"Ich stehe zwischen zwei Welten". Eine raumsemantische Analyse Tonio Krögers von Thomas Mann


Bachelorarbeit, 2015

32 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Nord
2.1. Heimat: Tonio Kröger auf der Schwelle
2.2. Ordnung und Tanz

3. Süd
3.1. Bellezza und das kalte Herz: Tonio Kröger erschließt seinen Süden
3.2. Innen und Außen in München

4. Nord-Nord
4.1. Verlorene Heimat: Tonios Rückkehr in den Süden
4.2. Tonio tanzt nicht: Der Erkenntnisraum Dänemark

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dem spatial turn ist in den letzten Jahren eine Hinwendung zum Raum innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften erfolgt (Dennerlein 2009: 5). Dieser interdiszip- linäre Zugang hat dazu geführt, dass der Raum als immer wieder in den Hintergrund geratener Analyseaspekt neu in der Narratologie verhandelt wird. Dennerlein führt als Erklärungsversuch für das immer wieder zurück tretende Interesse für den Raum auf, dass er im Erzähltext kein „Parameter der Vermittlung der Geschichte“ ist (Dennerlein 2009: 4). Nachdem lange die erzählte Zeit zentral bei der Interpretation literarischer Texte war, bot spätestens Lotmans Struktur literarischer Texte (1972) eine Methodik, die zu einer verstärkten Hinwendung zum Raum geführt hat. Spätestens seit der Philo- sophie Kants hat sich die These etabliert, dass Raum und Zeit Grundbedingungen jegli- cher Anschauung sind, also a priori der Anschauung vorgelagert. Da es unmöglich ist, eine Imagination zu haben ohne dass diese räumliche Aspekte beinhaltet und demnach in einem Raum existiert, muss Raum zwangsläufig mitgedacht werden. Die Auseinan- dersetzung mit dem Raum verortet das Subjekt innerhalb seiner Welt und zeigt damit ihr Verständnis der Ordnung der Dinge. Eine Positionierung im Raum und somit eine Strukturierung des Raumes gewährt darüber hinaus Einblicke in das Verschlossene und Unbewusste. Somit ist die Hinwendung zum Raum bei der Analyse literarischer Texte erkenntniserweiternd, mit einer genauen Betrachtung der zugrundeliegenden Konzepti- on kann ein Mehrwert erreicht werden, der nun in dieser folgenden Textanalyse aufge- zeigt wird. Die Fragestellung dieser Arbeit ergibt sich aus der Untersuchung, welche Räume in der Erzählung Tonio Kröger enthalten und wie diese besetzt sind. Wie sind die Räume entworfen, und welche Tragweite haben Grenzüberschreitungen? Es wird dabei davon ausgegangen, dass es zwischen der inneren und äußeren, räumlichen Gren- ze eine direkte Korrelation gibt. Weiter wird die Frage untersucht, inwieweit sich die Räume im Verlauf ändern, ob eine Verschiebung vorliegt oder die Räume eindimensio- nal konzipiert sind. Wenn Benthien und Krüger-Fürhoff festhalten, dass „Grenzbildung und –überwindung […] grundlegende kulturkonstituierende Akte“ (1999: 7) zu sein scheinen, wird hier erneut die Relevanz der Untersuchung aufgezeigt. Denn durch die raumbasierte Analyse kann das Kultur- und Gesellschaftsbild des Textes aufgezeigt werden. Dies wird im folgenden bewiesen.

Der strukturalistischen Grenzüberschreitungstheorie nach Jurij M. Lotman kommt dabei eine tragende Rolle zu. Das Raumkonzept Lotmans gilt als das meist verwendete In- strument zur Raumanalyse. Dennerlein führt als Grund für diese Verbreitung an, dass „das Raumkonzept […] sowohl eine Anwendung auf konkrete räumliche Gegebenhei- ten, als auch eine strukturelle Beschreibung nicht-räumlicher Phänomenen ermöglicht, bei der die Bezeichnung für räumliche Relationen metaphorisch verwendet werden“ (Dennerlein 2009: 29). In seinem Hauptwerk Die Struktur literarischer Texte (1972) beschreibt Lotman den künstlerischen Text als eine Imitation der Realität, in dem die räumliche Konstitution zum organisierenden Element wird. Um dieses ordnen sich auch die nicht-räumlichen Charakteristiken. Ein sujethafter Text, also ein Text, indem die inhärente Grenze zwischen disjunkten Teilräumen von einer Figur überschritten wurde, ist nach Lotman erst als literarisch anzusehen. Somit setzt er die ‚persönliche’ Weiter- entwicklung eines jeden Protagonisten immer auch mit einer räumlichen Erweiterung gleich. Nur wenn die strikt voneinander getrennten Teilräume überschritten werden können, kann der Raum neu verhandelt bzw. besetzt werden. Eine Einführung in die Aspekte der Lotmanschen Raumtheorie wird nun durch Anwendung bei der Analyse der Erzählung Tonio Kröger von Thomas Mann erfolgen.

