Hysterie im 19. Jahrhundert

Ein frauenspezifisches Krankheitsbild am Beispiel von Theodor Fontanes Roman "Effi Briest"


Bachelorarbeit, 2014

33 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hysterie im Wandel der Zeit
2.1. Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert
2.2. Hysterie im 19. Jahrhundert

3. Die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts

4. Die Hysterie in Theodor Fontanes Roman Effi Briest
4.1. Der Charakter der Hauptfigur Effi Briest
4.2. Symptome der Hysterie bei Effi Briest
4.3. Die literarische Inszenierung der Hysterie in Effi Briest

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der folgenden Arbeit soll es darum gehen, ein umfassendes Bild der Hysterie als frauenspezifische Krankheit zu geben und am Beispiel des Romans Effi Briest von Theodor Fontane zu erläutern.

Zunächst wird ein historischer Überblick über die Wandlung des Krankheitsbildes der Hysterie gegeben, welcher sich von der Antike bis zur Gegenwart vollzogen hat. Der Schwerpunkt wird dabei auf dem 19. Jahrhundert liegen, um den zeitlichen Bezug zu Fontanes Roman herzustellen. Das Krankheitsbild der Hysterie soll bei dem historischen Überblick ebenfalls detailliert erschlossen werden, indem auf Symptome und Ursachen dieser von Christina von Braun als „Lehrmeisterin der Widersprüchlichkeit“1 bezeichneten Krankheit eingegangen wird.

Des Weiteren wird nach den psychologischen und medizinischen Aspekten der Hysterie auch der sozio-kulturelle Hintergrund der Krankheit dargestellt. Es wird dabei nicht nur allgemein auf die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eingegangen, sondern insbesondere auf die Rollen und Pflichten der Frau in der damaligen Gesellschaft. Dabei soll die Hypothese beantwortet werden, ob es Zusammenhänge zwischen der Gesellschaftsform, den gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen und dem Ausbruch der Hysterie gibt. Besondere Beachtung gilt dabei der Frage, warum die Hysterie speziell im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte.

Nach den Darstellungen über das vielschichtige Krankheitsbild der Hysterie und dem sozio-kulturellen Hintergrund soll schließlich am Beispiel des Romans Effi Briest dargestellt werden, anhand welcher Symptome sich die Hysterie bei der Hauptfigur Effi äußert. Der Charakter der Effi Briest soll zunächst detailliert analysiert werden. Dann werden Symptome, die sie aufzeigt, aus dem Roman herausgearbeitet. Außerdem soll die Rolle der Gesellschaft in Zusammenhang mit Effis Krankheitsausbruch gebracht werden, indem argumentiert wird, dass Effi als Zeichen der Rebellion an Hysterie erkrankt. Abschließend wird auf die literarische Inszenierung der Hysterie bei Effi Briest eingegangen.

2. Hysterie im Wandel der Zeit

2.1. Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

Das Krankheitsbild der Hysterie hat aus medizinischer Sicht eine lange Tradition, denn sie lässt sich bis ins Altertum zurückverfolgen.2 Schon im alten Ägypten wurden somatische Beschwerden von Frauen in medizinischen Handbüchern wie dem Ebers-Papyrus (um 1550 v.Chr.) und dem Kahun Papyrus (um 2000 v.Chr.) überliefert, welche in einen Zusammenhang mit Bewegungen des Uterus gebracht wurden.3 Die Ägypter hatten die Auffassung, dass die Gebärmutter in der Lage sei das weibliche Becken zu verlassen, im Körper umherzuwandern und dadurch für verschiedene Krankheitssymptome verantwortlich zu sein.4 Unter anderem wurde der wandernde Uterus als Ursache von Seh-und Augenhöhlenleiden, Schwerhörigkeit, Gliederschmerzen und Menstruationsanomalien angesehen, welche zur damaligen Zeit hauptsächlich pflanzlich behandelt wurden.5

