Die Besonderheit der Kunst. Zur Bedeutung der Kunsterfahrung in Hans-Georg Gadamers Bildkunst und Wortkunst


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

31 Seiten, Note: 1,0

Lucius Müller (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Der zeitlose Wahrheitsanspruch der Kunst
2.1 Die Kunst als Instanz der Geschichtsüberlegenheit
2.2 Entwicklung des Kunstbegriffs in Abkehr von den schönen/freien Künsten
2.3 Der besondere Zeitmodus der Kunst im Staunen, Verweilen und Lesen

3. Die Auswirkungen der Wissenschaftsentwicklung auf das Verständnis der Kunst
3.1 Durch Kant begründeter Wandel im Wissenschafts- und Kunstverständnis
3.2 Die teleologische Urteilskraft in Bezug zum Natur- und Kunstverständnis
3.3 Kunst unter dem Aspekt von Harmonie, Möglichkeit und Selbstdarstellung

4. Die Lesbarkeit und Erfahrbarkeit bezüglich des Vollzugscharakters der Kunst
4.1 Vollzug der Kunst im Fluss des Lesens und Wissenschaftskritik
4.2 Daseinsform der Kunst als „Energeia“ zwischen Werden und Gewordensein
4.3 Kunst als das hintergründig Stimmende in Dekoration und Architektur

5. Fazit

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Bild und das Wort verbindet eine Eigenschaft, einen Sinngehalt zum Ausdruck zu bringen und uns damit anzusprechen, abzustoßen und zuweilen auch ins Nachdenken zu stürzen. In dem Moment, in dem ein Werk vor unsere Augen und Ohren tritt, stellt es für uns als Teilhabenden unmittelbar etwas dar und bekommt durch unser Verstehen eine Wertigkeit verliehen. Das Dargestellte offenbart im Zuge dessen seine eigene Bedeutung, die verstanden werden will und bietet einen Anreiz, sich dazu zu positionieren, gegebenenfalls auch sich selbst im Werk eines anderen wiederzufinden oder ungeahnte Möglichkeiten zu entdecken.

Ausdruckskraft des Bildes und Wortes, vermag es die Sinnzusammenhänge in unser Bewusstsein zu rufen und in immer neuer Weise Synapsen und Interpretationen hervorzubringen. Sie begegnet dem Menschen tagtäglich und ist eine allgegenwärtige (Begleit) Erscheinung unseres Alltags. Ein Zusammenleben und Leben, wie wir es kennen, wäre ohne das Denken und Kommunizieren mittels Bild- und Wortinhalte für uns nicht mehr vorstellbar, denn diese Ausdrucksformen ermöglichen überhaupt erst einen wesentlichen Teil des menschlichen Miteinanders, aber auch Selbstverständnisses. Der philosophischen Ergründung des beschriebenen Charakters von Bild und Wort widmete sich seiner Zeit Hans Georg Gadamer1 in zahlreichen Schriften, die sich dieser Thematik mit unterschiedlichen, einander ergänzenden Schwerpunkten widmen.

Aus den Massen an Bild- und Wortkonstellationen, die als ein reiner „Gebrauchsgegenstand“ des alltäglichen Lebens fungieren, hebt sich etwas hervor, das sich die „Kunst“ nennt und jenseits von jeglichem Verwendungszweck, einen eigenen Daseins- und Wahrheitsanspruch erhebt, der im Hervorbringen einer ästhetischen Erfahrung begründet liegt. Doch was macht die Kunsterfahrung als solche aus und was lässt sie über die Menschheitsgeschichte hinweg als eine zeitlose Konstante fortbestehen? In der vorliegenden Arbeit soll hierzu der Aufsatz Gadamers Bildkunst und Wortkunst, in dem von Gottfried Boehm herausgegebenen Sammelband Was ist ein Bild?,2 beleuchtet werden, da in ihm die hier erhobene Frage, nach dem Charakter ebenjener Kunsterfahrung, von zentraler Bedeutung ist.