Sie [die Erzählung] handelt vom Süden und vom Norden und von der Mischung beider in einer Person: einer konfliktvollen und produktiven Mischung. Der Süden, das ist in dieser Geschichte der Inbegriff alles geistig-sinnlichen Abenteuers, der kalten Leidenschaft des Künstlertums; der Norden dagegen der Inbegriff aller Herzlichkeit und bürgerlichen Heimat, alles tief ruhenden Gefühls, aller innigen Menschlichkeit. (Mann: 1974: 410)

Wie dieses Zitat aus Thomas Manns Nobelpreisrede belegt, ist die Erzählung Tonio Kröger sehr raumsemantisch angelegt. In dem 1903 erschienenen Werk verhandelt der Protagonist ein Leben zwischen Kunst und Bürgertum und sucht seine Position inner- halb dieser Pole. Als Gegensatzpaar angelegt geht damit die topographische Aufteilung in Nord und Süd einher, zwischen der sich Tonio bewegt. Aus einer norddeutschen Kleinstadt kommend zieht Tonio in den Süden, nach Italien und München, um schließ- lich den Norden neu zu erkunden. Kämpfend mit der Dichotomie, die ihm als Kind ei- ner „dunkl[en], feurigen Mutter“ (Mann 2011: 11) des Südens und einem „lange[n], sorgfältig gekleidete[n]“ (Mann 2011: 10) Vater des Nordens in die Wiege gelegt ist, erkundet der Schriftsteller seinen Raum. Die strukturalistische Herangehensweise der Lotmanschen Theorie ermöglicht ein Aufdecken der zugrundeliegenden Weltordnung der Erzählung und zeigt die Entwicklung und Spannung innerhalb des Textes weitrei- chend auf.

Der dreiteilige Analyseteil setzt mit der Betrachtung des norddeutschen Heimatraumes und dabei insbesondere der Familienkonstellation ein. Darauf aufbauend zeigt die Ana- lyse der Tanzstunde, die Tonio als 16jähriger Junge besucht, dass mit dem Heterotopie- Begriff Foucaults eine Erweiterung der bisher eingeführten Raumtheorie angemessen ist . Das zweite thematische Feld befasst sich mit dem Süden. Hier wird zunächst der Auszug des Protagonisten betrachtet. Es folgt eine raumorientierte Untersuchung des philosophischen Mittelteils, der Abhandlung über das Leben zwischen Kunst und Bür- gertum, die in einem Gespräch des nun erwachsenen Protagonisten mit seiner Maler- Freundin entsteht. Das letzte Kapitel befasst sich mit Tonios Rückkehr in den Norden. Hier wird vor allem das Betreten des Elternhauses, in dem nun eine Volkbibliothek zu finden ist, analysiert. Zuletzt erfolgt eine Betrachtung des Festes, bei dem Tonio auf seinem Dänemark-Urlaub zwei alte Bekannte zu treffen scheint. Mit einem Fazit schließt diese Arbeit.

2. Nord

Der erste Teil der Novelle Tonio Kröger bietet in zwei Episoden Einblick in die Kind- heit des Protagonisten. Im Eingangskapitel begleitet man zunächst Tonio als 14-jährigen Knaben auf einem Spaziergang mit seinem Freund Hans Hansen. Daran anschließend erfährt der nun 16-jährige Zurückweisung von der blonden Ingeborg Holm, was sich im zweiten Kapitel beim gemeinsamen Besuch der Tanzschule darstellt. Somit kann vor der räumlichen Analyse bereits eine zeitliche Einordnung des Kapitels vorgenommen und die Lebensphase des Protagonisten als Adoleszenz, also als Übergangsraum, identi- fiziert werden. Der Junge ist nicht mehr Kind, doch noch kein Mann. Er beginnt, den Schmerz und die Erfüllung der Liebe zu erfahren. Bezeichnend für die weitere Genese Tonios sind diese frühen Erfahrungen als dramaturgischer Fixpunkt der Novelle, denn „damals lebte sein Herz“ (Mann 2011: 17).