Der Begriff der Hysterie kam allerdings erstmalig in der Medizin der griechischen Antike auf,6 entstammt dem griechischen Wort für die Gebärmutter [griech. hystéra] und wurde erstmals in den Hippokratischen Schriften verwendet.7 Beispielsweise behauptete Demokrit in einem Brief an Hippokrates, dass der Uterus „die Ursache von 600 Übeln und unzähligen Leiden“8 sei, was den damals hohen Stellenwert dieser Annahme verdeutlicht. Aus den hippokratischen Schriften geht außerdem hervor, dass der Uterus als ein nahezu selbständiges Wesen im Körper der Frau verstanden wurde,9 welches sich aufgrund eines Feuchtigkeitsmangels in andere Regionen des Körpers verlagern und je nach Aufenthaltsort verschiedene Symptome auslösen konnte.10 Eine Verlagerung des Uterus in Richtung der Hüfte wurde beispielsweise als Ursache für das Ausbleiben der Menstruation angesehen und die Verlagerung in Richtung der Leber oder des Magens als Auslöser für Erstickungszustände.11 Diese Annahme wurde auch von Hippokrates aufgegriffen, indem er die Hysterie als eine durch die „Gebärmutter hervorgerufene Erstickung“ [griech. pnix hyterike] bezeichnete, die in den schlimmsten Fällen sogar tödlich endete.12 Neben den Erstickungsanfällen und dem Ausbleiben der Menstruation wurde der wandernde Uterus für viele weitere Symptome als Ursache erachtet, da aufgrund von fehlenden anatomischen Kenntnissen davon ausgegangen wurde, dass die Gebärmutter an jede beliebige Stelle des Körpers der Frau treten könnte.13 Unter anderem zählten zu der Symptomatik der Stimm-und Sprechverlust, Beklemmungs-und Angstzustände, konvulsivische Anfälle, Blindheit, Taubheit und Lähmungen.14 Obgleich sich das Verständnis der Hysterie als Krankheitsbild im Laufe der Zeit gewandelt hat, sind die zuvor genannten Symptome als für die Hysterie spezifisch zu betrachten, denn sie lassen sich sowohl in Dokumenten von der Antike als auch in solchen der darauf folgenden Epochen wiederfinden.

Nach Hippokrates galten als vornehmliche Ursache der Uteruswanderung die geschlechtliche Abstinenz und die darauf zurückgeführte Austrocknung der Gebärmutter.15 Diese Annahme wird im Corpus Hippokraticum deutlich, in dem es heißt: „Wenn die Frau mit dem Manne keinen Geschlechtsverkehr hat […], so dreht sich ihre Gebärmutter im (ganzen Leib (herum)“.16 Platon führte diese Annahme in eine andere Richtung weiter aus, indem er schrieb:

Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Geburt lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die großen Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten.17

Laut Platon war sexuelle Abstinenz also nicht aufgrund der daraus gefolgerten Austrocknung des Körpers für eine Verschiebung des Uterus verantwortlich, sondern weil sich die Gebärmutter über das Ausbleiben der Befruchtung erzürne. Diese Zuschreibung einer negativen Emotion lässt die Gebärmutter als etwas nahezu menschenähnliches erscheinen, auch wenn Platon selbst sie als Tier bezeichnete. Des Weiteren wurden aber auch banale Dinge wie die Kälte der Füße und des Rückens oder das Tanzen und Laufen als auslösende Faktoren des wandernden Uterus betrachtet.18 Dies erweckt den Eindruck, dass jede Frau nahezu willkürlich von der Krankheit betroffen sein konnte und nicht nur wie von Hippokrates angenommen abstinent lebende alte Jungfrauen, junge Witwen oder unfruchtbare und sterile Frauen.19

Die von Hippokrates eingeführte Vorstellung einer sexuellen Ätiologie der Hysterie spiegelte sich ebenfalls in seinen Therapiekonzepten wieder, denn diese schlugen die Ehe, Schwangerschaft und Geschlechtsverkehr vor.20 Anderweitige Heilung versprach außerdem eine Art Geruchstherapie, bei der sowohl gute als auch schlechte Gerüche an den Körperöffnungen verströmt wurden, um den Uterus an die ursprüngliche Stelle zu bewegen,21 oder auch die Fixierung des Oberbauches zur Fixierung des Uterus.22

Die Schriften Hippokrates hatten in der Geschichte der Hysterie eine nachhaltige Wirkung, denn wie sich den nachfolgenden Ausführungen entnehmen lassen wird, bestand der Mythos des Uterus als sexuell unbefriedigtes Organ noch bis ins 18. Jahrhundert hartnäckig in der Ätiologie und Therapie der Hysterie fort.23 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hysterie in der Antike als eine organische Krankheit aufgefasst wurde, die ausschließlich bei Frauen auftrat, da als Ursache das Umherwandern des Uterus galt.