In dem Sinne dieser Frage hält Gadamer bezüglich der Wahl des Titels „Bildkunst und Wortkunst“ fest, es sei klar, dass er „hiermit nicht alles meine was Bild ist“.3 Der Begriff des „Bildes“ beinhaltet nach Gadamer ein Vielfaches mehr, weshalb er sich in diesem Rahmen bewusst für den Ausdruck Bildkunst entschieden habe, um sich dem zu widmen was den Kunstcharakter in seiner Einzigartigkeit ausmache. Das habe Kunstwerk, „diese besondere Auszeichnung, über die es sich zu nachdenken lohnt, was der Umgang damit eigentlich ist.“4 Zudem ist der Kunstcharakter ihm nach ein wesentliches Element, welches das Bild und das Wort als gemeinsame Wesenseigenschaft miteinander verbindet.5 So möchte er sich mit dem Begriff „Wortkunst“, auch nicht etwas auf die Kunst der Rhetorik beziehen,6 sondern der Bedeutungsschwerpunkt liegt auch hier auf Beleuchtung der Kunsterfahrung und damit einhergehen der Wortkunst „im Sinne der Literatur, der Dichtung und ihrer verschiedenen Abwandlungen.“7

Es wird von Gadamer bei der Betrachtung von Bildkunst und Wortkunst, wie er ausdrücklich festhält, nicht beabsichtigt, systematisch die Unterschiede beider Formen herauszuarbeiten. Das Ziel seiner Ausführungen sei stattdessen darauf ausgerichtet, die Teilhabe des Bilds und des Worts an einer gemeinsamen Wirklichkeit aufzuzeigen, welche „die Kunst“ genannt wird8 und dem nachzuspüren, was die „Besonderheit der Kunst“9 ausmacht. In diesem Sinne widmet sich die vorliegende Arbeit den Leitfragen: Was macht die Kunsterfahrung als solche bei Gadamer aus? Wodurch unterscheidet sie sich von den modernen Erfahrungswissenschaften? Und worauf basiert ihre Kontinuität in der menschlichen Lebenswelt?

In dem ersten Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit soll zu diesem Zweck beleuchtet werden, inwiefern der Kunst gemäß Gadamer ein zeitloser Wahrheitsanspruch zukommt und worauf sich dieser Anspruch stützt. Um dies zu untersuchen soll als Erstes näher darauf eingegangen werden weshalb Gadamer die Kunst als eine Instanz der Geschichtsüberlegenheit betrachtet. Als zweites folgt eine Beleuchtung der Entwicklung, die der Kunstbegriff durchlaufen hat, um zu analysieren, inwiefern die Abkehr von der Bezeichnung „schöne Künste“ bzw. „freie Künste“ Ausdruck eines Wandels im Kunstverständnis ist. Als Drittes wird der besondere Zeitmodus der Kunst in den Fokus gerückt und herausgearbeitet inwiefern dieser mit dem Staunen, Verweilen und Lesen zusammenhängt

In dem zweite Schwerpunkt erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen, welche die Entwicklung der Wissenschaften gemäß Gadamer auf das Verständnis der Kunst ausübten. Als Erstes soll zur Ergründung dessen der Wandel beleuchtet werden, der sich durch die Schriften Kants im Wissenschaftsverständnis vollzogen hat und dargelegt werden inwiefern dies die Auffassung von Kunst beeinflusst hat. Als Zweites soll, in Anknüpfung an die „ästhetische Urteilskraft“ aufgezeigt werden, welche Rolle Gadamer zufolge die „teleologische Urteilskraft“ in Bezug auf die Entwicklung des modernen Verständnisses von Natur und Kunst spielte und inwiefern dieser Konzeption auch heute noch Aktualität zuzuschreiben ist. Als Drittes soll die Fähigkeit der Kunst zur Selbstdarstellung thematisiert werden, unter der Betrachtung ihrer Eigenschaft als Harmonie und Möglichkeit.

Der dritte Schwerpunkt ist dem Vollzugscharakter gewidmet den Gadamer der Kunsterfahrung als wesentliches Moment zuschreibt, wobei insbesondere die Aspekte der Lesbarkeit und Erfahrbarkeit von Kunst von Interesse sind. Als Erstes soll hierbei darauf eingegangen werden weshalb sich der Vollzug der Kunst gemäß Gadamer im Fluss des Lesens äußert und inwiefern sich wissenschaftliche Methodik infolge dessen als ungeeignet erweist, um die in der Kunsterfahrung liegende Wahrheit zu erfassen. Als Zweites soll die Daseinsform der Kunst zwischen Werden und Gewordensein beleuchtet werden, unter dem Aspekt ihrer Nähe zur aristotelischen „Energeia“. Dem folgt als Drittes abschließend die Betrachtung der Kunst aus dem Blickwinkel, verdeutlichen eines hintergründig Stimmenden und in den Lebenszusammenhängen Allgegenwärtigen, anhand der von Gadamer gelieferten Beispiele der Dekoration und Architektur.