2.1. Heimat: Tonio Kröger auf der Schwelle

Der Anfang der Novelle ist in einer norddeutschen Kleinstadt angesiedelt, die wie u.a. Blödorn (2004: 188) festgestellt hat, als Lübeck zu erkennen ist. Hier wird der Ur- sprungsraum des Protagonisten, der Norden eingeführt. Draußen, lange auf einem Fahr- damm wartend, steht der junge Tonio Kröger, dem nassen Niederschlag in einer zugi- gen, engen Stadt ausgesetzt. Es ist trüb, die Wintersonne scheint „milchig und matt hin- ter Wolkenschichten“ (Mann 2011: 1). Der auktoriale Erzähler, der immer wieder flie- ßend zum personalen wird, zeichnet eine unwirtliche, fast melancholische Stimmung. Im Gegensatz dazu strömen die als „Scharen der Befreiten“ bezeichneten Schüler aus- gelassen durch die Gatterpforte aus der Schule: „kleines Volk setzte sich lustig in Trab“ (Mann 2011: 1), unter ihnen Hans Hansen, Tonios Freund. In dieser gegenteiligen Auf- teilung liegt eine Verschmelzung von Innen- und Außenwelt vor, wie sie Bryndhildsvoll beschrieben hat: „Der Mensch überträgt seine Stimmung auf die Umwelt, die ihm daher im Lichte seiner eigenen Befindlichkeit erscheint“ (1993: 9). Neben dieser Verschmel- zung besteht jedoch auch eine Unterteilung des Raumes in innen und außen. Zum inne- ren Raum gehört Hans Hansen, er ist Teil des „kleine[n] Volk[es]“, das aus dem Ge- bäude kommt. Tonio besetzt nicht nur topographisch durch seine Positionierung den Außenraum, er fällt auch bereits wegen seines Namens heraus. Er ist nicht Teil der Gruppe, sondern wird schon durch die Bezeichnung der Schüler als „Volk“ als Fremder und Außenstehender klassifiziert. Der Fahrdamm, auf dem er wartet, stellt ihn heraus, lässt ihn auf die anderen herabschauen, sie beobachten. Mit dem Zusammenkommen von Hans Hansen und Tonio Kröger werden die Pole Innen - Außen gelöst. Nach Borśo (2004: 27) werden Grenzen zu Schwellen, sobald die eigentlich scharfe Beschaffenheit der Grenze zu einer fließenden wird. Auf ihrem Spaziergang nehmen die Freunde einen Schwellenraum ein und bewegen sich gemeinsam in einer Grenzregion. Hans trennt sich von seiner Gruppe, Tonio verlässt seinen Damm. Vereint gehen sie nach links, während die anderen nach rechts abbiegen. Da die Grenze verschwommen ist, kann es unmerklich zu Übertritten und damit Ereignissen kommen. Das jeweilige Ereignis 1, sich von seinem Raum zu lösen und somit zum Held im Lotmanschen Sinne zu werden, wird durch den Rückzug in den Ursprungsraum getilgt und somit aufgelöst. Hans wird wie- der nach innen gehen, durch eine Pforte in sein Haus, Tonio wird erneut eine Erhöhung erklimmen, um nach Hause zu gelangen. Der Einsatz der Novelle mit dieser raumse- mantisch aufgeladenen Situation weist auf eine starke Einbindung des Raumes hin, so dass sich bereits hier die Grundkonflikte der Erzählung ablesen lassen. Die Positionen und Bewegungen zeigen einen Außenseiter, der seinem Gegenstück zugewandt ist, ei- nen einsamen und vor allem empfindsamen Protagonisten, der mehr beobachtet als lebt.

