positiver Umgang bedeutet dabei die Akzeptanz und das regelmäßige Tragen von Hörgeräten. Ein negativer Umgang kennzeichnet sich demnach durch die Verweigerung von Hörgeräten.

Um die Ausgangslage, die der Forschungsfrage zu Grunde liegt, zu klären, beginnt die Arbeit in Kapitel 2 mit einer kurzen Beschreibung der Forschungslage. In Kapitel 3.1 folgt die Darstellung der Prävalenz von Schwerhörigkeit und eine Begriffsbestimmung der Bezeichnungen „Alter“ und „Schwerhörigkeit“. Im Anschluss daran folgt eine Thematisierung der Versorgungslage und des Versorgungsweges in Deutschland (Kapitel 3.2). Kapitel 4.1 untersucht die Aussagen Georg Simmels in seinen Texten zur Soziologie der Sinne im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Situation eines Hörverlustes. Dabei zeigt sich, dass die Funktion des Hörens eine wichtige Rolle für zwischenmenschliche Beziehungen einnimmt und eine Hörminderung somit eine Funktionsstörung in der Kommunikation darstellt, die negative Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe mit sich bringt. Diese Folgen werden als primäre Auswirkungen einer Schwerhörigkeit bezeichnet. In Kapitel 4.2 werden die sekundären Auswirkungen eines Hörverlustes untersucht. Darunter sind Stigmatisierungsprozesse zu verstehen, die im Falle eines Hörverlustes im Alter eintreten können. Hierbei wird deutlich, dass der Faktor Alter und der Faktor Schwerhörigkeit eine Stigmatisierung auslösen können und das gemeinsame Auftreten der beiden Faktoren besondere Herausforderungen darstellt. Die Folgen und der Umgang mit einer Stigmatisierung werden in Kapitel 4.3 genauer thematisiert. Dazu werden Aussagen Erving Goffmans mit der Situation schwerhöriger alter Menschen gegenübergestellt. Kapitel 5.1 widmet sich der Identitätsproblematik, die mit der Diagnose „Schwerhörigkeit im Alter“ einhergeht. Auch bei der Identitätsthematik ist zu berücksichtigen, dass das alleinige Auftreten von Schwerhörigkeit oder Alter einen anderen Einfluss auf die Identität nehmen kann als ein gekoppeltes Auftreten dieser beiden Punkte. In Kapitel 5.2 wird das Leib-körper-fundierte Identitätsmodell von Robert Gugutzer im Hinblick auf die Situation von schwerhörigen alten Menschen untersucht. Dabei wird deutlich, dass die Besonderheit des Alters und der Schwerhörigkeit ihr schleichender Prozess ist, der ohne starke körperliche Schmerzen vollzogen werden kann. Diese Aspekte machen eine Neuidentifizierung mit dem Alter und der Schwerhörigkeit komplex. Mit Kapitel 6 beginnt die Dokumentation der qualitativen Untersuchung. Dabei werden die Stichproben, die verwendeten Forschungsmethoden zur Datenerhebung und -auswertung und die Durchführung der Untersuchung erläutert. Die Wahl des Instrumentes zur Datenerhebung fiel auf qualitative Interviews und zur Datenauswertung auf die qualitative Inhaltsanalyse. In Kapitel 7 erfolgt die Darstellung der wichtigsten Ergebnisse. Kapitel 8 verknüpft die Ergebnisse mit den im Theorieteil untersuchten Aussagen. Um eine Beantwortung der Forschungsfrage zu erhalten werden die Ergebnisse interpretiert und Schlussfolgerungen sowie Hypothesen formuliert.

Die vorliegende Arbeit ist in der Medizin- und Gesundheitssoziologie, der Soziologie des Körpers und im Bereich Alter(n) und Gesellschaft zu positionieren.

Im Text wurde zur einfacheren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Dennoch sind dabei immer beiderlei Geschlechter gemeint. Es wurde trotzdem (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) auf möglichst geschlechtsneutrale Formulierungen geachtet.

2. Zur Forschungslage

Bei der Sichtung der Forschungsliteratur fällt zunächst auf, dass die meisten Untersuchungen sich mit Formen von kindlichen Hörstörungen befassen. Wie in Kapitel 3 zu sehen ist, sind die meisten Schwerhörigen jedoch im höheren Erwachsenenalter zu verorten. Erklärt wird die Fokussierung der Forschung auf kindliche Hörstörungen mit der Relevanz des Hörens für die intellektuelle, sprachliche und emotionale Entwicklung im Kindesalter.1 Ein weiteres Defizit zeigt sich in der Erfassung der Prävalenz von Schwerhörigkeit. Zahlreiche Angaben greifen auf eine 1985 durchgeführte Studie des deutschen Grünen Kreuzes zurück. Sie liefert umfassende Daten, während neuere Studien sich häufig auf kleinere Stichproben beziehen. Einen wichtigen Beitrag zu Forschung leistete die Dissertation von Pelz 2007, die sich mit dem Stigma Schwerhörigkeit befasst und „[e]mpirische Studien und Ansätze zur Erhöhung der Akzeptanz von Hörgerten“ liefert.2 Sie untersucht die Komponenten des Stigmas Schwerhörigkeit bezüglich verschiedener Altersgruppen und findet heraus, dass sich die Relevanz der verschiedenen Komponenten mit dem Alter der Betroffenen verschiebt. Tesch-Römer, Leiter des Deutschen Zentrums für Altersfragen in Berlin, veröffentlicht regelmäßig neue Forschungsergebnisse zum Thema „Hören und Kommunikation im höheren Lebensalter“.3 Eine Einführung „[z]ur Psychologie und Soziologie von Menschen mit Hörschädigung“ verfasste Johannes Eitner, Schulleiter der Elbschule in Hamburg, einem sogenannten „Bildungszentrum Hören und Kommunikation“, an dem Kinder aller Altersstufen, die an einer Hörschädigung leiden, unterrichtet werden.4 Ein noch unbearbeitetes Gebiet in der Forschung ist jedoch die Identitätsfindung der von Schwerhörigkeit im Alter Betroffenen und die Rolle dieses Prozesses für eine erfolgreiche Hörgeräteversorgung.