2. Der zeitlose Wahrheitsanspruch der Kunst

2.1 Die Kunst als Instanz der Geschichtsüberlegenheit

Bei seiner Untersuchung der Kunsterfahrung, im Rahmen von Bildkunst und Wortkunst, ist es für Gadamer von besonderem Interesse aufzuzeigen, dass durch die Kunst eine autonome Wahrheitserfahrung gegeben ist, welche einer eigenen Form der Zeitlichkeit unterliegt. Zudem schreibt er der Kunst die Kraft zu eine „Instanz der Geschichtsüberlegenheit“10 zu sein, insofern diese „Unmittelbarkeit und Gegenwart für sich in Anspruch nimmt und diesen Anspruch einzulösen vermag.“11 Diese These der Geschichtsüberlegenheit der Kunst, bewahrheitet sich gemäß Gadamer unter anderem dadurch, dass die Kunst über Zeiten und Völker hinwegreiche, ebenso wie auch über die individuellen Künstler und deren persönliche Biografie.12 Ganz im Einklang damit steht auch Gadamers Position in Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage:

„Durch die essentielle Gleichzeitigkeit aller Kunst wird etwas bewußt, das eine letzte Überlegenheit über die Geschichte darstellt.“13

Das Kunstwerk der bildenden oder sprachlichen Kunst umgibt laut Gadamer eine rätselhafte Präsenz, die wie ein unumstößliches Zeugnis sei.14 Diese Präsenz wir von ihm als etwas beschrieben, das einem bei der Kunsterfahrung so nahe kommt, dass man sagt: „So ist es?“15 Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, erscheint es Gadamer, als könne der Mensch regelrecht nicht darauf verzichten „in der Kunst einen Maßstab der Wahrheit zu sehen.“16 Das Zusammenspiel von Kunst- und Wahrheitserfahrung wird von Gadamer insbesondere aus der Perspektive der von ihm begründeten „universalen Hermeneutik“ beleuchtet.17

Gadamer geht davon aus, dass dem Wort, ebenso wie auch der bildenden Kunst, „Gleichzeitigkeit und Zeitüberlegenheit“18 innewohnen. Dies bringt ihn dazu zu hinterfragen, wie über die „Zeiten und Räume hinweg das bildnerische und dichterische Werk“19 den Anspruch erhebt, „Gegenwart und Wahrheit“20 zu sein. Um dem nahezukommen, was die Kunsterfahrung beinhaltet, nimmt Gadamer unter anderem Bezug auf einen berühmten Ausspruch Goethes,21 indem er hinterfragt: „Was ist eigentlich mit diesem »so wahr, so seiend«?“22 Den damit vermittelten Anspruch Wahrheit und Gegenwart zu sein, sieht er auch in der Philosophie vorliegen. Die Tragweite des alten Wahrheitsanspruchs der Philosophie, als Instanz zwischen Sein und Anderssein bzw. Anderswerden, wird von Gadamer im Zuge dieser Überlegungen mit der Kunsterfahrung in Verbindung gebracht.23 Es wird hierbei zunächst in den Raum gestellt, auf welche Weise die Kunsterfahrung und die philosophische Betrachtung, diesen Anspruch konkret einlösen, wobei Gadamer im argumentativen Verlauf seines Aufsatzes wieder darauf zurückkommt.24

2.2 Entwicklung des Kunstbegriffs in Abkehr von den schönen/freien Künsten

Die Begriffsentwicklung, von den „schönen Künsten“ bzw. den „freien Künsten“ hin zu der „Kunst“ als solche, stellt für Gadamer einen wesentlichen Aspekt zur Beleuchtung der Kunsterfahrung dar. Er thematisiert die Entwicklung des Begriffs „Kunst“ dahingehend, dass diese Bezeichnung sich erst am Ende „der großen metaphysischen Tradition des Okzidents“25 eingebürgert habe.