Im Mittelalter wurden hysterische Symptome vorwiegend nicht mehr aus medizinischer Sicht betrachtet, sondern vielmehr auf religiöse Weise interpretiert.24 Zu dieser Wandlung trugen insbesondere die päpstlichen Ketzergerichte des 13. Jahrhunderts bei, welche den Glauben an die Dämonenwelt und Hexerei vorantrieben.25 Mittelalterliche Frauen, die hysterische Symptome wie beispielsweise Lähmung oder Erblindung zeigten, wurden beschuldigt eine geschlechtliche Verbindung mit dem Teufel eingegangen oder von bösen Geistern befallen zu sein.26 Die Auffälligkeiten dieser Frauen, welche in der Antike noch als Anzeichen für Hysterie galten, wurden im Mittelalter als Stigmata diaboli bezeichnet und sollten aus diesem Grund mit einem christlichen Exorzismus ausgetrieben werden.27 In einem damals maßgeblichen Gesetzbuch, dem Hexenhammer, sind zahlreiche Beschreibungen von Hexen zu lesen, die die Vermutung zulassen, dass es sich bei den diesen Frauen zum Großteil um Frauen mit hysterischen Symptomen gehandelt hat.28 Die damals als Hexen verurteilten Frauen könnten demnach verkannte Hysterikerinnen gewesen sein, die zu Unrecht Opfer der Hexenverfolgung wurden.

Im 16. Jahrhundert gab es verschiedene Strömungen, die die Hysterie und ihre Ursachen näher in Betracht zogen. Humanisten wie Francois Rabelais (1483-1553) plädierten beispielsweise auf die Rückbesinnung auf das antike Verständnis der Gebärmutter als wanderndes Tier und der Frau als unvollkommenes, ausschließlich für die Fortpflanzung zuständiges Geschlecht.29 Rabelais vertrat außerdem die Meinung, dass hysterische Frauen Tugend und Liebestollheit nur vorspielen würden, was die Vorstellung der Theatralik in die Hysteriedebatte einwarf30 und im 19. Jahrhundert besonders großen Anklang fand.31

Philippus Aureolus Bombast von Hohenheim (1493-1614), der sich selbst Theophrastus Paracelsus nannte, vertrat im Gegensatz zu Rabelais andere, nicht dem damaligen Zeitgeist entsprechende Ansichten im Sinne der Renaissance.32 Paracelsus sah die Hysterie nicht als ein gynäkologisch-libidinöses Leiden an, sondern als ein „fallsüchtiges Anfallsleiden […] zu denen er auch die Epilepsie zählte“.33 Er ging außerdem davon aus, dass vor allem Frauen betroffen seien, die eine körperliche und seelische Beziehung zu einem Mann hatten, da der Mann sein Leiden beim Geschlechtsverkehr auf die Frau übertrage.34 Dieser Gedanke war in der Hysteriedebatte völlig neu,35 denn bisher waren die Mediziner davon ausgegangen, dass die umherwandernde Gebärmutter aufgrund von Abstinenz die primäre Ursache der Hysterie war. Des Weiteren vertrat Paracelsus die Auffassung, dass auch Männer an Hysterie erkranken könnten, aber die Symptome bei ihnen aufgrund ihrer stärkeren körperlichen Konstitution nicht so gravierend auftreten würden wie bei Frauen.36 Aufgrund anderer zeitgenössischer Autoren ist allerdings festzustellen, dass sich die Mehrheit von ihnen an den antiken Traditionen orientierte und Paracelsus sich mit seinen neuartigen Theorien somit nicht durchsetzen konnte.37

Auch der anglikanische Geistliche und Gelehrte Robert Burton (1577-1640) wandte sich von der antiken Ansicht des wandernden Uterus ab und führte die Forschung der Hysterie in eine neurologische Periode, indem er sie als Krankheit des Geistes einstufte.38 Statt sich auf die körperlichen Symptome zu fokussieren, beschäftigte sich Burton mit den „melancholischen Leidenszuständen wie Verzweiflung, Agonie und Selbstmordneigungen, die er bei diesen Frauen beobachtet hatte.“39 Dennoch ging auch er von einer gynäkologischen Ursache der hysterischen Symptome aus, die auf Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe oder auf sexueller Abstinenz beruhten und verordnete, wie schon Hippokrates, die Ehe als Heilungsmethode.40