3. Grundlagen zur Schwerhörigkeit im Alter

3.1 Prävalenz und Begriffsbestimmungen

Um die Situation der von Schwerhörigkeit im Alter Betroffenen zu untersuchen sind zunächst Begriffsbestimmungen erforderlich, um zu klären, was genau mit „Alter“ und „Schwerhörigkeit“ gemeint ist. In der vorliegenden Arbeit werden Definitionen und Begriffe, die das Alter beschreiben, aus den Beiträgen zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes übernommen. Darin wird die Gruppe der alten Menschen in zwei Untergruppen aufgeteilt. Mit „jungen Alten“ werden die 65- bis 85-Jährigen bezeichnet. Dieser Altersabschnitt wird außerdem „drittes Lebensalter“ genannt.Als „alte Alte“ wird die Gruppe der über 85-Jährigen bezeichnet, die überdies den Altersabschnitt des vierten Lebensalters kennzeichnet. Die Bezeichnungen „alte Alte“, „sehr alte Menschen“, „Hochaltrige“ und „Hochbetagte“ werden dabei synonym verwendet.5 Wie kommt es zu dieser Einteilung? Verschiedene Disziplinen wie Biologie, Psychologie und Soziologie haben unterschiedliche Auffassungen vom Alternsprozess und vom Alter. In der Lebenslaufsoziologie beispielweise erfolgt eine Einteilung des Lebenslaufes oft in die drei Phasen: Bildungsphase, Erwerbstätigkeits- und Familienphase sowie Ruhestand. Der Übergang von einer Phase in die nächste wird dabei durch Statuspassagen markiert, zum Beispiel durch das Ende der Erwerbstätigkeit und den Eintritt in den Ruhestand. Physiologische Alterserscheinungen treten dagegen bereits früher auf.6

Die Gerontologie, also die Alternsforschung, erfordert multi- und interdisziplinäres Arbeiten zwischen den unterschiedlichen Wissenschaften wie Medizin, Biologie, Psychologie und Soziologie.7 Trotz der schwierigen bis unmöglichen Aufgabe, eine allgemeingültige Grenze zu setzen, bei der das Alter beginnt, wird in der Gerontologie der Beginn des Alters häufig bei 60 oder 65 Jahren angesetzt. Durch gestiegene Lebenserwartung umfasst die Phase des Alters mittlerweile oftmals mehrere Jahrzehnte. Daher ist es sinnvoll, diese Phase weiter in ein drittes und viertes Lebensalter zu unterteilen. Aus den Ergebnissen der Berliner Altersstudie ist zu erkennen, dass sowohl physische als auch psychische Erkrankungen bei Menschen jenseits von 80 bis 85 Jahren deutlich zunehmen. Eine weitere Definition des Beginns der Hochaltrigkeit ist das Alter, in dem 50% der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs verstorben sind. Dieses Alter liegt laut statistischem Bundesamt 2005/2007 je nach Geschlecht zwischen 79 und 85 Jahren. Trotz der Argumente, dass es zwischen „drittem“ und „viertem“ Lebensalter keine eindeutig definierbare Statuspassage gibt, die den Übergang von der einen Phase in die andere markiert, und dass große Unterschiede bezüglich der Gesundheit älterer Menschen dokumentiert werden können, liefert die steigende Wahrscheinlichkeit für Gesundheitsprobleme jenseits des 80. bis 85. Lebensjahres eine sinnvolle Grenze für den Beginn der Hochbetagtheit.8

Um den Begriff der Schwerhörigkeit zu definieren ist eine kurze Erläuterung des Vorgangs des Hörens nützlich. Bei einem gesunden Menschen werden akustische Signale, die aus Schallwellen bestehen, zunächst vom Außenohr aufgenommen. Die Schallwellen bringen das Trommelfell zum Schwingen, was von den Gehörknöchelchen im Mittelohr an die Schnecke im Innenohr weitergeleitet wird. Im Innenohr werden Nerven angeregt, die die Reize schließlich ans Gehirn weitergeben. Die Stärke der Schallwellen wird Schalldruckpegel genannt und in Dezibel (dB) angezeigt. Der Schalldruckpegel, der gerade noch wahrgenommen werden kann, wird Hörschwelle genannt und in „dB HL“ (HL = „Hearing Level“) angegeben. Diese ist abhängig von der Frequenz des Schalles, also von der Tonhöhe, die in Hertz (Hz) und Kilohertz (kHz) angegeben wird.9 Die Hauptsprachfrequenzen liegen zwischen 0,5kHz und 4kHz.10 Bei einem Hörtest werden für jedes Ohr die frequenzspezifischen Hörschwellen ermittelt. Dabei kommen verschiedene audiometrische Prüfverfahren zum Einsatz, die international genormt sind. Zu den Prüfverfahren zählen die Tonaudiometrie, die Sprachaudiometrie und die Knochenleitungsaudiometrie. Für die meisten Studien kommt die Tonaudiometrie für die Beurteilung einer Schwerhörigkeit zum Einsatz.11 Auf detaillierte Erläuterungen zum Ablauf der Messungen wird an dieser Stelle verzichtet, da sie den Rahmen sprengen würden und für die Kernaussagen wenig relevant sind. Das bisher Gesagte zeigt aber bereits, dass zahlreiche Parameter für die Feststellung der Hörfähigkeit zur Verfügung stehen, was verdeutlicht, wie komplex die Durchführungen flächendeckender repräsentativer Untersuchungen sind. Tonaudiogramme bilden die Grundlage diverser Skalen, die alle zur Einteilung der Hörfähigkeit dienen. Während beim „Königsteiner Merkblatt“ der errechnete prozentuale Hörverlust als Kriterium dient, verwenden die Weltgesundheitsorganisation (engl. World Health Organization, WHO) und die Europäische Kommission einen über mehrere Frequenzen gemittelten Hörverlust zur Klassifikation.12 Die WHO veröffentlichte im Jahr 1991 eine Einteilung der Schwerhörigkeit, die seit 1997 lediglich um einen weiteren Messwert ergänzt wurde. Der entscheidende Wert zur Einteilung der Hörschädigung nennt sich „BEHL“ (Better Ear Hearing Loss) und ergibt sich aus dem Mittelwert der gemessenen Hörschwellen bei den Frequenzen 500 Hz, 1000 Hz, 2000 Hz und (seit dem Jahr 1997) 4000 Hz auf dem besser hörenden Ohr. Die Einteilung ist der Tabelle 1 auf der nächsten Seite zu entnehmen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 : Schwerhörigkeitsgrade nach Einteilung der WHO von 1991 (übersetzt aus dem Englischen)13