Zur Erläuterung dieses Wandels, bringt Gadamer zunächst die Unterscheidung vor, die zwischen dem Werk und dem Werkstück zu machen sei, bzw. zwischen der Kunst und dem Kunsthandwerk, welches zuweilen auch als die „mechanischen Künste“bezeichnet wird. Er kommt hierbei auf den aristotelischen Ausdruck „poiesis“26 zu Sprechen, der zunächst einmal für „das Machen“ stehe. Auch wenn dem Kunstwerk und dem Werkstück beiden ein Machen zugrunde liegt, so zeichnet sich das Werkstück im Gegensatz zu dem Kunstwerk, dadurch in seiner Herstellung wiederholbar zu sein, wohingegen es beim Kunstwerk gemäß Gadamer ungewiss bleiben müsse, ob dieses noch einmal und auf die gleiche Weise glückt.27 Darüber hinaus habe das Kunstwerk, im Unterschied zum Werkstück, auch keinen Gebrauchswert und sei in dem Sinne nicht zu verbrauchen.28

Durch einige „semantische Illustrationen“,29 die sich auf die Entwicklung des Kunstverständnisses beziehen, möchte Gadamer weitere Eigenschaften der Kunsterfahrung offenlegen. Hierbei wird zunächst die Wortbedeutung, die hinter den „freien Künsten“ bzw. der „Freiheit der Kunst“ steht, von ihm erwähnt. Gadamer geht dabei auf den Begriff der „artes liberales“30 ein, indem er deren Ursprung in der antik-mittelalterlichen Tradition beleuchtet und diesen vom heutigen Begriffsverständnis abgrenzt, in welchem der zu frühen Zeiten mitschwingende soziale Ton abhandengekommen sei.31

Die Bezeichnung „schöne Künste“ wird von Gadamer gleichermaßen im Rückgriff auf die Antike beleuchtet. Er führt hierzu an, dass das Schöne, im Sinne des altgriechischen

Terminus „kalon“,32 dasjenige verkörpere, was sich sehen lassen kann und dass sich der Gegensatz hierzu in dem Begriff „aischron“33 wiederfinde, in der Bedeutung von etwas, das man verstecken möchte, bzw. auch als etwas, in dem man die Verborgenheit anstrebt.34 Von diesem Blickwinkel ausgehend ist dasjenige als das Schöne zu bezeichnen, das man als so ausgezeichnet empfindet, dass man „es der Öffentlichkeit förmlich zur Schau“35 stellen möchte.36 Des Weiteren wird von Gadamer der altgriechische Terminus „kalokagathos“37 als Idealbegriff der freien Erziehung aufgegriffen und mit dem pietistischen Unschuldsideal der „schönen Seele“38 in Verbindung gebracht, welches sich unter anderem in Friedrich Schillers Schrift Über Anmut und Würde wiederfindet und als Konzeption insbesondere im 18. Jahrhundert von großer Signifikanz war.39

2.3 Der besondere Zeitmodus der Kunst im Staunen, Verweilen und Lesen

Was den Zeitmodus der Kunst betrifft, so liegt der Charakter der Kunsterfahrung gemäß Gadamer in einer Steigerung des Staunens begründet, welches sich in der Betrachtung vollzieht.40 Zur Untermalung dessen kommt Gadamer auf Homers Bezeichnung „thauma idesthai“ zu sprechen, der das Schöne im Sinne von „ein Wunderwerk anzustaunen“ bezeichnet41 und sich sowohl in Homers Odyssee als auch in seinem Werk Illias wiederfindet.42

In diesem staunenden Betrachten, bei dem man von einem Werk angezogen wird und davor verweilt, sieht Gadamer das genaue Gegenteil dessen vorliegen, was der Benutzer in der modernen Informatik prämiert, wo er „nur zur schnellsten Kenntnis“43 nimmt, was auch einen „eindeutigen Verwendungszweck hat“.44 Er spricht der Kunst aufgrund dessen einen „besonderen Zeitmodus“45 zu, der nicht im reinen „Augenblick des Erlebnisses“46 liegt, sondern viel eher in der Weile und dem Verweilen begründet ist.47 Er beschreibt dies als „eine höchst rätselhafte Wirkung aller Kunst“,48 welche sowohl der Poesie als auch der Bildnerei zueigen sei, wenn auch auf verschiedene Weisen.49 Das Bild habe die Eigenschaft den Betrachter zurück zum Staunen und Verweilen50 zu rufen, oder wie er des Weiteren anführt zurück zum „Lesen“.51