Im 17. Jahrhundert wurde die Hysterie von dem französischen Mediziner Charles Le Pois (1563-1633) erstmals als Nervenkrankheit verstanden, dessen Ursache er einzig im Gehirn sah.41 Diese Auffassung verbreitete sich allerdings erst am Ende des 17. Jahrhunderts, als der Neurologe Thomas Willis (1622-1675) die Theorien von Le Pois aufgriff und als Ursache hysterischer Symptome „die Beschaffenheit der Lebensgeister, den ‚spiritus animales‘“42 definierte, „die durch das Zusammentreffen von Affekten und einer fehlerhaften Zusammensetzung von Körpersäften die explosiven Ausbrüche hervorriefen“.43 Burton lehnte außerdem die führende Uterustheorie ab, indem er in seinen Untersuchungen auch geschlechtsunreife und alte Frauen ohne gynäkologische Beschwerden als Beispiele anführte.44

Ein weiterer Mediziner, der die Lebensgeister als Ursache der Hysterie ansah, war der englische Arzt Thomas Sydenham (1624-1689).45 Er vertrat die Auffassung, dass die Lebensgeister im Gehirn Nerven besetzen und dadurch unvermittelt auftretende Körperbewegungen und akute seelische Beschwerden auslösen könnten.46 Somit sah auch Sydenham den Ursprung der Hysterie nicht mehr in der Gebärmutter, sondern in Nervenstörungen.47 Zudem klassifizierte er die Hysterie als eine sehr häufig auftretende, chronische Krankheit, die in der Lage sei, viele Krankheiten nachzuahmen, „die das Menschengeschlecht befallen können, denn wo im Körper sie ihren Sitz hat, ruft sie die für diesen Körperteil charakteristischen Symptome hervor.“48

Im 18. Jahrhundert herrschten in der Hysterieforschung nach wie vor kontroverse Ansichten und Theorien,49 aber zumeist wurde die Hysterie erneut als gynäkologische Erkrankung eingeordnet.50 Auch die Anschauungen der antiken Hysterielehre waren nach wie vor stark verbreitet.51

2.2. Hysterie im 19. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die antike Auffassung des Uterus als Ursache der Hysterie erneut aufgegriffen, doch im Laufe dieser Epoche änderte sich dies allmählich, sodass die Vorstellungen der Hysterie der Vergangenheit schließlich als veraltet betrachtet wurde.52 In der Mitte des 19. Jahrhunderts konkurrierten neuro-physiologische, hirnanatomische und neuro-pathologische Theorien der Hysterie miteinander, die allesamt versuchten dieses noch immer sonderbare Krankheitsbild zu erklären und zu heilen.53 Doch rein aus naturwissenschaftlicher Sicht ließ sich die Hysterie nicht umfassend erklären, sodass das Interesse der Mediziner umso mehr wuchs.54 Den Höhepunkt des wissenschaftlichen aber auch gesellschaftlichen Interesses erreichte die Hysterie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,55 während welcher sie ein häufig diagnostiziertes Krankheitsbild war.56

Zu den häufigsten Ursachen der Hysterie zählten unter anderem Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, Ohnmacht, Halluzinationen, theatralisches Verhalten, Neigung zu Intrigen, Boshaftigkeit und das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit.57 Da bei der Hysterie aber auch unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen oder Herzrasen auftraten und die Patientinnen häufig eine neue Symptomatik aufzeigten, blieb es für die Mediziner zunächst problematisch die Hysterie zu klassifizieren.58 Außerdem wurden hysterische Symptome oftmals als Übertreibungen des normalen weiblichen Verhaltens proklamiert, sodass nahezu jede Frau als hysterisch hätte bezeichnet werden können.59 Verdeutlicht wird diese Vorstellung in dem lateinischen Satz „Anima femina est naturaliter hysterica“, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Leitspruch zur Beschreibung von Weiblichkeit geworden war.60 Dies zeigt, dass bei der medizinischen Diskussion der Hysterie stets auch kulturelle und gesellschaftliche Anschauungen mitthematisiert wurden.61

