Schuldenkrise in der Dritten Welt und fairer Schuldenerlass


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

33 Seiten, Note: ohne


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Schuldenkrise der Dritten Welt

3. Eine Theorie der Gerechtigkeit

4. Die Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze
4.1 Eine Vorbemerkung
4.2 Globale Wirtschaft und Chancengleichheit
4.3 Das Unterschiedsprinzip
4.4 Die Zeitpräferenz

5. Gerechtigkeit als Tausch
5.1 Die Theorie der Tauschgerechtigkeit
5.2 Tauschgerechtigkeit ohne Metaphysik

6. Tauschgerechtigkeit, Grundfreiheiten und Schuldenerlass

7. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Schuldenkrise in der Dritten Welt ist ein drängendes Problem in der globalisierten Wirtschaft. Unter Globalisierung versteht man die zunehmende weltweite Bedeutung und Durchdringung von nationalen Märkten mit gleichzeitig abnehmender Bedeutung nationaler Märkte. Im Zuge dieser Entwicklung müssen sich nationale Wirtschaftspolitik und Unternehmen an den internationalen Finanzmärkten und den Welthandel orientieren. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Wirtschaft sowohl der Industrieländer als auch der Entwicklungsländer, die trotz durchweg schlechter Startbedingungen gezwungen werden, im globalen Wettbewerb mitzuspielen. Mittlerweile machen sich die negativen Begleiterscheinungen des Globalisierungsprozesses auch in den Ländern der Ersten Welt bemerkbar.1 Dieser Aspekt der Globalisierung muss hier vernachlässigt werden, denn es soll die Schuldenkrise der Dritten Welt behandelt werden. Eng verbunden mit dem Begriff der Schuldenkrise ist die Forderung nach einem „fairen“ Schuldenerlass. Von Kirchen, Menschenrechtsgruppen und Dritte-Welt-Gruppen wurde ein „Erlassjahr 2000“ gefordert. Den hoffnungslos verschuldeten Ländern sollten die Staatsschulden ersatzlos gestrichen werden. Tatsächlich wurden auf dem „G7- Gipfel“ 1999 in Köln für die ärmsten der armen Länder beschlossen, ihnen mehr als die Hälfte der Schulden im Rahmen der HIPC- Initiative2 in den kommenden Jahren zu erlassen. (vgl. Pinzler, 1999) Ein genereller Schuldenerlass wird aber auch weiterhin abgelehnt und es werden gute Gründe dafür angegeben. (vgl. BKU, 1999)

Globale Wirtschaft mit dem Komplex „Schuldenkrise – Schuldenerlass“ im Spiegel der Gerechtigkeitsethik von John Rawls bilden den thematischen Schwerpunkt dieser Arbeit.

John Rawls hat mit seinem 1971 erschienenem Werk „A theory of justice“ versucht, eine „ systematische Analyse der Gerechtigkeit zu liefern “ und sah den Zweck seines Entwurfs „ vollständig erreicht, wenn es zu einer klareren Erkenntnis der Hauptstrukturen des Gerechtigkeitsbegriffs im Sinne der Lehre vom Gesellschaftsvertrag führt und Hinweise zu seiner weiteren Ausarbeitung liefert. “ (Rawls, 1979, S. 12)3

Rawls hat mit diesem Werk eine Vertragstheorie konzipiert, die der Frage nachgeht, auf welche Gerechtigkeitsgrundsätze sich Menschen einigen würden, wenn sie eine zukünftige Gesellschaft gestalten sollen, ohne zu wissen, welchen Platz sie selbst in dieser Gesellschaft einnehmen werden. Sie werden sich, so Rawls, auf einen Gesellschaftsvertrag einigen, dem jedes Individuum nur dann zustimmen wird, insofern seine Interessen gewahrt werden und ihn nicht benachteiligen. Den Kernpunkt des Vertrages bilden Gerechtigkeitsgrundsätze, denen jeder Mensch unabhängig von seiner Weltanschauung, Kultur, Religion wird zustimmen können. „ Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden. (...) Diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeitsgrundsätze nenne ich Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß.“ (S. 28)

Zunächst werde ich mich der globalen Wirtschaftsordnung zuwenden und untersuchen, welcher Art der Ungerechtigkeit es ist, die sie auszeichnet. (Kap. 2) Bevor ich der Frage nachgehe, ob die Gerechtigkeitsgrundsätze als Modell einer universalen Gerechtigkeitsethik Antworten zur Lösung des Problems der Schuldenkrise und eines „fairen“ Schuldenerlasses bieten können (Kap. 4), werde ich die Theorie Rawls in seinen Grundzügen beschreiben und die Gerechtigkeitsgrundsätze in ihrer endgültigen Fassung vorstellen. (Kap. 3)