Gemäß Gadamer ist das Lesen allen Formen der Kunsterfahrung zuzuschreiben, nicht nur was die Kunst des Wortes betrifft. Vielmehr seien auch alle künstlerischen Formen der Bildnerei, trotz deren scheinbarem „statuarischen Fixiertsein“,52 zum Lesen bestimmt.53 Als ein wichtiges Element, um seine These der universalen Lesbarkeit von Kunst zu begründen, dient für Gadamer die „Verweisungsfunktion des Bildes“.54 Diese äußert sich darin, dass das Bild es vermag „von sich auf etwas anderes wegzuweisen, und das so völlig, daß man zugleich auf es zurückgeholt wird.“55 Hierin sieht er den wesentlichen Charakter der Bildwirkung und nicht etwa in historischen Forschungsaufgaben wie z. B. die Ermittlung des abgebildeten Modells oder der landschaftlichen Umwelt des Künstlers.56

3. Die Auswirkungen der Wissenschaftsentwicklung auf das Verständnis der Kunst

3.1 Durch Kant begründeter Wandel im Wissenschafts- und Kunstverständnis

Die Seinsweise der Kunst betreffend stellt Gadamer die bedeutende Frage: „Wie hat sich das eigentlich ereignet. Als »die Kunst« zu einer eigenen »autonomen« Wahrheitserfahrung wurde?“57 Diese Frage lässt er jedoch zunächst offen stehen, um sie später erneut aufzugreifen und widmet sich stattdessen einem anderem Aspekt mit der Frage: „Wie kam es, daß man ab etwa 1800 nicht mehr »die schönen Küste« sagt, wenn man Kunst meint?“58 Er liefert im Folgenden eine Skizzierung der „langen Vorgeschichte“ hierzu, die ausgehend von dem Verlauf der abendländischen Geschichte, über die Aufklärung, bis hin zu den „modernen Erfahrungswissenschaften“ reicht.

Er widmet sich hierbei insbesondere dem durch Kant geprägten Wissenschaftsbegriff, da dieser seiner Ansicht nach erheblich zu dem Wandel des Kunstverständnisses beigetragen hat.59 Im Zuge dessen nimmt er Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft und den darin postulierten Grundgedanke, dass die menschliche Erfahrung aposteriorischen Bedingungen unterliegt. Damit einhergehende wurde ein neuer wissenschaftlicher Begriff der Natur als „Materie unter Gesetzen“60 konstituiert. Als Resultat dessen ging ein neues Verständnis von „Wissenschaft und Methodik“61 hervor, welches es laut Gadamer mit sich brachte, dass am Ende Kants Kritik der reinen Vernunft „nur noch als Erkenntnistheorie gelesen wurde und daß die praktische Vernunft ganz verschattet blieb.“62 Als ein Beispiel für beschriebenen Auswirkungen wird von Gadamer der Wandel angeführt, den die Kosmologie durch laufen hat,63 indem diese ihren metaphysischen und naturphilosophischen Anspruch einbüßen musste und schließlich selbst zu einem Teil der modernen Erfahrungswissenschaften wurde.64

Kants apriorische Rechtfertigung der modernen Wissenschaft führte laut Gadamer zu einer Entzauberung der metaphysischen Disziplinen,65 da sich diese nicht länger innerhalb der Grenzen wirklicher Erfahrung aufhielten,66 wofür er als Beispiele die „Psychologia rationalis“67 und „Cosmologia rationalis“68 anführt. Die Naturwissenschaften haben jedoch nach Gadamer die Einschränkung, dass diese lediglich dazu imstande seien „einen bestimmten Wirklichkeitsbereich zum Gegenstand ihrer Forschung“69 machen. Der philosophische Anspruch auf ein Wissen um das Ganze, bliebe ihnen somit durch die „Disziplin und Abstraktionskraft ihrer Methodik“70 gänzlich verwehrt.