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eine eigene Einteilung der Schwerhörigkeitsgrade veröffentlichte die Europäische Kommission im Jahr 1996, die in Tabelle 2 abgebildet ist. Bereits beim Vergleich dieser beiden Tabellen wird deutlich, dass eine

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2 : Schwerhörigkeitsgrade nach Einteilung der Europäischen Kommission von 1996 (übersetzt aus dem Englischen)[14]

Einigung auf eine allgemeingültige Definition von Schwerhörigkeit und Schwerhörigkeitsgraden schwierig ist. Eine andere wichtige Rolle für die Betroffenen spielen die deutschen Hilfsmittel-Richtlinien, in denen festgelegt ist, dass ein Hörgerät ab einem Hörverlust von 30 dB HL verordnet wird.15 Abhängig davon, welche Einteilung der Schwerhörigkeitsgrade und welche Messverfahren einer Studie zur Erfassung der Prävalenz zu Grunde liegen, fallen die Ergebnisse einer Studie unterschiedlich aus. Andere Untersuchungen wie die des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 führen lediglich Befragungen durch, in der die Probanden ihre eigene Hörfähigkeit einschätzen sollen.16 Die angeführten verschiedenen Vorgehensweisen bei der Erfassung der Prävalenz von Schwerhörigkeit spiegeln sich in den Ergebnissen der wenigen Untersuchungen wider, die dazu durchgeführt wurden. Ohne detailliert auf die methodische Herangehensweisen der Studien einzugehen, seien hier beispielhaft die Untersuchung des Deutschen Grünen Kreuzes 1986 genannt, laut der 26,8% der Deutschen eine Schwerhörigkeit aufweisen, und die Untersuchung von Sohn und Jörgenshaus 2001, die 19% der Bevölkerung als schwerhörig bezeichnet.17 Neuere Daten liefert die epidemiologische Untersuchung zum Hörstatus „HÖRSTAT“ aus dem Jahr 2015. Nach dieser Studie liegt die Prävalenz von Schwerhörigkeit in der Teilnehmergruppe (18 – 97 Jahre, n=1866) nach der WHO-Klassifizierung bei 15,7%.18 Die häufigsten Formen der Hörstörungen sind frühkindliche Schwerhörigkeit, Hörschäden durch Lärmbelastung, Schwerhörigkeit im Ater sowie der Hörsturz. Des Weiteren kann man unterscheiden zwischen vorübergehender und permanenter Schwerhörigkeit, beidseitiger und einseitiger Schwerhörigkeit oder schallleitungsbedingter, innenohrbedingter und neural bedingter Schwerhörigkeit.19

Studien zum Hörvermögen werden meist streng nach „Kindern“ und „Erwachsenen“ getrennt durchgeführt. Die Untersuchungsmethoden für Kinder unterscheiden sich von denen für Erwachsene, und auch die Einteilung in „normal hörend“ und „schwerhörig“ liegt für Kinder bei einer niedrigeren Hörschwelle als bei Erwachsenen.20 Laut des Deutschen Zentralregisters für kindliche Hörstörungen (DZH) liegt die Prävalenz kindlicher Hörstörungen in Deutschland bei 0,12%.21 Dennoch gibt es mehr Untersuchungen und Forschungsliteratur zum Thema kindliche Hörstörungen als zum Thema Schwerhörigkeit im Alter.22

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Unterteilt man die Probanden der Untersuchung „HÖRSTAT“ in Altersgruppen, stellt man einen deutlichen Anstieg des Anteils an Schwerhörigen pro Dekade ab dem 60. Lebensjahr fest (Tabelle 3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: Prävalenz der Schwerhörigkeit laut der Studie HÖRSTAT unterteilt in Altersgruppen23

Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass mit dem Anstieg der Prävalenz auch ein Anstieg des Schwerhörigkeitsgrades einhergeht. Werden von allen schwerhörigen 60-69-Jährigen lediglich 3% als mittel- und hochgradig schwerhörig eingestuft, sind es bei den 70-79-Jährigen bereits 14% und bei den über 80-Jährigen sogar 36%.24

Weitere Begriffe für eine Schwerhörigkeit im Alter sind „altersbegleitende Schwerhörigkeit“, „Alters(schwer)hörigkeit“ oder „Presbyakusis“.25 Es ist jedoch strittig, ob es überhaupt eine rein physiologische Alterung und damit verbundene Verschlechterung des Hörorgans gibt. Vermutet wird, dass eine Kombination von lärmbedingter, viral bedingter, erblich bedingter oder stoffwechsel-assoziierter Schwerhörigkeit sowie altersphysiologischer Veränderungen die Ursachen der Schwerhörigkeit im Alter sind.26 Daher ist die Bezeichnung „Schwerhörigkeit im Alter“ angemessener als die oben genannten Begriffe, die auf eine rein altersbedingte Schwerhörigkeit hindeuten.27 Kennzeichnend für diese Art Schwerhörigkeit ist ein zunächst moderater, aber mit zunehmendem Alter stetig zunehmender, beidseitiger Hochtonverlust. Das heißt, vor allem die Wahrnehmung hoher Frequenzen, wie zum Beispiel Vogelgezwitscher oder Kinderstimmen, ist eingeschränkt. Auch die Sprachdiskrimination fällt den Betroffenen schwer, denn die Konsonanten unterscheiden sich häufig nur im Hochtonbereich. Des Weiteren ist eine herabgesetzte Unbehaglichkeitsschwelle charakteristisch. Das bedeutet, es kommt zu einer Überempfindlichkeit für Geräusche mit hohem Schallpegel.28