Im 19. Jahrhundert hatte die Hysterie einen enormen gesellschaftlichen und kulturellen Stellenwert,62 der dazu genutzt wurde die hysterische Frau als negatives Gegenbild zu der bürgerlichen Frau darzustellen.63 Dabei galten für die bürgerliche Frau die Werte und Ideale der viktorianischen Frau, da sich die viktorianische Moral in ganz Europa verbreitete.64 Zu diesen Idealen zählten unter anderem die Tabuisierung der Sexualität und die Unterdrückung der Frau, sodass die Misogynie im viktorianischen Zeitalter ihren Gipfel erreichen konnte.65 Dass die Hysterie für misogyne Zwecke benutzt wurde, zeigt sich beispielsweise in den Werken von Otto Weininger (1880-1903), der die Ansicht vertrat, dass sich hysterische Frauen gegen ihr sexuelles Begehren wehrten, aber dieser Widerwille nur gespielt sei und auf dem Wunsch der Frau basiere ein Mann sein zu wollen.66 Weininger verglich den Intellekt von Frauen außerdem oftmals mit dem von Kindern, weshalb Frauen besonders gut für die Kindererziehung geeignet seien.67

Die Ätiologie der Hysterie konnte im 19. Jahrhundert zunächst nicht umfassend geklärt werden, sodass sich verschiedene Deutungsansätze zu einem wissenschaftlichen Kampf entwickelten.68 Die meisten Neurologen gingen davon aus, dass der hysterische Krampfanfall eine Art theatralischer Inszenierung des Begattungsaktes sei, wobei nicht nur die hysterischen Krampfanfälle zunehmend als Theaterspiel oder Komödie betrachtet wurden, sondern auch die Gesamtheit der hysterischen Symptome.69 Den Hysterikerinnen wurde also vorgeworfen, dass ihre Krankheit nur gespielt und der hysterische Anfall demnach nur eine Intrige und ein Schauspiel sei, um ihre Ehemänner zu schwächen und Aufmerksamkeit zu erlangen.70 Durch diese Vorstellung kam die Krankheit der Hysterie in Verruf und Hysterikerinnen wurden als Menschen mit ethischen und moralischen Defiziten angesehen oder auch als egoistische Simulantinnen ohne Gewissen.71

Hysterischen Frauen wurde unterstellt einen „Willen zur Krankheit“ zu haben, um ihre Umgebung zu beherrschen und bestimmte Ziele und Wünsche zu erreichen.72 In gewisser Weise verlieh die Krankheit den Hysterikerinnen tatsächlich Macht, denn sie wurden zum Mittelpunkt ihrer Familie und Ärzte, jedoch mussten sie zugleich auch mit gesellschaftlichen Sanktionierungen rechnen, da sie wie zuvor erwähnt als Simulantinnen und Schauspielerinnen angesehen wurden.73

Die genannten gesellschaftlichen Umstände lassen die Vermutung zu, dass Frauen ihrer Unterdrückung in der Gesellschaft mit Krankheiten oder gesellschaftlichen Skandalen begegneten, obwohl diese häufig zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft führten.74 Die Hysterie kann also als Rache unterdrückter, in ihrer Kultur gefangener Frauen betrachtet werden, die schon in jungen Jahren davon abgehalten wurden ihre wahre Identität auszuleben, indem sie in gesellschaftliche Rollenvorstellungen gedrängt wurden.75

Der Höhepunkt der naturwissenschaftlichen Erforschung hysterischer Symptome wurde mit dem berühmten französischen Neurologen und Pathologen Jean-Martin Charcot (1825-1893) erreicht.76 Er war Mitbegründer des Lehrstuhls für Nervenkrankheiten und war an der anerkannten psychiatrischen Anstalt Salpêtrière in Paris tätig.77 Dort begann er 1862 mit der Behandlung hysterischer Frauen und wandte sich hauptsächlich dem konvulsiven Anfall zu.78 Durch seine ersten systematischen Beschreibungen und Analysen der hysterischen Krampfanfälle in den 1870er Jahren stellte er diese in den Vordergrund, sodass sie in der weiteren Hysterieforschung als das charakteristischste Symptom der Hysterie angesehen wurden.79

Charcot vertrat die Theorie, dass die Symptome der Hysterie hervorgerufen werden können, wenn die Patientin unter Hypnose steht.80 Diese These belegte er, indem es ihm mithilfe der Hypnose gelang den großen hysterischen Anfall, den Charcot „la grande hystérie“ nannte, zu simulieren und diesen anschließend in vier Phasen einzuteilen.81 Unter der Hypnose beobachtete Charcot zunächst bestimmte Anzeichen, die dem hysterischen Anfall vorausgingen und die er als „hysterische Aura“ bezeichnete.82 Zu diesen Anzeichen gehörten unter anderem Herzklopfen, Globusgefühle im Hals, Versteifungen der Glieder, Ohrensausen und Bewusstseinstrübungen; im weiteren Verlauf des hysterischen Anfalls entwickelten sich diese Anzeichen zu Affektausbrüchen.83 Das von Medizinern als Globusgefühl bezeichnete Anzeichen könnte als Relikt des wandernden Uterus der Antike angesehen werden, denn es wurde schon damals als Symptom beschrieben.84

[...]