[...]


1 Hans-Georg Gadamer, wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren und ist am 13. März 2002 in Heidelberg verstorben. Er promovierte 1922 im Bereich Philosophie mit der Dissertationsschrift Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen. Zu internationaler Bekanntheit kam Gadamer schließlich im Jahre 1960 mit seinem Werk Wahrheit und Methode und der ihm zugrunde liegenden Konzeption der universalen Hermeneutik. Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer. Ein philosophisches Porträt, Tübingen 2009, S. 5-6.

2 Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1994.

3 Hans-Georg Gadamer: Bildkunst und Wortkunst. In: (Hg.) Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1994. S. 90-104, hier S. 90.

4 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 93.

5 Vgl. Ebd.

6 Vgl. Ebd., S. 91.

7 Ebd.

8 „Die Kunst“ wird von Gadamer als ein relativ „junger Begriff“ angeführt, was weniger damit zu tun hat, dass es die Kunst er seit Kurzem gäbe, sondern sich vielmehr auf einen Wandel im Kunstverständnis bezieht. Vgl. Ebd.

9 Auch wenn es sich seiner Ansicht nach in Bildkunst und Wortkunst als ungewiss darstellt, was diese Besonderheit der Kunst konkret alles beinhaltet, nennt er hierzu im Zuge seiner Ausführungen einige wichtige Aspekte, insbesondere auch was die Kunsterfahrung angeht. Er intendiert jedoch mit dieser Formulierung darauf hinzuweisen, dass damit nicht annähernd die ganze Besonderheit der Kunst ausschöpft sei. Der Aspekt der Besonderheit der Kunst und Kunsterfahrung findet sich auch in Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode wieder und hat ihn in zahlreichen Überlegungen beschäftigt, Vgl. Judith Siegmund: Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation. Bielefeld 2015, S. 204

10 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 91.

11 Ebd.

12 Vgl. Ebd.

13 Hans-Georg Gadamer: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, S. 209.

14 Beschriebene Relation zwischen Kunst und Geschichte findet sich in Wahrheit und Methode wieder, unter anderem, wenn es um die inhärente Kraft der Kunst in Form der „Seinsvalenz des Bildes “ geht. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2010, S.139-148

15 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 91.

16 Ebd. S. 91-92.

17 Die Hermeneutik (altgr. „hermēneúein“ dt. „erklären“, „auslegen“, „übersetzen‘“) ist eine Theorie der Interpretation von Texten und des Verstehens und ist insbesondere in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften als angewandte methodologische Disziplin vertreten. Auch die Reflexion der Bedingungen des Auslegens, Deutens und Verstehens nicht-textgebundener Werke der Musik und ihrer Interpretation oder der Werke der Bildenden Kunst wird Hermeneutik genannt. Vgl. Frank Günter u. Stephan Meier-Oeser: Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der frühen Neuzeit, Stuttgart 2011, S. 12.

18 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 92.

19 Ebd.

20 Ebd.

21 Mit diesem speziellen Ausspruch Goethes und dessen Bedeutungsebenen beschäftigte sich Gadamer unter anderem Auch in einem Aufsatz der 1992 erschienen ist, mit dem Titel "Wort und Bild - " so wahr, so seiend" Vgl. Istvan M. Feher (Budapest): Zur Bildtheorie des Wortes - "so wahr, so seiend". In: (Hg.) Günter Figal: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, 3. Band, Schwerpunkt: Kunst - Verstehen, 2004 Tübingen, S. 81- 96.

22 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 92.

23 Gadamers ausdrückliche Intension ist es eine „Brücke zu schlagen“ zwischen Philosophie und Kunst, Vgl. Ebd.

24 Ebd.

25 Ebd.

26 Der altgriechische Begriff „poiesis“ (dt. machen), steht zunächst für ein zweckgebundenes Handeln und findet sich in Aristoteles Poietik wieder. Auch Heidegger bezieht was die Kunst und Dichtung angeht, auf den aristotelischen Poiesis-Begriff. Vgl. Bogdan. Minca: Poiesis. Zu Martin Heideggers Interpretationen der aristotelischen Philosophie, Würzburg 2006, S. 35.

27 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 92-93.

28 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 93.