3.2 Stand und Ablauf der Hörgeräteversorgung

Da der Ablauf einer Hörgeräteversorgung oft unklar ist, wird dieser im folgenden Abschnitt beschrieben. Der Versorgungsweg ist zwar zeitaufwändig, jedoch bleibt die Testphase für den Kunden bis zum Kauf eines Hörgerätes kostenlos. Dennoch ist der Anteil der mit Hörgeräten versorgten Schwerhörigen verbesserungswürdig. Die Hörgeräteversorgung erfolgt in Zusammenarbeit von Hals-Nasen-Ohren-Ärzten und Hörgeräteakustikern. Nach der Feststellung eines Hörverlustes durch den Arzt stellt dieser eine Verordnung für Hörgeräte aus. Die Versorgung mit Hörgeräten ist im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durch die Hilfsmittel-Richtlinie geregelt. Als nächster Schritt folgt der Gang zum Hörgeräteakustiker, der eine Beratung, die Aushändigung von Hörgeräten und deren Anpassung übernimmt. Dieser Vorgang erstreckt sich über mehrere Termine. Auch Service- und Reparaturleistungen zählen zu den Aufgaben eines Hörgeräteakustikers. Nach einer Überprüfung der Versorgung durch den HNO-Arzt rechnet der Hörgeräteakustiker die Versorgung mit der Krankenkasse ab. Gegebenenfalls entstandene Zuzahlungen werden mit dem Versicherten direkt abgerechnet.29

Da der Hörverlust im Alter meistens ein schleichender Prozess ist, der zunächst vom Umfeld wahrgenommen wird, vergehen oft mehrere Jahre, bis der Betroffene auf Drängen der Angehörigen das Gehör überprüfen lässt. Das Durchschnittsalter der Hörgeräteträger liegt bei 70 Jahren.30 Durch die jahrelange unbehandelte Hörminderung kommt es zur Entwöhnung von alltäglichen Geräuschen und Überempfindlichkeit des Gehörs. Diese zu überwinden und sich auf eine Umgewöhnung an ein neues Hören mit Hörgeräten einzulassen stellt eine große Herausforderung dar.31

Je nach Quelle heißt es, dass nur 15-30% der behandlungsbedürftigen Hörverluste tatsächlich mit Hörgeräten versorgt werden.32 Lediglich die Hälfte der Hörgerätebesitzer verwendet ihre Geräte regelmäßig.33

Dabei ist die positive Auswirkung einer Hörgeräteversorgung belegt. Im Maastricht Report aus dem Jahr 2000 konnte eine Verbesserung der Lebensqualität um 15% nachgewiesen werden. Unabhängig vom Grad des Hörverlustes konnten soziales, emotionales, psychologisches und körperliches Wohlbefinden gesteigert werden.34

4. Folgen von Schwerhörigkeit im Alter

4.1 Soziologie des Hörens - Primäre Auswirkungen von Schwerhörigkeit

Nachdem die Grundlagen der Schwerhörigkeit im Alter dargelegt wurden, widmet sich das folgende Kapitel dem klassischen Text Simmels über die Soziologie der Sinne. Es werden Kernaussagen über den Gehörsinn und seine Funktionen herausgefiltert und mit Aussagen der aktuellen Forschungsliteratur gegeneinandergestellt.

Simmels Essays „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ und „Soziologie der Sinne“ beinhalten nahezu den gleichen Text. Der Unterschied der beiden Essays ist, dass der „Soziologie der Sinne“ eine Einführung vorangestellt ist, während im „Exkurs“ die zusätzliche Thematisierung des Geschlechtssinnes stattfindet.35 In der hier folgenden Untersuchung werden beide Inhalte berücksichtigt. Es wird besondere Aufmerksamkeit auf die Aussagen über das Gehör gelegt, die in den beiden Versionen des Textes nahezu identisch sind.

In seiner Einleitung schreibt Simmel: „Daß wir uns überhaupt in Wechselwirkungen verweben, hängt zunächst davon ab, daß wir sinnlich aufeinander wirken“36 und

„jeder Sinn liefert nach seiner Eigenart charakteristische Beiträge für den Aufbau der vergesellschafteten Existenz, den Nuancierungen seiner Eindrücke entsprechen Besonderheiten der sozialen Beziehung, das Überwiegen des einen oder des andern Sinnes in der Berührung der Individuen verleiht oft dieser Berührung eine sonst nicht herstellbare soziologische Färbung.“37

Eine erste Aussage Simmels lautet: „Die Tatsache, daß wir überhaupt den Nebenmenschen sinnlich wahrnehmen, entwickelt sich nach zwei Seiten hin, deren Zusammenwirken von fundamentaler soziologischer Bedeutung ist.“38 Die erste Richtung, in die ein Sinneseindruck wirkt, ist in das Subjekt hinein. Dort löst der Sinneseindruck Gefühle aus. Die zweite Richtung ist „zu dem Objekt hinaus, als Erkenntnis seiner“.39 Der Sinneseindruck liefert also gleichzeitig einen Gefühlswert und einen Kenntniswert, er enthält eine emotional und eine kognitiv Dimension. Als Beispiel nennt Simmel den Sprachlaut und seine Bedeutung. Im gesprochenen Satz hört man den Ton der Stimme, der emotional anziehend oder abstoßend wirken kann und den Inhalt des Gesagten, der zu einer sachlichen Erkenntnis führt.40 Diese Aussage gilt für alle wahrnehmenden Sinne.