Eine genaue Betrachtung der semantischen Räume und ihrer Struktur und Hierarchisie- rung ermöglicht ein Aufzeigen der Ordnung der dargestellten Welt und damit der Grundordnung des literarischen Textes. Bevor eine Grenzüberschreitung vorgenommen wurde, sind Texte sujetlos und haben nach Lotman einen „klassifikatorischen Charak- ter; sie bestätigen eine bestimmte Welt und deren Organisation“ (Lotman 1972: 336). Die innere Organisation, die im künstlerischen Text häufig anhand einer „binäre[n] se- mantische[n] Opposition“ (Lotman 1972: 337) angelegt ist, kann auch in dieser Erzäh- lung aufgezeigt werden. Die zentrale Dichotomie, die in der Erzählung vorzufinden ist, besteht zwischen dem Norden und dem Süden. Der erste semantische Raum, der topo- graphische Norden, besticht durch Klarheit und Ordnung. Es ist der Raum des überleg- ten Vaters und seiner Familie, des Vertreters des Bürgertums; es ist der Raum Hans Hansens, des sportlichen, unkomplizierten Freundes Tonios. Dieser Heimatraum, in dem Tonio Kröger zu Beginn verortet ist, ist aus der Sicht des Protagonisten und Erzäh- lers gekennzeichnet durch Enge und Erhöhungen. Topographisch gesehen ist der Nord- raum geprägt von Giebeln, einer verwinkelten Stadt, in der es (auch zu Beginn Tonios Heimatbesuchs) nass und zugig ist. Am Fluss gelegen ist die Industrie, sind die fau- chenden und zischenden Sägemaschinen der Familie Hansen angesiedelt. Dem gegen- über steht der Raum des Südens, aus dem die Familie der impulsiven Mutter des Jungen stammt. Hier ist das Künstlertum verortet, hier ist es sinnig und heiß, es ist ein Raum voller Sehnsucht. Dieser zweite semantische Raum steht zu Beginn noch etwas im Hin- tergrund, wird aber später durch den Weggang Tonios exploriert. Dann wird er in den Süden ziehen, wird mit Italien die bellezza bereisen und sich in München für einige Zeit niederlassen. 2

Tonio ist das Kind zweier semantischer Räume. Konsul Kröger verließ seinen Nord- Raum und „[holte sich] von ganz unten auf der Landkarte herauf[…]” (Mann 2011: 11) Consuelo, die „schöne, schwarzhaarige Mutter“ (Mann 2011: 10). Die Eltern Tonios gelten somit als bewegliche Figuren, die das „Recht [haben], die Grenze zu überschrei- ten“ (Lotman 1972: 338). Demgegenüber stehen unbewegliche Figuren, die die sujetlo- se Ordnung des Textes bestätigen und keine Grenzüberschreitung vornehmen könne. Dazu gehört bspw. Ingeborg Holm, in die sich Tonio später verlieben wird.

Obwohl Figuren raumgebunden sind, haben in der Vorgeschichte der Novelle bereits zwei Figuren ihren Raum verlassen und damit jeweils ein Ereignis verursacht, womit die Sujethaftigkeit des Textes gegeben ist. Interessant dabei ist die doppelte Überschrei- tung der Grenze: Konsul Kröger ging in den Süden und kam mit seiner Frau zurück, was dem Beuteholerschema (Lotman 1972: 339) entspricht. Dies gilt neben der Extrem- punktregel 3 als Prinzip der implizierten Fortsetzung der Ereignisstruktur, demzufolge das Stattfinden eines Ereignisses bereits in späteres bedingt (Krah 1999: 8). Da beim Beuteholerschema ein Element des Gegenraums in den Ursprungsraum gelangt, ist durch Tilgung des ersten zugleich ein zweites noch ungetilgtes geschehen: „[D]ie Überwindung ein und derselben Grenze innerhalb des gleichen semantischen Feldes kann zu zwei Sujetketten mit gegenläufiger Richtung entwickelt werden“ (Lotman 1972: 339). Dem Konsistenzprinzip zufolge , welches verlangt dass Widersprüche aufge- löst und inkonsistente Situationen in konsistente überführt werden müssen (Krah 2006: 312), zufolge muss dieses jedoch noch aufgelöst werden. Zunächst hat Consuelo nur eine Grenzüberschreitung vorgenommen, indem sie in den Norden ging. Nach dem Tod des Konsuls jedoch wird auch sie die zweite Übertretung vollziehen, wenn sie mit ei- nem anderen Mann in „blaue Fernen zieht“ (Mann 2011: 25). Die Spannung durch den Bruch ist aufgelöst, die bestehende Ordnung wieder hergestellt. Dadurch, dass die Mut- ter jedoch viele Jahre in der Spannung des Grenzübertritts gelebt hat, könnte auch das Unwohlsein des Sohnes, was später erläutert wird, verstärkt worden sein. Neben dieser topographischen Überschreitung lag in der Vereinigung des Paares jedoch auch eine Verletzung der bestehenden Ordnung vor, was ebenfalls als Ereignis zu verstehen ist. Indem Konsul Kröger bei der Damenwahl nicht im norddeutschen Raum bleibt und sich eine Frau seines Standes und Erziehung erwählt, verstößt er gegen die Konvention. Denn seine Frau ist es, die so „anders war als die übrigen Damen der Stadt“ (Mann 2011: 10). Das Ende der Ehe mit dem Tod des Vaters und der schnellen Umorientierung der Mutter in den Süden könnte als Tilgung des Regelverstoßes gesehen werden. Die hier vorliegenden Ereignisse, also die Grenzüberschreitungen von Mutter und Vater, sind als normale Ereignisse einzuordnen. Dem liegt zugrunde, dass der Raum, aus de- nen die Figuren ausgetreten sind, unverändert bleibt. Die Grenzüberschreitung hat keine Auswirkung auf den Ursprungsraum, dieser bleibt konstant. Auch die Figuren scheinen keine Veränderung aufzuweisen, der Vater verkörpert die bürgerliche, geschäftliche Tradition der Familie, die Mutter gibt sich ihren künstlerischen Neigungen hin und bleibt „dunk[el] und feurig“ (Mann 2011: 11). Die einzige Konsequenz, die sich aus den Grenzübertretungen ergibt, ist die Geburt des Kindes Tonio. Sowohl die Mutter als auch der Vater behalten ihre Integrität, was sich möglicherweise auch am Namen des Sohnes zeigt: Tonio, das ist der Süden der Mutter, das ist die Familie Consuelos, denn er ist nach ihrem Bruder Antonio benannt. Kröger nun, der prestigeträchtige Nachname, weist darauf hin, dass das Kind als Erbe und Nachkomme der Familie bestimmt ist.

Tonio als Produkt der Ereignisse ist zunächst im Norden verortet, weist jedoch durch eine kontinuierliche Besetzung von Schwellen auf seinen Status als „Mischwesen“ (Blödorn 2004: 187) hin. Dies ist in den Anfangskapiteln besonders deutlich gezeichnet, wenn er Fahrdämme und Fensterplätze einnimmt. Die sich darin ausdrückende fehlende Zugehörigkeit spürt der Protagonist früh: „Warum bin ich doch so sonderlich und in Widerstreit mit allem, zerfallen mit den Lehrern und fremd unter den anderen Jungen? […] Was aber ist mit mir, und wie wird dies alles ablaufen?“ (Mann 2011: 11). Mit sei- ner Leidenschaft für Literatur, für Musik und Schönheit ist er in Verbindung mit der künstlerischen Seite in ihm. Sein Desinteresse an schulischen Themen, am Weltlichen, an Sport und Leistung ist jedoch eine Absage an die bürgerliche Tradition seines Vaters. Obwohl er nach seiner Mutter kommt, scheint von dieser kein Halt auszugehen, viel- mehr ist sich Tonio immer wieder der Gleichgültigkeit seiner Mutter bewusst.4 Auch seine Beziehungen außerhalb des Elternhauses zeichnen sich durch eine gewisse Ein- samkeit aus, eine Einseitigkeit der Zuneigung. Denn auch sein Freund Hans gibt Tonio nicht die Zuneigung, die der junge Protagonist sich sehnlichst wünscht.

Im ersten Kapitel wird diese Freundschaft zu Hans Hansen thematisiert, Tonios Gegen- stück. Hans vertritt den Typus eines tüchtigen, kernigen Jungen aus gutbürgerlichem Haus. Der blonde Sportler ist geschickt, beliebt und unkompliziert, und damit ganz an- ders als der zurückgezogene, reflektierte Tonio. Die zwei Welten, die programmatisch für die Novelle sind, werden nicht zusammen finden. Auffällig ist wie bereits beschrie- ben das Zusammentreffen der Jungen: Tonio wartet auf dem Fahrdamm, nimmt also eine erhöhte Position ein, während Hans aus der Pforte tritt. Auch das Auseinanderge- hen ist ähnlich aufgebaut: Hans schaukelt an der Gartenpforte, Tonio steigt den Weg zu seinem Haus hinauf. Diese topographisch deutlich gesetzten Punkte weisen auf die Be- sonderheit der Freundschaft der Jungen hin. Sie haben einen eigenen Raum, der durch einen Anfangs- und Endpunkt markiert ist bzw. Zugangsbeschränkungen hat. Beide Jungen gehen aufeinander zu, indem Tonio einem Umweg einwilligt, um Hans nach Hause zu bringen, und Hans mit Tonio auf den Wällen läuft – einem Terrain, das Tonio heimisch zu sein scheint. Dennoch sind beide Charaktere so oppositionell angelegt, dass eine Freundschaft kaum wahrscheinlich wird. Dies zeigt sich auch an den topographi- schen Punkten des Walnussbaumes und der Sägemaschinen. Tonio fühlt eine Urver- bundenheit zu dem alten knarrenden Baum in seinem Garten:

Der Springbrunnen, der alte Walnußbaum, seine Geige und in der Ferne das Meer, die Ostsee, deren sommerliche Träume er in den Ferien belauschen durfte, diese Dinge waren es, die er liebte, mit denen er sich gleichsam umstellte, und zwischen denen sich sein inneres Leben abspielte. (Mann 2011: 10)

In diesem Zitat zeigt sich die künstlerische Urverbundenheit, in der sich Tonio sieht. Dies lässt sich am Brunnen ablesen, der als Symbol sowohl der „dichterischen Inspira- tion“ als auch der Sehnsucht nach einer Geliebten gilt (Gretz 2012: 332). In Verbindung mit dem Baum wird eine Ideallandschaft angedeutet und der topos des locus amoenus impliziert (Moennighoff 2012: 42). Auch anhand dieser Symbolik lässt sich die Sehn- sucht nach Liebe und Zuneigung ablesen. Interessant ist dabei auch die Umkehrung: die Sehnsucht, die Tonio auch ob seiner fehlenden Zugehörigkeit empfindet, seiner Position zwischen den Polen, ist mit räumlichen Merkmalen absoluter Beständigkeit dargestellt. Setzt man diese Szene nun jedoch in Verbindung mit dem Freund Hans Hansen und seiner räumlichen Lebenswirklichkeit, fällt die Unvereinbarkeit der beiden Figuren auf. Die Familie Hans Hansens wirkt seit vielen Generationen in der Holzwirtschaft, „wo gewaltige Sägemaschinen unter Fauchen und Zischen die Stämme zerlegten“ (Mann 2011: 8). Die Gegenüberstellung von Tonios lyrischer Liebe und der unsentimentalen und damit zerstörerischen Industrie, in deren bürgerlicher Tradition Hans steht, zeigt den inhärenten Konflikt der Erzählung sehr deutlich auf. Es herrscht eine Unvereinbar- keit der Pole zwischen den beiden Vertretern der Kunst und des Bürgertums.

[...]


1 „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ Lotman 1972: 332.

2 Der Auszug in den Süden als den Raum der Kunst steht in Tradition des Mythos Italien. Neben vielen Schriftstellern wie Goethe und Heinrich Hesse, zog es auch Komponisten und Maler in den Süden. Der Auszug in den Süden als den Raum der Kunst steht in Tradition des Mythos Italien. Neben vielen Schriftstellern wie Goethe und Hermann Hesse, zog es auch Komponisten und Maler in den Süden. Italien wurde so zum Sehnsuchtsort, zum Schmelztiegel künstlerischen Schaffens.

3 Ein Extrempunkt oder –raum ist ein Teilraum eines semantischen Raumes, der synekdochisch für den Gesamtraum steht (Krah 2006: 305).

4 „[…] während er die heitere Gleichgültigkeit der Mutter ein wenig liederlich fand“ Mann 2011: 11.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
"Ich stehe zwischen zwei Welten". Eine raumsemantische Analyse Tonio Krögers von Thomas Mann
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Sprachwissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
32
Katalognummer
V458951
ISBN (eBook)
9783668903319
ISBN (Buch)
9783668903326
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raumsemantik, foucault, lotmann, auge, spatial turn
Arbeit zitieren
Judith Brückner (Autor:in), 2015, "Ich stehe zwischen zwei Welten". Eine raumsemantische Analyse Tonio Krögers von Thomas Mann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458951

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