Otfried Höffe (1998a) hat einen Gegenentwurf zu Rawls universalistisch angelegter Gerechtigkeitstheorie entwickelt und schlägt vor, Gerechtigkeit als „Tauschgerechtigkeit“ zu definieren und auf dieser Basis nicht nur Wirtschaftsgüter zu tauschen, sondern z.B. auch „Verzichte“. (Kap. 5) Beide Konzepte sollen in einem weiteren Schritt daraufhin befragt werden, welche Antworten sie zum Komplex „Schuldenkrise – Schuldenerlass – globale Wirtschaft“ geben können. (Kap. 6)

Im letzten Kapitel (7) sollen die Werke der besprochenen Autoren noch einmal gewürdigt und ihre wesentlichen Aussagen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dies besonders im Hinblick darauf, ob sie sich eher widersprechen oder komplementär zueinander verhalten und welchen Beitrag sie zum Problem der Schuldenkrise in der Dritten Welt leisten können.

Wirtschaftsethische Fragen lassen sich systemtheoretisch betrachtet auf drei Problemebenen behandeln: Auf der Mikroebene (individuelles Handeln), der Mesoebene (Unternehmen, Korporationen) und auf der Makroebene (Staat und Gesellschaft). Die Thematik dieser Arbeit bewegt sich zwischen der Mesoebene (IWF, Weltbank, WTO) und der Makroebene (Entwicklungsländer, Industrienationen), individuelles Handeln spielt so gut wie gar keine Rolle. Dies ist durch die Thematik so vorgegeben. In anderen Zusammenhängen ist die Mikroebene von entscheidender Bedeutung.

2. Die Schuldenkrise der Dritten Welt

Wie bereits erwähnt, ist die Schuldenkrise eine negative Auswirkung der globalisierten Wirtschaft.

„Im globalen Dorf wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, richtig. Sie wächst sogar innerhalb der Entwicklungsländer. Auf dem weltweiten Marktplatz werden die Reichen immer reicher. Ein Amerikaner konsumiert mittlerweile so viel wie 50 Inder oder Pakistani. Weltweit gibt es eine Milliarde wirklich armer Menschen.“ (Vorholz/Wernicke, 1999)4

Viele Länder der Dritten Welt stehen vor dem Staatsbankrott. Um diese verheerende Entwicklung verstehen zu können, muss man in die Vergangenheit schauen.

Das globale Wirtschaftssystem in seiner heutigen Form geht im Wesentlichen auf das Jahr 1944 zurück. Die künftigen Siegermächte trafen sich in Bretton Woods (USA), um das internationale Wirtschaftssystem neu zu ordnen.

„Das neue Wirtschaftssystem hatte folgende Elemente:

- Der Dollar wurde als Weltleitwährung anerkannt, die meisten Währungen und Rohstoffe richteten sich am Dollar aus.
- Zur Vermeidung von kurzfristigen Zahlungsschwierigkeiten der Mitgliedsländer und zur Stabilisierung der Währungen wurde der IWF[5] gegründet.
- Die ebenfalls neu gegründete Weltbank sollte mit langfristigen Krediten den Wiederaufbau von Europa und die Beseitigung struktureller Probleme fördern.
- Um den Welthandel zu fördern, sollten die Zoll- und Handelsschranken zwischen den Staaten gesenkt und eine internationale Handelsorganisation gebildet werden.“6 (Hartwig/Jungfer, 1992, S. 21f)

Wie leicht ersichtlich, war diese Wirtschaftsordnung ganz auf die Interessen der USA zugeschnitten, die darüber hinaus im IWF als einziges Land ein Vetorecht besitzen. Aber auch die anderen Industriestaaten profitierten von der neuen Ordnung. Hartwig und Jung kommen zu dem Ergebnis:

„Entsprechend seiner Entstehungsgeschichte ist er IWF also eine politische Organisation, die im Sinne der Industriestaaten handelt und von den USA dominiert wird (...). So wie der IWF strukturiert ist, kann von ihm keine gerechte Politik für alle Menschen erwartet werden.“ (S. 23f)

Um den „Schuldenkreislauf“ in seiner Grundstruktur zu verstehen, muss man sich einige Bedingungen anschauen, die vom IWF vor Gewährung eines Kredites gestellt werden:

1. „Volle Informationen über die wirtschaftliche Lage
2. Erhöhung der Exporte
3. Senkung der Importe
4. Höhere Preise auch für lebenswichtige Güter
5. Reduzierung des Staatshaushaltes
6. Freier Markt für ausländische Unternehmungen, keine Protektion der einheimischen Betriebe.“7 (a.a.O. S. 51)

Die Wirtschaft vieler verschuldeter Länder hängt von einem einzigen Rohstoff ab, der als alleinige Einnahmequelle zählt. Die Industrieländer sind an Rohstoffen interessiert, die Verarbeitung übernehmen sie gerne selbst (das schafft Arbeitsplätze). So wird zum Beispiel Kakao von den Industriestaaten importiert, auf Schokolade wird ein hoher Zoll erhoben. Um die Rohstoffe auszubeuten, nehmen die Entwicklungsländer Kredite auf, um eine Industrie zu schaffen, die den Rohstoff in großem Maßstab abbaut (z.B. Eisenerze, Blei, Zinn). In der Landwirtschaft entstehen so Monokulturen (z.B. Kaffee, Kakao, Baumwolle). Der Exportzwang schafft eine fast vollständige Abhängigkeit vom Weltmarkt. Das führt zu der völlig widersinnigen Situation, dass ein Land seine Bevölkerung nicht ernähren kann, obwohl genug fruchtbares Land vorhanden ist. Lebensmittel müssen für teures Geld importiert werden. Zudem treten die Industriestaaten mit hoch subventionierten Agrarprodukten auf dem Weltmarkt als Mitbewerber auf. (Folgen die Entwicklungsländer diesem Beispiel, erhalten sie keine Kredite mehr!) In den Jahren kam es zu einem rapiden Preisverfall bei Rohstoffen. Das bedeutete rapide sinkende Staatseinnahmen. Neue Kredite wurden aufgenommen. Sie wurden benötigt, um die bereits vorhandenen Schulden zu bezahlen und die bestehende Industrie zu erhalten bzw. noch weiter auszubauen, denn dem Preisverfall wollte man dadurch begegnen, dass man noch mehr produziert. Was sollte man auch sonst tun? „Bei der gegenwärtigen Ertragslage musste Tansania 1984 mehr als die doppelte Menge Baumwolle gegenüber 1975 produzieren, um ein und denselben Traktor bezahlen zu (können) .“ (a.a.O. S. 32) Zudem stiegen die Ölpreise und die Zinsen für Kredite (was die Schulden erhöht). Da die Staatseinnahmen weiter sinken, wird an den Ausgaben gespart. Die Rüstungsausgaben sind tabu, also spart man bei den Sozialausgaben und bei den Löhnen. Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung sind die Folge. Wer noch Arbeit hat, kann mit dem Lohn kaum sich und die Familie ernähren. Inzwischen steigen die Zinseszinsen, es sinken die Rohstoffpreise weiter und es steigen die Preise für Importprodukte (Ölpreissteigerung) weiter. Irgendwo bricht die Schuldenspirale hier ab und der Staat ist handlungsunfähig. Weitere Probleme sind:

Protektionistische Maßnahmen der Industrieländer

„Anfang der Achtziger zum Beispiel hatte es Bangladesh geschafft, eine konkurrenzfähige Textilindustrie aufzubauen. Der damalige US- Präsident Ronald Reagan sah in den billigen Stoffen aus dem armen Land einen Angriff auf amerikanische Hemdenfabriken. Er unterschrieb ein Papier, wonach pro Jahr nur noch eine bestimmte Menge von Textilien aus Bangladesh in die USA eingeführt werden durfte. Er schützte amerikanische Jobs – und machte Tausende Menschen in Bangladesh arbeitslos.“ (Uchatius, 2001)

„Zum Beispiel an der Elfenbeinküste. Dort, in der Hauptstadt Abidjan, haben die Europäer vor einigen Jahren einen Schlachthof finanziert, damit die Nomaden ihre Rinder in die Stadt bringen und dort das Fleisch verkaufen können. Nur exportierte die EU gleichzeitig ihr eigenes subventioniertes Fleisch in westafrikanische Städte, wo wegen des Überangebots der Markt zusammenbrach.“ (ebd.)

„R.V. Jayapadma, 29, arbeitet für Gram Vikas (,Dorfentwicklung’). Die 22 Jahre alte Organisation unterstützt Ureinwohner in der indischen Provinz Orissa, Menschen, die im tropischen Regenwald leben und als Wanderbauern Jahr für Jahr ein anderes Stück Land beackern. (...) Dann kam die Globalisierung. Indien trat der Welthandelsorganisation WTO bei und öffnete im vergangenen Jahr seine Märkte für Importe. Von den Vorteilen spürten die Ureinwohner von Orissa wenig, stattdessen sanken ihre Einkommen rapide. Senf und Speiseöl aus dem Ausland sind billiger als die Produkte der Wanderbauern. Ein Kilo Tamarinden (Sauerdatteln, die im Regenwald gepflückt werden und ein beliebtes Gewürz sind) können sie plötzlich nur noch für sechs Rupien verkaufen, früher war es 25 Rupien wert. In einer Nachbarprovinz, berichtet V. Jayapadma, häufen sich mittlerweile Selbstmorde von Bauern, die unter gesunkenen Baumwollpreisen leiden. Zudem drängen jetzt kanadische und norwegische Konzerne nach Indien, die – mit Unterstützung der Regierung – im Regenwald Bauxit fördern und Aluminium herstellen wollen.“ (Staud, 2002)

Die reichen Länder spielen also ein Spiel, deren Regeln sie allein festlegen und nach eigenem Gutdünken missachten. Wird gleiches Verhalten von den Entwicklungsländern versucht, für die diese Spielregeln von vornherein ungünstig sind, wird ihnen der Geldhahn zugedreht (Punkt 6 der IWF- Bedingungen).

Der ungleiche Rohstoffverbrauch

Mit dem überproportionalen Konsum der Menschen in den wohlhabenden Ländern geht ein überproportionaler Verbrauch an natürlichen Rohstoffen und Bodenschätzen einher. In der Dritten Welt befinden sich die verfügbaren Rohstoffe zu einem großen Teil im Besitz anderer. Nur an den Belastungen durch Umweltzerstörungen partizipieren sie gleichwertig.

Missmanagement der Entwicklungsländer

Es ist nicht nur so, dass Reiche Bettler ausnehmen, sondern viele Entwicklungsländer zerstören sich in erster Linie selber. Die Liste ist lang und täglich in der Zeitung nachzulesen. Vetternwirtschaft, Korruption, militärische Hochrüstung, Kapitalflucht, Menschenrechtsverletzungen, Terror und Gewalt. Robert Mugabe, der Präsident Simbabwes, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen, ist dabei, sein Land ganz alleine herunterzuwirtschaften. Das ist die Kehrseite der Schuldenkrise. Ein Schuldenerlass verschafft korrupten Eliten, die ihren Staat an den Rand des Abgrundes gebracht haben, neuen Spielraum. Sie sind wieder kreditwürdig und dürfen weiter plündern.

Diese kurze Darstellung dürfte genügen um festzuhalten, dass das globale Wirtschaftssystem schon unseren intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen widerspricht. Die Armut in der Dritten Welt ist also eine Konsequenz ungerechter Strukturen, die durch ungerechte Institutionen und ungerechtes Verhalten der wohlhabenden Länder aufrecht erhalten wird.

3. Eine Theorie der Gerechtigkeit

In einer ersten Annäherung zu Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ lässt sich sagen, dass er mit seinem heute schon klassischen Werk eine politikphilosophische Konzeption vorgelegt hat, die auf der Überzeugung beruht, dass sich die normativen Fundamente einer gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr durch einen Rekurs auf en Willen Gottes oder eine natürliche Weltordnung rechtfertigen lassen, sondern in einem Prozess rationaler Entscheidungen entwickelt werden müssen. Rawls weist der Autonomie des Individuums Priorität zu und das Wohl des Einzelnen kann nur dann verwirklicht werden, wenn allen ein gleicher Anteil Freiheiten und Rechte zukommt. Ungleichheiten müssen also begründet werden. Er vertritt somit ein individualistisches und egalitäres Prinzip. Damit stellt er sich bewusst in einen Gegensatz zum Utilitarismus, der das Gemeinwohl und den Gemeinnutzen über die Interessen des Einzelnen setzt. Die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus durchzieht das ganze Werk. In seiner Theorie wird das Gemeinwohl durch Umsetzung der jeweiligen Individualinteressen verwirklicht. Voraussetzung ist allerdings, dass die Freiheiten und Rechte eines Jeden im Rahmen eines fairen Verfahrens festzulegen sind und sie nur durch solche Gesetze beschränkt werden dürfen, auf die sich die Teilnehmer des Verfahrens in einem Diskurs geeinigt haben. Sie schließen einen Vertrag miteinander. Die vollkommen gleichberechtigten Diskursteilnehmer einigen sich in diesem Sinne auf Grundprinzipien, die für ihr zukünftiges Zusammenleben maßgebend sind. Rawls beschreibt das Verfahren zunächst allgemein so:

„Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundsätze und-pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im voraus entscheiden, wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Überlegung entscheiden muss, was für ihn das Gute ist, d.h. das System der Ziele, die zu verfolgen vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für allemal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit.“ (a.a.O. S. 28)

Im weiteren Verlauf entwickelt Rawls die Fiktion eines „Urzustandes“, in dem die Voraussetzungen und Bedingungen des fairen Verfahrens präzisiert werden. Der Darstellung ist ein großes Kapitel gewidmet und kann hier nur in der gebotenen Kürze wiedergegeben werden. Im Grunde ist der Urzustand (original position) eine Versammlung von Egoisten, die rational denken und entscheiden können, ihre eigenen Interessen kennen und auch die Folgen ihrer Entscheidungen für sich und die folgenden Generationen abschätzen können. Zudem verfügen sie über einen natürlichen „Gerechtigkeitssinn“, d.h. „sie kennen voraussetzungsgemäß alle allgemeine Tatsachen, die für die Festsetzung von Gerechtigkeitsgrundsätzen von Bedeutung sind“. (S. 161) Weiterhin wird vorausgesetzt, dass den Teilnehmern ein ausreichendes Grundwissen über die Tatsachen der Welt bekannt ist. Die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, haben dadurch einen gewissen „Ewigkeitscharakter“, dass sie generationsübergreifend sind. Um nun zu verhindern, dass die Teilnehmer sich nur von ihren eigenen Interessen leiten lassen, werden die Entscheidungen unter dem „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance) getroffen:

„Es wird also angenommen, dass den Parteien bestimmte Arten von Einzeltatsachen unbekannt sind. Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder Status; ebenso wenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw.“ (S. 160)

Da jedem also seine Stellung in der zukünftigen Gesellschaft unbekannt ist, werden sich die Menschen unter dem Aspekt der Risikominderung, so Rawls These, auf gerechte Grundprinzipien einigen.

„Der Gedanke des Urzustandes soll ja zu einem fairen Verfahren führen, demgemäß eine Übereinkunft über Grundsätze nur zu gerechten Grundsätzen führen kann.“ (S. 159)

Nun knüpft Rawls an die noch zu findenden Grundsätze fünf formale Bedingungen die erfüllt sein müssen, will man von gerechten Grundsätzen sprechen: Die Prinzipien müssen allgemein sein, universelle Anwendung finden, öffentlich bekannt sein, es müssen sich mit ihnen konkurrierende Ansprüche regeln lassen und sie müssen als letzte Berufungsinstanz dienen können. (vgl. S. 152ff) Damit scheiden die verschiedenen Formen des Egoismus von vornherein aus, denn sie erfüllen schon die formalen Bedingungen nicht.

Rawls glaubt nun, dass sich die Teilnehmer im Urzustand auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einigen werden, die diese Bedingungen erfüllen. Im weiteren Verlauf der Theorie gesellen sich noch zwei Vorrangregeln hinzu. Die endgültige Fassung sieht so aus:

[...]


1 Eine ausführliche Darstellung mit vielen empirischen Daten findet sich bei Afhlfeldt, H. 2000, vgl. auch Ulrich, P. 2001, Kap. 9.3

2 HIPC: Heavily Indepted Poor Countries

3 Es wird im Folgenden ausschließlich nach der deutschen Ausgabe zitiert

4 Die Aussagen stammen von Nafis Sadik, sie leitet das Bevölkerungsprogramm der UNO.

5 IWF: Internationaler Währungsfond

6 Die internationale Handelsorganisation WTO (World Trade Organisation) wurde erst am 1.1.1995 gegründet und löste zum 1.1.1996 das GATT (General Agreement on Tarifs and Trade) endgültig ab.

7 Es wurden nur sechs der zwölf Bedingungen angeführt

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Schuldenkrise in der Dritten Welt und fairer Schuldenerlass
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Philosophie)
Note
ohne
Autor
Jahr
2002
Seiten
33
Katalognummer
V459291
ISBN (eBook)
9783668884779
ISBN (Buch)
9783668884786
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirtschaftsethik Gerechtigkeitsethik Globale Wirtschaft Schuldenkrise Schuldenerlass
Arbeit zitieren
Magister Rainer Witzisk (Autor:in), 2002, Schuldenkrise in der Dritten Welt und fairer Schuldenerlass, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459291

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