Ein zweiter wichtiger Aspekt bei Simmel ist die zeitliche Komponente. Darin unterscheiden sich einzelne Sinne: „Es ist der äußerste soziologische Gegensatz zwischen Auge und Ohr: daß dieses uns nur die in die Zeitform gebannte Offenbarung des Menschen bietet, jenes aber auch das Dauernde seines Wesens [...].“41 Laut Simmel entnehmen wir im wesentlichen dem Gesprochenen einer Person ihre momentane Stimmung, während der „Dauer-Charakter“ eines Menschen über das Auge wahrgenommen wird.42 Er spricht des Weiteren von einer „Ausgleichung jener Leistungsdifferenz der Sinne“, die „in der sehr viel stärkeren Erinnerungsfähigkeit für das Gehörte gegenüber der für das Gesehene“ liegt, „trotzdem das, was ein Mensch gesprochen hat, als solches unwiederbringlich dahin ist, während er dem Auge ein relativ stabiles Objekt ist“.43 Darin liegt für Simmel die Arbeitsteilung der Sinne.44

Als Nächstes kommt Simmel auf die Reziprozität zu sprechen. Auch hierin unterscheiden sich die einzelnen Sinne. Während der Blick zwischen zwei Augenpaaren gleichzeitig sowohl Informationen aufnehmen als auch weitergeben kann, fehlt dem Ohr diese Möglichkeit zur Wechselwirkung. Erst mit der Stimme zusammen entsteht ein sich abwechselndes Geben und Nehmen zwischen zwei hörenden und sprechenden Menschen.45

Eine weitere Besonderheit des Ohres ist, dass es sich nicht verschließen lässt und somit zwangsläufig alles um sich herum aufnimmt, während das Auge beweglich und verschließbar ist.46

Geteilte Sinneseindrücke lassen Menschen zu einer Einheit verschmelzen. Dabei besitzt laut Simmel das Ohr wesentlich mehr Einfluss als das Auge. Er nennt das Beispiel eines Konzerts, bei dem viele Menschen zur selben Zeit und gemeinsam den gleichen Höreindruck erleben. Im Gegensatz dazu gewinnen Museumsbesucher ihre Eindrücke alle unterschiedlich. Dadurch schließt der jeweilige Sinneseindruck „ein Konzertpublikum in eine unvergleichlich engere Einheit und Stimmungsgemeinsamkeit zusammen als die Besucher eines Museums.“47 Ein weiteres Beispiel ist die Mitteilung eines Geheimnisses. Wie eben erwähnt, können viele Menschen den gleichen Höreindruck erleben. Wird aber nun etwas nur unter zwei Personen ausgesprochen, führt dieser Vorgang, der quasi gegen die natürliche offene Zugänglichkeit von allem Gehörten verläuft, zu einer engen Verbindung dieser zwei Menschen.48

Zwar übt auch das Auge eine vergemeinsamende Wirkung aus, jedoch ist das Gefühl der Einheit in dem Fall deutlich abstrakter. Man sieht in höherem Maße das Gleiche der Menschen und man hört hauptsächlich das Individuelle und Abweichende eines Menschen.49 Das bedeutet, man sieht zwar schneller Gemeinsamkeiten zwischen Individuen, aber über gesprochene Inhalte lassen sich detaillierte Gemeinsamkeiten herausfiltern.

Die Kernaussagen Simmels über den Gehörsinn finden sich in ähnlicher Form auch heute noch in der Fachliteratur über Schwerhörige. Um sich nicht nur auf die Aussagen Simmels zu stützen, werden im Folgenden Parallelen zwischen Simmels Text und Werken der Autoren Eitner und Tesch-Römer gezogen, die sich auf den aktuellen Stand der Forschung beziehen.

In der gegenwärtigen Forschungsliteratur werden dem Gehör neben der Alarmierungs- und der Orientierungsfunktion die als besonders wichtig angesehenen Funktionen zur emotionalen Wahrnehmung, zur Kommunikation und zur Sozialität zugeschrieben.50 An dieser Stelle werden die Alarmierungs- und Orientierungsfunktion ausgeklammert und der Fokus auf die emotionale Wahrnehmungsfunktion, die Kommunikationsfunktion und die soziale Funktion gelegt, da diese für die Interaktion zwischen Menschen eine größere Rolle einnehmen. Ist das Hörvermögen eingeschränkt, kommt es zu Störungen der eben genannten Funktionen, was als primäre Auswirkungen von Hörbeeinträchtigungen bezeichnet wird.51

In der oben genannten ersten Aussage Simmels ist die Rede vom Gefühlswert und vom Kenntniswert eines Sinneseindrucks. Unter der emotionalen Wahrnehmungsfunktion ist die Wahrnehmung von angenehmen und unangenehmen Klängen sowie Stimmungsinformationen gemeint. Einerseits kann das Hören einer Stimme Emotionen auslösen, was Simmel als Sinneseindruck in das Subjekt hinein beschreibt.52 Andererseits kann in der emotionalen Botschaft von gesprochener Sprache „Beruhigung, Trost, Aufmunterung, Mahnung, Tadel, Erstaunen, Zweifel, Ironie und Heuchelei“ mitschwingen.53 Bei Simmel wird die emotionale Mitteilung des Objekts an das Subjekt zunächst nur kurz angesprochen:

„Wie das Organ eines Menschen ganz unmittelbar anziehend oder abstoßend auf uns wirkt, gleichviel, was er sagt; wie andrerseits das, was er sagt, uns zur Kenntnis nicht nur seiner augenblicklichen Gedanken, sondern seines seelischen Seins verhilft – so ist es doch wohl mit allen Sinneseindrücken; sie führen in das Subjekt hinein, als dessen Stimmung und Gefühl, und zu dem Objekt hinaus, als Erkenntnis seiner.“54