29 Die Semantik (altgr. sēmaínein, dt. „bezeichnen“, „zum Zeichen gehörig“) ist die Theorie oder Wissenschaft von der Bedeutung der Zeichen, wie insbesondere Wörter, Wortteile, Sätze und Satzteile. Der Untersuchungsgegenstand der Semantik ist die sprachliche Bedeutung im Sinne der Beziehung zwischen Ausdrücken der Sprache und der Welt. Vgl. Helmut Giper u. Peter Schmitter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik, Tübingen 19792, S. 153.

30 Bezüglich der „artes liberales“ hält Gadamer in seinem Werk Griechische Philosophie III. Plato im Dialog fest „Bis in die beginnende Neuzeit hinein hat daher die Dialektik (im herabgesetzten Sinne des aristotelischen Gebrauchs des Wortes) und die Rhetorik die bestimmende Rolle für die Schulwissenschaft der artes liberales gespielt.“ Hans- Georg Gadamer Griechische Philosophie III. Plato im Dialog, Tübingen 1991, S. 334.

31 Vgl. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 93.

32 Der altgriechische Begriff „kalon“ (dt. „schön“, „löblich“) bezeichnet etwas von äußerlicher, physische, ästhetischer Schönheit, etwas von innerer oder moralischer Schönheit und etwas, das für einen Zweck geeignet ist, im Sinne von tauglich, passend. In Wahrheit und Methode unternimmt Gadamer eine Bedeutungsanalyse des „Schönen“, wobei er ebenfalls auf den Begriff „kalon“ zu Sprechen kommt. In seinen Ausführungen zur Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie, geht Gadamer darauf ein, dass es „keine völligen Entsprechungen im Deutschen“ für diesen Begriff gibt, da er mehr beinhalte als das deutsche „schön“, Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2010, S. 481

33 Platon bringt in seinem Dialog Protagoras (359e5) die beiden Begriffe „kalon“ und „aischron“ als Gegensätze zur Sprache, wobei „kalon“ für „schön/lobenswert“ und „aischron“ für hässlich/verwerflich" steht. Vgl. Bernd Manuwald: Platon. Protagoras. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Bernd Manuwald, Göttingen: 1999, S. 202.

34 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 94.

35 Ebd. S 94

36 Wobei die Grenzen dessen, was man der Öffentlichkeit zur Schau stellen möchte, in der Kunst heutzutage sehr offen erscheinen und sich darin auch Dinge wiederfinden, die als möglicherweise als abstoßenden, schockierend oder beschämend empfunden werden können, aber sehr wohl mit der Intension des Künstlers einhergehen. So erscheint das Moment der Ausdruckskraft oftmals weitaus präsenter als das Ideal einer „vorzeigbaren Schönheit“, da dieses schon lange auf nicht mehr zwingend mit Kunst einhergeht. Die moderne Kunst lässt sich in diesem Sinne nicht mehr vom „Schönen“ einschränken, wodurch die Abkehr von der Bezeichnung „schöne Künste“ durchaus plausibel erscheint.

37 Die Kalokagathie (altgr. kalokagathia von kalos = schön und agathos = gut) bezeichnet den Inbegriff des Schönen und Guten, im Wesen eines Menschen von guter Bildung und Lebensart. Der Begriff „Kalokagathos“ bezeichnet dementsprechend ein Mann/Mensch von guter Bildung und Lebensart. Vgl. Arnim Regenbogen (Hg.)u. Uwe Meyer (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Begründet von Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis . Fortgesetzt von Johannes Hoffmeister, Hamburg 2016, S. 334.

38 An besagtem Ideal der schönen Seele orientiert sich unter anderem auch Friedrich Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde. Die schöne Seele ist ihm nach der Ort, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren und Grazie sei ihr Ausdruck in der Erscheinung. Vgl. Harald Neumeyer: „Ich bin einer von denjenigen Unglückseligen [...]“ Rückkopplungen und Autoreferenzen. Zur Onaniedebatte im 18. Jahrhundert. In: Maximilian Bergengruen (Hg.), Roland Borgards (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 65-134, hier S. 107.