1 Greß, Herbert: Über die soziale Botschaft der Hysterie. In: Hysterie Heute – Metamorphosen eines Paradiesvogels, hg. v. Günter H. Seidler. Gießen 2001, S.329. Im Folgenden zitiert als: Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie.

2 Schaps, Regina: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau. Frankfurt am Main 1992, S.7. Im Folgenden zitiert als: Schaps: Hysterie und Weiblichkeit.

3 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.18.

4 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.18.

5 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.19.

6 Nolte, Karin: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900. Frankfurt am Main, 2003, S.113. Im Folgenden zitiert als: Nolte: Gelebte Hysterie.

7 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.18.

8 Nolte: Gelebte Hysterie, S.113.

9 Nolte: Gelebte Hysterie, S.113.

10 Mayr, Thomas M.: Die „sobezeichnete Hysterie“. Medizinanthropologische Betrachtung eines nosologischen Konstrukts. In: Besessenheit und Hysterie, hg. v. G. Wahl und W. Schmitt. Reichenbach 2001, S.139. Im Folgenden zitiert als: Mayr: Die „sobezeichnete“ Hysterie.

11 Mayr: Die „sobezeichnete Hysterie“, S.139.

12 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.19.

13 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.20.

14 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.21.

15 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.20.

16 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.332.

17 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.332.

18 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.20.

19 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.20.

20 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.22.

21 Nolte: Gelebte Hysterie, S.113.

22 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.22.

23 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.22.

24 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.337.

25 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.333.

26 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.334.

27 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.334.

28 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.334.

29 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.34f.

30 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.35.

31 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.102.

32 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.32.

33 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.33.

34 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.33.

35 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.33.

36 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.34.

37 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.34.

38 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.37.

39 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.37.

40 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.37.

41 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.37.

42 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.37.

43 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.38.

44 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.38.

45 Mayr: Die „sobezeichnete Hysterie“, S.140.

46 Mayr: Die „sobezeichnete Hysterie“, S.140.

47 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.39.

48 Mayr: Die „sobezeichnete Hysterie“, S.140.

49 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.40.

50 Kohl, Franz: Hysterie – nosographisch-konzeptionelle und therapeutische Wandlungen in der Ära von Charcot zu Freud. In: Besessenheit und Hysterie, hg. v. G. Wahl und W. Schmitt. Reichenbach 2011, S.102. Im Folgenden zitiert als: Kohl: Hysterie.

51 Nolte: Gelebte Hysterie, S.270.

52 Nolte: Gelebte Hysterie, S.112.

53 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.15.

54 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.15.

55 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.8.

56 Greß: Über die soziale Botschaft der Hysterie, S.338.

57 Nolte: Gelebte Hysterie, S.117f.

58 Nolte: Gelebte Hysterie, S.118.

59 Nolte: Gelebte Hysterie, S.312.

60 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.56.

61 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.11.

62 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.15.

63 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.11.

64 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.15.

65 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.15.

66 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.62.

67 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.62.

68 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.57.

69 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.58.

70 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.63.

71 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.93.

72 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.98.

73 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.100.

74 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.15

75 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.102.

76 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.50.

77 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.51.

78 Gilles de la Tourette, Georges: Hysterie nach den Lehren der Salpêtrière. Normale oder interparoxysmale Hysterie. Leipzig 1894, S.17. Im Folgenden zitiert als: Gilles de la Tourette: Hysterie nach den Lehren der Salpêtrière.

79 Nolte: Gelebte Hysterie, S.116.

80 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.52.

81 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.58.

82 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.59.

83 Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S.59.

84 Nolte: Gelebte Hysterie, S.116.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Hysterie im 19. Jahrhundert
Untertitel
Ein frauenspezifisches Krankheitsbild am Beispiel von Theodor Fontanes Roman "Effi Briest"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Philologie)
Veranstaltung
NDL
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
33
Katalognummer
V458179
ISBN (eBook)
9783668892989
ISBN (Buch)
9783668892996
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hysterie, Effie Briest, Theodor Fontane
Arbeit zitieren
Master of Education Katharina Zeiger (Autor:in), 2014, Hysterie im 19. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458179

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