An anderer Stelle kommt Simmel noch einmal auf die emotionale Botschaft zu sprechen: „Denn die erwähnte Augenblicksstimmung [...] entnehmen wir so wesentlich dem Gesprochenen“.55

Bei einer vorliegenden Schwerhörigkeit kann es zu einer gestörten Wahrnehmung von affektiven Informationen kommen. Je nachdem, wann eine Hörschädigung eintritt oder wie lange sie unbehandelt bleibt, entstehen soziale und emotionale Defizite beim Betroffenen. Das kann zu fehlender Sensibilität und Rücksichtnahme in Bezug auf die Gefühle und Bedürfnisse von Mitmenschen führen.56

Die Kommunikationsfunktion des Hörsinnes dient der lautsprachlichen Verständigung zwischen den Menschen. Neben der bereits genannten emotionalen Botschaft gibt es eine sachliche Information in der gesprochenen Sprache. Dies spricht Simmel früh in seinem Text an, wenn er vom „Sprachlaut und seiner Bedeutung“ und dem „Inhalt des Gesagten“ spricht, was eine Dimension der kognitiven Wahrnehmung darstellt.57 Ein Mensch mit Hörschädigung muss unvollständig Wahrgenommenes decodieren, um dem Gespräch folgen zu können. Er ergänzt Wörter und Sätze auf Grund von Wahrscheinlichkeitserwartungen. Wegen der Vielzahl von Ergänzungsmöglichkeiten ist diese Leistung der Hörgeschädigten höchst anspruchsvoll und anstrengend.58 An dieser Stelle führt Eitner an, dass die Flüchtigkeit der Sprache erschwerend hinzukommt und gesprochene Informationen zur erneuten Überprüfung nicht mehr zur Verfügung stehen.59 Diesen Aspekt führt auch Simmel explizit und mehrfach an, wenn er beispielsweise davon spricht, dass „das, was ein Mensch gesprochen hat, als solches unwiederbringlich dahin ist“.60 Ein wichtiger Punkt bei der lautsprachlichen Kommunikation ist neben dem Hören auch das Sprechen. Vor allem für Menschen, die von Geburt oder früher Kindheit an schwerhörig oder taub sind, stellt die Artikulation ein großes Hindernis dar. Aber auch für Menschen, die im Erwachsenenalter Hörschädigungen erleiden, ist Sprachpflege, zum Beispiel in einem Kurs, sinnvoll. Aus der unvollständigen Wahrnehmung der Lautsprache resultiert ansonsten ein Verfall der Artikulation.61 Auch bei Simmel erscheint dieser Aspekt. Er betont, dass erst mit dem Mund und der Sprache „ein einheitlicher Akt des Nehmens und Gebens“ entsteht, der so wichtig für die Wechselwirkung ist und der den Mangel des Ohres an Reziprozität ausgleicht.62

Unter der sozialen Funktion des Hörens versteht Eitner die gemeinschaftsbildende Funktion von Gesprächen. Er stellt dabei das von ihm so benannte „Plaudern“ heraus. Das Plaudern diene nicht hauptsächlich Informationszwecken, sondern der Kontaktaufnahme und dem Halten des Kontaktes, indem beispielsweise über das Wetter gesprochen wird, und bei dem häufig Floskeln Verwendung finden.63 Der Charakter des Plauderns ist dadurch gekennzeichnet, dass es leicht und unbeschwert verläuft. Leidet einer der beiden Gesprächspartner allerdings an einer Hörschädigung, gerät der Redefluss durch Missverstehen und Nachfragen schnell ins Stocken. Die Mühseligkeit des ständigen Wiederholens führt oft zu Abwehrreaktionen auf Seiten der Hörenden, was Resignation und Rückzug von beiden Parteien zur Folge haben kann.64 Dieser Rückzug führt zwangsläufig zur sozialen Isolation hörgeschädigter Menschen.

Die gemeinschaftsbildende Funktion des Hörens stellt auch Simmel heraus, obwohl er diesbezüglich andere Schwerpunkte setzt. Für Simmel ist über das Ohr das Besondere und Unwiederbringliche eines Gespräches, einer Stimme oder eines Klanges wahrzunehmen. Durch das Teilen dieser Sinneswahrnehmung in Form des Höreindrucks entstehen enge zwischenmenschliche Beziehungen.65

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle wichtigen Funktionen und Eigenschaften des Hörsinnes, die bereits in Simmels „[Exkurs über die] Soziologie der Sinne“ thematisiert werden, auch in der modernen Fachliteratur über Funktionen des Hörsinnes und Folgen einer Hörbeeinträchtigung wiederzufinden sind.

4.2 Stigmatisierung - Sekundäre Auswirkungen von Schwerhörigkeit im Alter

Nach der Thematisierung der primären Auswirkungen von Schwerhörigkeit im Alter widmet sich dieses Kapitel den sekundären Auswirkungen. Diese sind hauptsächlich die Stigmatisierung und die Folgen einer Stigmatisierung, die in einem gesonderten Abschnitt behandelt werde. Um das Stigma von Schwerhörigkeit im Alter zu untersuchen wird einerseits auf Aussagen eines klassischen Textes zurückgegriffen und andererseits Erkenntnisse neuer Untersuchungen zur Stigmatisierung von Schwerhörigkeit berücksichtigt.

Eines der wichtigsten Werke über Stigmatisierung schrieb Erving Goffman im Jahr 1963; es trägt den Titel „Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity“ (deutsch: „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“). Mit dem klassischen Text von Goffman und Beiträgen der modernen Fachliteratur wird im folgenden Kapitel die Stigmatisierung von Schwerhörigkeit und Alter zunächst getrennt voneinander und anschließend miteinander gekoppelt untersucht.