39 Vgl. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 94.

40 Vgl. Ebd.

41 Vgl. Ebd.

42 Vgl. Indra Kagis McEwen: Socrates' Ancestor. An Essay on Architectural Beginnings, Cambridge 1993, S. 22.

43 Ebd. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 94.

44 Ebd. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 94.

45 Ebd.

46 Man habe in der Geschichte der Ästhetik vorübergehend geglaubt, im Augenblick des Erlebnis, das Zeitlose in der Zeit gefunden zu haben. Vgl. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 94.

47 Vgl. Ebd.

48 Ebd.

49 Vgl. Ebd.

50 Ebd.

51 Ebd. S. 95.

52 Im Sinne eines standbildhaften Scheins der Bildkunst, sowohl transitorische wie auch nicht transitorische Darstellungsformen betreffend. Vgl. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 95.

53 Ebd.

54 Gadamer spezifiziert hierzu in Wahrheit und Methode: Das Bild hat zwar wie auch ein Zeichen eine Verweisungsfunktion inne, geht jedoch im Unterschied zum Zeichen nicht in diesem Verweisen auf, „sondern hat in seinem eigenen Sein teil an dem, was es abbildet.“ Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2010, S. 158.

55 Vgl. Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 95.

56 Ebd.

57 Ebd.

58 Ebd.

59 Die Erfahrungswissenschaften haben reale Sachverhalte zum Forschungsgegenstand und verwenden empirische Beobachtungen dazu, theoretische Annahmen über die Welt zu überprüfen, wie beispielsweise in den Naturwissenschaften oder den Kulturwissenschaften. Der Begriff Erfahrungswissenschaften wird oftmals als Gegensatz zu den Formalwissenschaften verwendet, die sich der Analyse von formalen Systemen widmen. Vgl. Herbert Keuth: Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit, Tübingen 1989, S. 193; Vgl. Nicola Döring, Jürgen Bortz u. a.: Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. Berlin 20155, S. 12

60 Vgl. Hans Georg Gadamer: Das ontologische Problem des Wertes. In: K. Kuypers (Hg.): Human Sciences and the Problem of Values / Les Sciences Humaines et le Problème des Valeurs, Berlin 2012, S.17-32, hier S. 18.

61 Vgl. Simone De Angelis: Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, München 2003, S. 228-229.

62 Gadamer: Bildkunst, München 1994 , S. 95.

63 Mit Gadamers Konzeption der Kunsterfahrung in der verweilenden Betrachtung gewissermaßen einhergehend, heißt es, in Kants Kritik der praktischen Vernunft, die Kosmologie betreffend: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir." Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Leipzig 1978, S. 191.

64 Als ein Einzelbespiel für neuere philosophische Ansätze die Kosmologie betreffend erwähnt Gadamer Pierre das erstmals 1955 erschienene Werk von Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München 20104.

65 Vgl. Paul Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Interdisziplinäre Bilanz der Kantforschung seit 1945, Berlin 2003, S. 266.

66 Gadamer: Bildkunst, München 1994, S. 95.

67 Die Benennung metaphysischer Disziplinen wie der „Psychologia Rationalis“ und der Cosmologia Rationalis“ bei Kant wurden von der philosophischen Terminologie Christian Wolffs beeinflusst. Sowohl in seiner Psychologia Rationalis aus dem Jahre 1740 als auch in nachfolgenden Werken charakterisiert Wolff „die Lehren der Skeptiker, Dogmatiker etc. wie in der Deutschen Metaphysik.“ Vgl. Dietmar Hermann Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, Berlin 1998, S. 27.

68 Vgl. Ebd.

69 Gadamer: Bildkunst, München 199 , S. 95.

70 Vgl. Ebd.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Die Besonderheit der Kunst. Zur Bedeutung der Kunsterfahrung in Hans-Georg Gadamers Bildkunst und Wortkunst
Hochschule
Universität Konstanz
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
31
Katalognummer
V458083
ISBN (eBook)
9783668903210
ISBN (Buch)
9783668903227
Sprache
Deutsch
Schlagworte
besonderheit, kunst, eine, untersuchung, bedeutung, kunsterfahrung, hans-georg, gadamers, bildkunst, wortkunst
Arbeit zitieren
Lucius Müller (Autor:in), 2014, Die Besonderheit der Kunst. Zur Bedeutung der Kunsterfahrung in Hans-Georg Gadamers Bildkunst und Wortkunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458083

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