Das Wort „Stigma“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen und verwies im alten Griechenland auf

„körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war – eine gebranntmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte, vor allem auf öffentlichen Plätzen.66

Auch heute bedeutet der Besitz eines Stigmas, in unerwünschter Weise anders zu sein, ein Merkmal zu besitzen, das von der Gesellschaft negativ bewertet wird und zur Abwertung der Person führt, auf die dieses Merkmal zutrifft.67

Goffman unterscheidet zwischen drei verschiedene Typen von Stigmata:

1. Körperliche Auffälligkeiten (z. B. Deformierungen, Krankheiten)
2. Charakterfehler (z. B. Willensschwäche, Unehrenhaftigkeit, Geistesverwirrung)
3. Phylogenetische Stigmata (z. B. Rasse, Nation, Religion)68

Bei der Entstehung von Stigmatisierungsprozessen können Stereotypen eine große Rolle spielen. Der Begriff „Stereotyp“ bezeichnet das „von stark vereinfachter, generalisierter, klischeehafter Vorstellung geprägt[e] Bild, das ein Mensch oder eine Gruppe von sich selbst oder anderen hat.“69 Im täglichen Denken und Handeln greift jeder Mensch auf Stereotypen zurück, da diese vereinfachte Darstellung zur Orientierung in einer komplexen Welt dient und das Treffen von Entscheidungen erleichtert. Pelz betont jedoch: „Trotz einer großen Ähnlichkeit zwischen den Konzepten führt Stereotypisierung nicht zwangsläufig zu Stigmatisierung. Stigmatisierung ist auch ohne das Vorhandensein von strukturierten Stereotypen möglich.“70

Vereinfacht gesagt, ist ein Stereotyp also zunächst ein generalisiertes Bild von Menschen. Stigmatisierung ist die Abwertung von Menschen aufgrund eines Merkmals, das sie tragen. Ein Stereotyp, der Menschen negative Merkmale zuschreibt, führt zu einer Stigmatisierung, also zu einer Abwertung von Menschen aufgrund ihres negativen Stereotyps.

Der Stereotyp des schwerhörigen Menschen zeichnet ein überwiegend negatives Bild eines einsamen, kranken, stumpfen, alten Menschen.71 Einem Schwerhörigen werden also mehrere Merkmale zugeschrieben, die unerwünscht sind. Im Folgenden werden einige davon genauer untersucht.

Indem die schwerhörige Person beispielsweise nicht auf Fragen antwortet oder nicht reagiert, wenn sie angesprochen wird, wirkt dies auf andere Beteiligte wie eine „kognitiv[e] Beeinträchtigung oder ei[n] charakterliche[r] Mangel des Betreffenden (Bequemlichkeit, Desinteresse, bewusster Affront usw.)“.72 Pelz schreibt:

[...]


1 vgl. Lesinski-Schiedat, Anke (2006), Stand der Versorgung mit Hörhilfen bei älteren Hörbehinderten jenseits des 60. Lebensjahres. In: von Specht, Hellmut (Hg.): Hören im Alter. Schriftenreihe GEERS-STIFTUNG. Band 16, S. 161

2 Pelz, Corinna (2007): Das Stigma Schwerhörigkeit. Empirische Studien und Ansätze zur Erhöhung der Akzeptanz von Hörgeräten. Median-Verlag von Killisch-Horn GmbH. Heidelberg.

3 Tesch-Römer (2001): Schwerhörigkeit im Alter. Belastung, Bewältigung und Rehabilitation. Median-Verlag von Killisch-Horn GmbH. O. O.

4 vgl. Eitner, Johannes (2009): Zur Psychologie und Soziologie von Menschen mit Hörschädigung. 3., überarbeitete Auflage. Median-Verlag von Killisch-Horn GmbH. Heidelberg; vgl. Eitner, Johannes (o. J.): Bildungszentrum. Schulprofil der Elbschule. Bildungszentrum Hören und Kommunikation. https://elbschule.hamburg.de/?page_id=654 (abgerufen am 01.08.2017)

5 vgl. Statistisches Bundesamt/Deutsches Zentrum für Altersfragen/Robert Koch-Insitut (Hg.) (2009): Gesundheit und Krankheit im Alter. In: Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin, S. 11

6 vgl. Statistisches Bundesamt/Deutsches Zentrum für Altersfragen/Robert Koch-Insitut (2009), S. 10

7 vgl. Statistisches Bundesamt/Deutsches Zentrum für Altersfragen/Robert Koch-Insitut (2009), S. 8ff.

8 vgl. Statistisches Bundesamt/Deutsches Zentrum für Altersfragen/Robert Koch-Insitut (Hg.) (2009), S. 10

9 vgl. Robert Koch-Institut (Hg.) (2006): Hörstörungen und Tinnitus. In: Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Heft 29. Berlin, S. 7; vgl. Holube, Inga/Heger, Denise (2010): Wie viele Menschen sind schwerhörig? In: Zeitschrift für Audiologie. 49/2, S. 61

10 vgl. Robert Koch-Institut (2006), S. 8

11 vgl. Holube/Heger (2010), S. 61

12 vgl. Holube/Heger (2010), S. 62

13 vgl. Heger/Holube (2010), S. 62; vgl. WHO (1991): Report of the Informal Working Group On Prevention of Deafness And Hearing Impairment Programme Planning Geneva. http://apps.who.unt/iris/bitstream/10665/58839/1/WHO_PDH_91.1.pdf (abgerufen am 17.07.2017)

14 vgl. Heger/Holube (2010), S. 62; vgl. Martini, Alessandro (1996): European Working Group on genetics of hearing impairment. Ferrara Italien. http://audiology.unife.it/www.gendeaf.org/hear/infoletters/Info_02.PDF (abgerufen am 01.08.2017), S. 10

15 vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss (2017): Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses über die Versorgung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung. Hilfmittel-Richtlinie/HilfM-RL. http://www.g-ba.de/downloads/62-492-1352/HilfsM-RL_2016-11-24_iK-2017-02-17.pdf (abgerufen am 01.08.2017), S. 17

16 vgl. Heger/Holube (2010), S. 68; vgl. Robert Koch-Institut (2006), S. 22

17 vgl. Heger/Holube (2010), S. 69; von Stackelberg, Hans (1986): Hörtest 1985. Deutsches Grünes Kreuz. Bonn

18 vgl. Von Gablenz, Petra/Holube, Inga (2017): Prävalenz von Schwerhörigkeit im Nordwesten Deutschlands. Ergebnisse einer epidemiologischen Untersuchung zum Hörstatus (HÖRSTAT) In: HNO 63, S. 202

19 vgl. Robert Koch-Institut (2006), S. 7

20 vgl. WHO (o. J.): Grades of hearing impairment. http://www.who.int/pbd/deafness/hearing_impairment_grades/en/ (abgerufen am 01.08.2017)

21 vgl. Spoormann-Lagodzinski, Maria Elisabeth (2003): Ätiologie und Prävalenz permanenter kindlicher Hörstörungen in Deutschland. http://www.egms.de/static/en/meetings/dgpp2003/03dgpp085.shtml (abgerufen am 01.08.2017)

22 vgl. Lesinski-Schiedat (2006), S. 161

23 vgl. von Gablenz/Holube (2015), S. 201

24 vgl. von Gablenz/Holube (2015), S. 203

25 vgl. Eitner (2009), S. 82

26 vgl. Robert Koch-Institut (2006), S. 21

27 vgl. Pelz (2007), S. 17

28 vgl. Eitner (2009), S. 84; vgl. Pelz (2007), S. 17

29 vgl. Pelz (2007), S. 25

30 vgl. West, Gerd (2006): Hörgeräteversorgung im Alter – aus Sicht des Hörgeräteakustikers. In: von Specht, Hellmut (Hg.): Hören im Alter. Schriftenreihe GEERS-STIFTUNG. Band 16, S. 94

31 vgl. Lesinski-Schiedat (2007), S. 163

32 vgl. Pelz (2007), S. 33; vgl. Lesinski-Schiedat (2006), S. 161; vgl. Meister, Hartmut/von Wedel, Hasso (2006): Faktoren und Mechanismen bei der Hörgeräteversorgung im Alter. In: von Specht, Hellmut (Hg.): Hören im Alter. Schriftenreihe GEERS-STIFTUNG. Band 16, S. 101

33 vgl. Meister/von Wedel (2006), S. 101

34 vgl. Lesinski-Schiedat (2006), S. 163

35 vgl. Simmel, Georg (1908): Exkurs über die Soziologie der Sinne. In: Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 5. Auflage, 1968. Berlin, S. 491ff.; vgl. Simmel, Georg (1993): Soziologie der Sinne. In: Cavalli, Alessandro/Krech, Volkhard (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band II. 2. Auflage 1997. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main, S. 276ff.

36 Simmel (1993), S. 278

37 Simmel (1993), S. 278

38 Simmel (1993), S. 278

39 Simmel (1993), S. 279

40 vgl. Simmel (1993), S. 279; vgl. Fischer, Joachim (2002): Simmels ,Exkurs über die Soziologie der Sinne’. Zentraltext einer anthropologischen Soziologie. In: ÖZS, Jahrgang 27, S. 10

41 Simmel (1993), S. 283

42 Simmel (1993), S. 283

43 Simmel (1993), S. 283

44 vgl. Simmel (1993), S. 285

45 vgl. Simmel (1993), S. 285f.

46 vgl. Simmel (1993), S. 286

47 vgl. Simmel (1993), S. 286f.

48 vgl. Simmel (1993), S. 286f.

49 vgl. Simmel (1993), S. 288

50 vgl. Eitner (2009), S. 57; vgl. Tesch-Römer, Clemens/Wahl, Hans-Werner (1996): Was es bedeutet, (nicht) hören und sehen zu können. In: Tesch-Römer, Clemens/Wahl, Hans Wernger (Hg.): Seh- und Höreinbußen älterer Menschen- Herausforderungen in Medizin, Psychologie und Rehabilitation. Steinkopff Verlag. Darmstadt, S. 2

51 vgl. Eitner (2009), S. 57

52 vgl. Simmel (1993), S. 278f.

53 Eitner (2009), S. 64

54 Simmel (1993), S. 279

55 Simmel (1968), S. 486

56 vgl. Eitner (2009), S. 64

57 Simmel (1993), S. 279

58 vgl. Eitner (2009), S. 62f.

59 vgl. Eitner (2009), S. 63

60 Simmel (1993), S. 283

61 vgl. Eitner (2009), S. 62f.

62 Simmel (1993), S. 286

63 vgl. Eitner (2009), S. 63

64 vgl. Eitner (2009), S. 64

65 vgl. Simmel (1993), S. 286ff.

66 Goffman, Erving (1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 23. Auflage 2016. Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main, S. 9

67 vgl. Goffman (1975), S. 13; vgl. Meyers Großes Universallexikon (Hg.) (1985): Stigma. Band 13. Bibliographisches Institut. Mannheim/Wien/Zürich, S. 437

68 vgl. Goffman (1975), S. 12f.

69 Meyers Großes Universallexikon (Hg.) (1985): Stereotyp. Band 13. Bibliographisches Institut. Mannheim/Wien/Zürich, S. 411

70 vgl. Pelz (2007), S. 44

71 vgl. Pelz (2007), S. 41

72 Eitner (2009), S. 65; vgl. Goffman (1975), S. 107f.

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Zur Identitätsproblematik bei Schwerhörigkeit im Alter
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Soziologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
93
Katalognummer
V459429
ISBN (eBook)
9783668894594
ISBN (Buch)
9783668894600
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hören, Hörgeräte, Schwerhörigkeit, Alter, Identität
Arbeit zitieren
Franziska Deutschmann (Autor:in), 2017, Zur Identitätsproblematik bei Schwerhörigkeit im Alter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459429

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Zur Identitätsproblematik bei Schwerhörigkeit im Alter



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden