Click and Like!? Mündigkeit im Spannungsfeld von Politischer Bildung und Medien

Zur Notwendigkeit einer reflektierten Handlungskompetenz von Schülerinnen und Schülern im Umgang mit medialen Formaten


Masterarbeit, 2017

220 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Strukturelle Rahmenbedingungen
2.1 Ziele Politischer Bildung
2.2 Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK)
2.3 Kerncurriculum Politik-Wirtschaft

3 Mediales Umfeld von Schüler*innen in Deutschland
3.1 Mediensozialisation
3.2 Mediennutzung
3.3 Mediale Formate und die Vermittlung ihrer Lebensentwürfe
3.3.1 Identitätsbildung und Identitätsentwicklung

4 Schüler*innen- Interviews
4.1 Forschungsinteresse und methodisches Vorgehen
4.2 Auswertung

5 Konsequenzen, Herausforderungen und Chancen für die politische Bildung
5.1 Förderung von Handlungskompetenzen im Umgang mit medialen Formaten – Lernziele
5.2 Förderung von Medienmündigkeit im Politikunterricht

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Gerätebesitz Jugendlicher

Abbildung 2: YouTube Nutzung

Abbildung 3: Positionen der Forschung

Abbildung 4: Häufigkeit der typischen Ausprägungen

1 Einleitung

Niklas Luhmann schrieb: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 2010, S. 9). Dieser Aussage mag widersprochen werden, gleichwohl hatte Luhmann auch darauf eine Antwort: „Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt“ (Luhmann 2010, S. 9). Was aber macht dieses Wissen aus den Medien mit den Konsument*innen? Bei älteren Menschen wird es vielleicht eine bereits ausgebildete Meinung verstärken oder dämpfen, vielleicht auch nichts davon. Anders ist dies bei Jugendlichen. Im jungen Alter hat die Identitätsbildung und Identitätsfindung noch eine besonders große Bedeutung. Das entstehende Spannungsverhältnis betrifft aber nicht nur im direkten Sinne die Rezipient*innen, sondern auch indirekt den Bereich der Bildung.

In dieser Arbeit soll insbesondere das Verhältnis von Medien und Politischer Bildung beleuchtet werden. Politische Bildung stellt dabei nicht nur ein Schulfach dar, welches je nach Bundesland in verschiedenen Formen (Politik, Politik-Wirtschaft, Sozialkunde etc.) die Klassenräume erreicht, sondern auch eine fachübergreifende Kompetenz, die über der gesellschaftlichen Peripherie steht. Da sich mediale Formate gegenwärtig kontinuierlich weiterentwickeln, ist ein lineares Eingehen auf die neuen technischen Errungenschaften mit dem Mythos des Sisyphos zu vergleichen. Aktuelle Phänomene müssen beleuchtet und analysiert werden, um überhaupt die Entwicklung einer Handlungskompetenz zu ermöglichen. Die Ziele, die man in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Medien, Schüler*innen und Politischer Bildung erreichen möchte, sollen daher lieber kleiner und realistischer gesteckt sein als einen sofortigen Wandel erzwingen zu wollen. So ist es etwa erstrebenswert, dass alle Beteiligten wissen, wovon die Diskussionen aus dem Kinderzimmer bis hin zur Bundesregierung handeln. Auch Philippe Wampfler fordert: „Nur wenn sie verstehen, wie junge Menschen ihre mediale Realität erleben und sich darin verhalten, können Lehrpersonen und Eltern mit ihren medienpädagogischen Bemühungen erfolgreich sein“ (Wampfler 2016, S. 51). Da die Jugend mit der Schulzeit zusammenfällt, müssen sich nicht nur die Eltern Gedanken über die Vermittlung einer Handlungskompetenz mit medialen Formaten machen, sondern auch Bildungseinrichtungen. Die Herausforderung für Schulen entsteht insofern, als dass die Frage aufkommt, ob sie Vorgaben für den Umgang mit medialen Formaten machen müssen und falls dies der Fall sein sollte; wie können diese im Unterricht thematisiert werden (vgl. Wampfler 2016, S. 11)? Dabei sollten sowohl die medialen Formate als auch ihre Inhalte untersucht werden, um Rückschlüsse darauf zu ziehen, was Jugendliche aus diesen für Konsequenzen in Bezug auf ihre Identitätsentwicklung ziehen können. Die Arbeit beleuchtet daher zunächst die strukturellen Rahmenbedingungen und anschließend das mediale Umfeld von Schüler*innen. So können die Rahmenbedingungen für den empirischen Teil der Arbeit und die sich daraus ergebenden Forderungen an die politische Bildung festgelegt werden.

Abgesehen von Schüler*innen und berühmten Persönlichkeiten, nutzen die Internetplattformen, auch Organisationen, die einen demokratischen Pluralismus ablehnen, für ihre Zwecke. Besonders unter den jungen Internetnutzer*innen sind Videoplattformen wie YouTube nicht nur ein Freizeitvertreib, sondern ein alltägliches Informationsmedium (vgl. absatzwirtschaft 2015). Inhalte aller Art sind im Internet jederzeit frei verfügbar und können ungefiltert konsumiert werden. Auch Terrororganisationen, wie der sogenannte „Islamische Staat“, nutzen YouTube für ihre Propagandavideos, um Menschen weltweit zu rekrutieren. Zudem verstecken sich hinter vielen informativ anmutenden YouTube-Kanälen1 oder Facebook Gruppen, rechtspopulistische oder rechtsradikale Organisationen, die dort ihre Gesinnung verbreiten.

Diese Arbeit beabsichtigt nicht, den Medienkonsum von Schüler*innen mit erhobenem Zeigefinger zu maßregeln, sondern soll zeigen, wie der Medienkonsum stattfindet und inwiefern Schüler*innen eine Handlungskompetenz vermittelt werden kann, um kritisch und reflektiert mit medialen Formaten umzugehen. Schüler*innen sollen, wie in anderen Bereichen des Lebens auch, mündig handeln und aktiv am demokratischen Leben teilhaben. Sie begegnen allerdings ungefiltert medialen Inhalten auf jeglichen Kanälen und lernen nicht diese zu reflektieren. Es ist daher die Aufgabe des Politikunterrichts, Schüler*innen nicht nur zu mündigen Bürger*innen zu erziehen, sondern die Medienmündigkeit miteinzubeziehen. Die Arbeit bezieht daher nicht nur den Forschungsstand zum medialen Umfeld von Schüler*innen in Deutschland ein und welche Auswirkungen die Inhalte der ausgewählten medialen Inhalte auf die Identitätsentwicklung und -bildung der Schüler*innen haben. Sondern gibt auch einen praktischen Einblick durch eine Analyse einiger medialer Formate. Der empirische Teil der Arbeit, der Interviews mit Gymnasialschüler*innen beinhaltet, will folgende Fragen klären: Welche medialen Formate nutzen die Befragten und mit welchen Inhalten beschäftigen sie sich? Wie wirken die Inhalte auf die Schüler*innen und welche Rückschlüsse ziehen sie daraus für ihr eigenes Leben? Ziel dessen ist es Implikationen für die politische Bildung herauszubilden, um so das Konzept einer Medienmündigkeit im Schulfach Politik/ Politik-Wirtschaft zu etablieren. Die Interviews wurden mit Hilfe der Methode des Problemzentrierten Interviews nach Witzel erhoben und mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse in Form einer typisierenden Strukturierung ausgewertet.

2 Strukturelle Rahmenbedingungen

Bisher gibt es einige Programme zur Förderung von Medienkompetenz, also dem kompetenten Umgang mit Medien, seitens der Bildungspolitik. Einen Überblick darüber soll dieses Kapitel verschaffen. Zudem soll der Umgang der Politischen Bildung in Bezug auf mündigen Umgang mit Medien, erörtert werden.

2.1 Ziele Politischer Bildung

Das Konzept der Mündigkeit stellt in der Politischen Bildung ein unerlässliches und wichtiges Konzept dar. Dennoch entsteht ein Spannungsfeld durch die Interaktion mit dem Thema Medien und den Inhalten medialer Formate. Medien werden in diesem Zusammenhang vor allem in Form von neuen Medien/digitalen Medien verstanden und nicht den herkömmlichen schriftbasierten Medien. Zunächst ist das Verhältnis von Mündigkeit und Politischer Bildung zu klären. Die Autorengruppe Fachdidaktik versteht Politische Bildung wie folgt: „Politische Bildung basiert auf der Mündigkeit des Menschen und fördert die Urteilskraft des demokratischen Souveräns. Sie verbessert die Orientierungsfähigkeit in der sozialen Welt. Sie entwickelt die Urteils- und Kritikfähigkeit gegenüber gesellschaftlichen Phänomenen. Sie befördert die Kompetenzen zur politischen Partizipation und zum bürgerschaftlichen Engagement“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2015, S. 7). Zu der genannten sozialen Welt gehören im jetzigen Zeitalter das Internet, das Schüler*innen allgegenwärtig umgibt. Eine solche soziale Welt ist ohne mediale Einflüsse nicht mehr denkbar. Deshalb ist auch eine Auseinandersetzung mit den Wirkungsweisen medialer Formate auf Schüler*innen und eine Analyse des Mündigkeitsgrades unausweichlich. „Im Kontext politischer Bildung umfasst Mündigkeit mindestens soziale, politische und ökonomische Mündigkeit; man kann sie gesellschaftliche Mündigkeit nennen. Sie bezeichnet die Fähigkeit, sich mit Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eigenständig und sachkompetent sowie interessengeleitet auseinanderzusetzen, dort selbstbestimmt und selbstwirksam handeln und dies nachvollziehbar rechtfertigen zu können“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2015, S. 15). Medien verlangen genau diese gesellschaftliche Mündigkeit, weshalb sich vor allem die Politische Bildung mit der Vermittlung einer Medienmündigkeit, die u.a. eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Mündigkeit ist, befassen sollte.

Ansätze lassen sich bereits im schulpädagogischen Kontext finden. So betrachtet die Kultusministerkonferenz Medienbildung als elementare Kompetenz; „Medienbildung ist somit Teil politischer Bildung und trägt damit zur Ausgestaltung unserer auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ausgerichteten Gesellschaft bei“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 5). Paul Ackermann sieht als „Ziel der politischen Bildung“ - die „Befähigung der Schüler*innen zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle in der Demokratie (Ackermann 2004, S. 215). So sollen die Bürger*innen „Informiertheit, Politisches Interesse, Selbstvertrauen, Glauben an den eigenen Einfluss und Form und Grad politischer Partizipation“ aufweisen (Ackermann 2004, S. 222–223). Was all diese Forderungen verbindet ist die Unerlässlichkeit der Medienmündigkeit, ohne sie ist die Wahrnehmung der Bürgerrolle und Ausgestaltung der Gesellschaft nicht möglich. Der Grund dafür ist eine medienversierte Welt, welche sich sowohl im Alltag als auch im schulischen und beruflichen Leben widerspiegelt. Diese Unausweichlichkeit hat auch die Bildungspolitik erkannt. So sehen sich nicht mehr nur die deutschen Landesmedienanstalten in der Pflicht, Aufklärung zu leisten, sondern auch schulpolitische Institutionen auf Landesebene und Bildungsinstitutionen auf Bundesebene. Im Folgenden sollen einige dieser Projekte vorgestellt werden.

Die Schulleistungsstudie ICLIS 2013 (International Computer and Information Literacy Study) der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) wurde in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchgeführt. Die Vergleichsstudie untersuchte „Kinder auf diese computer- und informationsbezogenen Kompetenzen:

- Kompetenzen zur Nutzung von Technologien zur Recherche von Informationen (z. B. im Internet);
- die Fähigkeit, die gefundenen Informationen im Hinblick auf ihre Qualität/Nützlichkeit zu bewerten;
- die Kompetenz, durch die Nutzung von Technologien Informationen zu verarbeiten und zu erzeugen;
- die Kompetenz, neue Technologien zur Kommunikation von Informationen zu nutzen;
- Kompetenzen für einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit ICT2 “ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017).

„Darüber hinaus wird mit der Studie ermittelt, welchen Beitrag das deutsche Schulsystem zum Erwerb von ICT-Kenntnissen beiträgt und ob Medienkompetenz etwas mit Herkunft und Geschlecht zu tun haben. Außerdem wird erfasst, welche Einstellung die Schülerinnen und Schülern zu Computer- und Informationstechnik haben“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017). Laut den beteiligten Forscher*innen der Studie „[…] gewinnt der kompetente Umgang mit digitalen Medien und insbesondere die Kompetenz, medial vermittelte Informationen auszuwählen, zu verstehen, zu nutzen und zu kommunizieren, kontinuierlich an Bedeutung“ (Bos et al. 2014, S. 9). Dies ist auch der Anlass für die Teilnahme an der Studie, an der bundesweit 2.225 Achtklässler*innen teilnahmen (Bos et al. 2014, S. 12). Die Ergebnisse ergaben allerdings, dass nur etwa die Hälfte der Teilnehmenden die mittlere Kompetenzstufe (III) erreichten und etwa 30% die beiden unteren Kompetenzstufen (I und II) (Bos et al. 2014, S. 16). Neue Medien seien in deutschen Schulen zwar größtenteils vorhanden, so würden sie aber nicht ausreichend in den Unterricht eingebunden (vgl. Grass 2014). Als wahrscheinliche Konsequenz ist die im Jahr 2016 angekündigte Offensive der Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) zu deuten, die mit fünf Milliarden Euro deutschen Schulen den technischen Ausbau ermöglichen will3 (vgl. SZ.de 2016). Die Studie zeigt, dass ein Interesse an Medienkompetenz für Schüler*innen seitens der Bildungspolitik besteht. Allerdings wird der Umgang mit der Technik und die Beschaffung von Informationen im schulischen und beruflichen Kontext fokussiert. Anstatt die „Kompetenzen für einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit ICT“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017) stärker zu fördern, zieht die Bildungspolitik aus dem schlechten Abschneiden der Schüler*innen die Konsequenz, Schulen besser mit Technik auszustatten, anstatt Workshops und Schulungen in Hinblick auf reflektierte Handlungskompetenzen zu subventionieren. Eine gute technische Ausstattung ist zwar Voraussetzung für die Verwendung der Medien, dennoch bekämpft dies nicht das Problem der fehlenden kognitiven Kompetenzen der Schüler*innen.

Ein anderer Aspekt ist die gesellschaftliche Ausgestaltung durch junge Menschen und die politische Partizipation, welche unmittelbar mit den neuen Medien verbunden ist. Durch das Internet wurde allgemein im bildungspolitischen Kontext erwartet, dass junge Leute eine gesteigerte politische Teilhabe aufweisen würden bzw. sich im politischen Kontext mehr einbringen würden. Dies sei laut der LfM4 -Studie von Schmidt et al. mit dem Titel „Heranwachsen mit dem Social Web – Zur Rolle von Web 2.0- Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ nicht eingetreten. Nichtsdestotrotz konnten drei andere Facetten von Engagement durch das „Social Web“ herausgearbeitet werden:

1.) „Positionierung: durch Posts, Fotos, Videos, Blogeinträge, die Freunde und Bekannte gleichermaßen erreichen […]“
2.) „Sich einbringen: Austausch über politische Aktivitäten, politische Aktionen z.B. durch Facebookgruppen, Fotos von Demonstrationen […]“
3.) „Andere Aktivitäten: durch politische Partizipation, andere Nutzer*innen gezielt ansprechen und zu Engagement bewegen, Weitergabe von eigenen Erfahrungen, Checklisten für die Organisation von Diskussionsrunden und Veranstaltungen […]“

(Schmidt et al. 2011, S. 282).

Diese Art von Engagement mag zunächst keine gesteigerte politische Teilhabe im Sinne von erhöhter Wahlteilnahme oder das Einbringen in Parteien darstellen. Andererseits bietet dieses Engagement eine Basis, auf die politische Bildung aufbauen kann, da die Bereitschaft besteht, aktiv zu werden. Diese Art von Aktivität muss die politische Bildung für sich fruchtbar machen.

In Rheinland-Pfalz wurde im Jahr 2007 die Strategie „Medienkompetenz macht Schule“ (MmS) formuliert (Lonz 2015, S. 121). Das „10 Punkte Programm“ umfasst dabei zehn Handlungsfelder, die die Medienkompetenz der Schüler*innen beeinflussen bzw. Bereiche betreffen, die im Hinblick auf Medienkompetenz gefördert werden müssen. Die Leiterin des Referats „Medienpädagogische Grundsatzfragen“ des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung Rheinland-Pfalz, Gabriele Lonz, richtet in ihrer Beschreibung des Plans zunächst ihre Aufmerksamkeit auf die technische Ausstattung der Schule und die monetäre Förderung durch die Bundesregierung (vgl. Lonz 2015, S. 121–122). Gleichwohl spricht sie vom Schwerpunkt des „Empowernment der Lehrenden und Lernenden“ und dass die „Technik nur als Werkzeug“ diene (Lonz 2015, S. 123). In Rheinland-Pfalz sei daher der „MedienkomP@ass“ eingeführt worden, der den Schüler*innen ihre Medienkompetenz bescheinige. Als eines der wenigen Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland hat Rheinland-Pfalz laut der Autorin auch die Handlungsempfehlungen der KMK „Medienbildung in der Schule“, welche in Kapitel 2.2. noch einmal genauer erläutert wird, im Ansatz umgesetzt (vgl. Lonz 2015, S. 123). Dennoch geht auch dieses Bundesland nur teilweise auf die Notwendigkeit für die Förderung von Handlungskompetenzen für Schüler*innen im Umgang mit medialen Formaten ein und untermauert somit die These, dass für das Erreichen einer Medienmündigkeit der Schüler*innen eine bundesweite und einheitliche Lösung nötig ist.

Die Problematik, die in den Forderungen der Bildungspolitik liegt, ist die unscharfe Trennung der Begriffe. So wird in den Forderungen und Empfehlungen von Medienbildung und Medienkompetenz gesprochen. In der einschlägigen Literatur trifft man beispielsweise auf den Begriff der Medienerziehung. Der Begriff der Medienmündigkeit, welches die eigentlich Forderung darstellen sollte, wird missachtet. So beschreibt die Medienbildung im Dokument der KMK die Vermittlung von Medienkompetenz und ein Lernen „mit und über Medien“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 3). Mit Medienkompetenz wird wiederum vordergründig die Frage angesprochen: Wie gehe ich mit Medien um? Häufig ist dies auf die Bedienung von Medien ausgelegt, begründet mit der Annahme, dass die spätere berufliche Tätigkeit eine solche Kompetenz erfordert (vgl. Kultusministerkonferenz 2012, S. 7). Es lässt sich folgende Unterstellung formulieren: Schüler*innen sollen für den Arbeitsmarkt nützlich gemacht werden und die Ware der Arbeitskraft darstellen.

Medienmündigkeit ist weitergehend. Zwar schwingen auch Ansätze im Begriff der Medienkompetenz mit, die unter anderem auch „Reflexionsfähigkeit“ fordert (Kultusministerkonferenz 2012, S. 6), beschränkt sich aber zunehmend auf technisches Wissen. Medienmündigkeit fördert das Bewusstsein der Schüler*innen in Bezug auf Medien, sodass sie sich folgende Fragen stellen: Wie gehe ich mit den Inhalten um, die ich in medialen Formaten vorfinde? Wie reflektiere ich diese? Und führt bis hin zu einem Bewusstsein für die Notwendigkeit der Reflexion der medialen Inhalte und nicht nur deren Benutzung. Diese Arbeit fordert daher, dass Medienmündigkeit stark gemacht wird und die Medienkompetenz erweitert und ergänzt.

Im folgenden Absatz werden entsprechend die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und das Kerncurriculum des Faches Politik-Wirtschaft in Niedersachsen genauer auf konkrete Maßnahmen zur Förderung von Medienmündigkeit hin untersucht.

2.2 Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK)

Das rasante Wachstum unterschiedlicher Medienformate hat auch die Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffen. Zunächst wurde im Jahr 2012 die KMK-Erklärung zu „Medienbildung in der Schule“ veröffentlicht, die folgendes Ziel hatte:

„Die Entwicklung von umfassender Medienkompetenz durch Medienbildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur im Zusammenwirken von Schule und Elternhaus sowie mit den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Kultur bewältigt werden kann. Die neue KMK-Erklärung „Medienbildung in der Schule“ soll dazu beitragen, Medienbildung als Pflichtaufgabe schulischer Bildung nachhaltig zu verankern sowie den Schulen und Lehrkräften Orientierung für die Medienbildung in Erziehung und Unterricht zu geben“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 3).

Die Kultusministerkonferenz sah es als Aufgabe der schulischen Bildung, Schüler*innen zu einer „[…] konstruktiven und kritischen Auseinandersetzung mit der Medienwelt“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 3) anzuleiten. Die KMK geht davon aus, dass Medien mit „didaktischem Potenzial“ die Möglichkeit haben „innovative und nachhaltige Lehr-Lernprozesse“ zu fördern (Kultusministerkonferenz 2012, S. 4). „Schulische Medienbildung umfasst also stets das Lernen mit Medien und das Lernen über Medien“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 4). Es wird nicht genau erörtert, was mit dem Lernen über Medien gemeint ist. Allerdings beinhaltet für die KMK die schulische Medienbildung auch „Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 4), da Medien als „Sozialisationsinstanz“ angesehen werden (Kultusministerkonferenz 2012, S. 5). Schüler*innen würden „moralische Haltungen, ethische Werte und ästhetische Urteile“ gegenüber und in ihrem „sozialen Umfeld“ entwickeln (Kultusministerkonferenz 2012, S. 5). Da sie diese auch „in der Auseinandersetzung mit Medien“ entwickeln würden, müsste dies durch schulische Medienbildung gefördert werden (Kultusministerkonferenz 2012, S. 5).

Mündigkeit in Bezug auf Medien wird nicht in dem Beschluss erwähnt, dennoch die gesellschaftliche Rolle von Medien in Bezug auf Einflussnahme auf Rezipient*innen und Partizipation von Bürger*innen.

„Ob neue Medien dabei zu mehr Demokratie und zu mehr gesellschaftlicher Freiheit führen oder aber das eine wie das andere auch einschränken und bedrohen können, hängt wesentlich von ihrem kompetenten Gebrauch ab. Mangelnde Medienkompetenz beschränkt die Möglichkeiten des Einzelnen zur politischen Mitwirkung und kulturellen Partizipation“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 4).

An dieser Stelle wird auf bürgerliche Mündigkeit verwiesen, jedoch nicht wirklich im Umgang mit medialen Formaten. Der Begriff „Gebrauch“ wird mit technischen Kompetenzen in Zusammenhang gebracht. Der Kompetenzbegriff ist an dieser Stelle eingeschränkt und bedarf einer Weiterentwicklung hin zur Medienmündigkeit. Die inhaltliche Ebene der Medien und der Umgang mit dem, was Schüler*innen in den verschiedenen medialen Formaten vorfinden können, wird missachtet. Auch die folgende Forderung zeigt nicht, wie dieses Ziel erreicht werden soll, obwohl sie wichtige Implikationen für die schulische Bildung enthält;

„Wichtiges Ziel der Medienbildung ist die altersangemessene Fähigkeit, das wachsende Medienangebot kritisch zu reflektieren, daraus sinnvoll und bedürfnisbezogen auszuwählen und Medien sowohl für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit als auch für die individuelle Lebensgestaltung angemessen, kreativ und sozial verantwortlich zu nutzen“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 5).

Das Ziel steckt auch in der Forderung nach Medienmündigkeit. Die Frage danach, wie genau dieses Ziel erreicht werden soll, bleibt offen. Anzumerken ist, dass Angemessenheit keine Tugend ist, die der Mensch gut beherrscht.

Der KMK- Beschluss weist auch darauf hin, dass Schüler*innen „vor negativen Einflüssen und Wirkungen der Medien“ geschützt werden müssen (Kultusministerkonferenz 2012, S. 8). Die These der KMK besagt, dass medienkompetente Schüler*innen „Maßstäbe und Bewertungskriterien“ in Bezug auf Medien entwickeln und Medienbildung Lernende mit einem moralischen Kompass ausstattet (Kultusministerkonferenz 2012, S. 6). Zudem könnten sie mit eigenen „Handlungskompetenzen und Verhaltensstrategien“ medialen Formaten gegenüber begegnen. Weiterhin besagt der Beschluss, dass Medienbildung „zum Erwerb fachlicher und überfachlicher Kompetenzen“ beitrage und deshalb in alle Fächer miteinbezogen werden sollte (Kultusministerkonferenz 2012, S. 6). Schüler*innen, welche sich besonders medienkompetent zeigten, sollten bei der Leistungsbewertung positiv ins Gewicht fallen. Um eine gute Vermittlung mit anschließender Bewertung zu ermöglichen, solle auch bei der Lehrer*innenbildung angesetzt werden, so könnten auch im Unterricht „Medienerfahrungen“ der Schüler*innen zum Thema gemacht werden (Kultusministerkonferenz 2012, S. 7). Die KMK geht dabei davon aus, dass medienkompetente Lehrende, eine Garantie für medienkompetente Schüler*innen darstellen.

Nötig sei daher auch ein „Planungsrahmen für Schulentwicklung“, eine bestimmte „Ausstattung“ der Schulen mit entsprechendem „technischem Support“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 8). Die KMK fordert auch den freien Zugang zu „Bildungsmedien“ und eine Unterstützung von Schulen in Bezug auf „Datenschutz“ und „Urheberrecht“, was auch durch „außerschulische Kooperationspartner“ gewährleistet werden könne (Kultusministerkonferenz 2012, S. 8). Die „Zusammenarbeit mit den Eltern“ müsse zusätzlich gestärkt werden, wie auch „Evaluation und Qualitätssicherung“ gewährleistet werden (Kultusministerkonferenz 2012, S. 8–9). Die KMK versteht „Medienkompetenz“ dabei als weitere „Kulturtechnik“, die andere Techniken ergänze (Kultusministerkonferenz 2012, 4,9).

Die KMK-Erklärung von 2012 ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Dennoch verbleibt die These der KMK auf einer sehr basalen Ebene. Aus der Erklärung lässt sich Folgendes entnehmen: Wenn schulische Medienbildung betrieben wird, dann sind Schüler*innen medienkompetent. Mit und über Medien lernen, impliziert aber nicht unbedingt das Hinterfragen der medialen Inhalte. Die Forderungen nach Reflexion weisen schon auf eine Form von Medienmündigkeit hin, aber es sind keine konkreten Vorschläge vorhanden, die die Forderungen verwirklichen. Es sollen Rahmenbedingung und Handlungsanleitungen vermittelt werden, konkrete Umsetzungsvorschläge und inhaltliche Realisierungen werden nicht benannt, zudem gibt es keine direkte Aufforderung, die Kerncurricula dementsprechend zu ändern. Es bleibt bei einer Empfehlung. Die KMK benennt wichtige Schlagwörter, die in dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielen, aber erklärt nicht warum diese Bereiche, u.a. Identitätsbildung, Moral, Sozialisation, medial beeinflusst werden (vgl. Kultusministerkonferenz 2012, S. 5–6). Die Forderung der KMK, dass Medienerfahrungen der Schüler*innen miteinbezogen werden sollen, setzt voraus, dass sich die Lehrenden mit den beliebten Formaten der Schüler*innen auseinandersetzen. Das vorhandene Schulmaterial (Bücher, Filme, Computerprogramme) würde auch eine Aktualisierung auf heutige Standards und den Lebensweltbezug der Schüler*innen benötigen. Weiterhin bedürfte es einer Untersuchung, wie viele Schulen der Forderung, Medienentwicklungspläne einzuführen, nachgekommen sind, um dementsprechende Unterstützung zu leisten. Eine andere Frage ist, warum die KMK Medienkompetenz als technische Kompetenz darstellt, wenn sie gleichzeitig Medienkompetenz als Fähigkeit zu Reflexion charakterisiert? Zudem stellt Medienkompetenz in der Empfehlung eine weitere Kulturtechnik, so wie Lesen, Schreiben und Rechnen dar. Dem könnte entgegengehalten werden, dass nur, weil man lesen kann, dies nicht bedeutet, dass man das Gelesene auch interpretieren kann. Medienmündigkeit stellt aus diesem Grund nicht nur eine Kulturtechnik dar, sondern den Umgang mit einer Kulturtechnik in einer Weise, die eine basale Technik weit übersteigt. Sie erfordert das Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten und Vorstellungen, welche es kontinuierlich am pluralistischen Gesellschaftsdiskurs zu überprüfen gilt, um mögliche Fehlkonzepte zu erweitern oder gar zu erneuern.

2016 wurde eine aktualisierte Empfehlung von der Kultusministerkonferenz herausgegeben. Eine deutliche inhaltliche Veränderung ist nicht klar erkennbar, allerdings ersetzt das Wort „Digitalisierung“ nun das Wort „Medien“. Konkrete Handlungsvorschläge sind nicht eindeutig herausgearbeitet, die Ziele werden aber klarer und tiefergehend formuliert.

Claudia Bogedan, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz richtet sich folgendermaßen an die Leser*innen der „Strategie der Kultusministerkonferenz zum Thema „Bildung in der digitalen Welt“: „Kompetenzen für ein Leben in der digitalen Welt werden zur zentralen Voraussetzung für soziale Teilhabe, denn sie sind zwingend erforderlich für einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg. Das Lernen im Kontext der zunehmenden Digitalisierung und das kritische Reflektieren werden künftig integrale Bestandteile dieses Bildungsauftrages sein. Die Länder haben nichts weniger getan als den Bildungsauftrag zu erweitern“ (Kultusministerkonferenz 2016). In der KMK- Empfehlung wird nun nicht mehr von Medien, sondern von „digitalen Medien“ gesprochen. Weiterhin macht es den Eindruck, als bestünde die Forderung danach, das Schüler*innen nicht den Umgang mit dem Inhalt, den „digitale Medien“ vermitteln, erlernen sollen, sondern den Umgang mit diesen in Bezug auf Arbeitsprozesse (Kultusministerkonferenz 2016, S. 9). Schüler*innen sollen auf das Leben in der digitalen Welt vorbereitet werden und deshalb „mit und über digitale Medien lernen“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 10–11). Diese Forderung wurde aus der Empfehlung von 2012 übernommen und um das Wort „digital“ erweitert.

Eine Neuerung stellt die Integration digitaler Medien „als Teil der Fachcurricula“ dar (Kultusministerkonferenz 2016, S. 11). Aus diesem Grund sollten die Länder auch ihre „Bildungs – und Lehrpläne anpassen, da eine „sinnvolle Einbindung digitaler Lernumgebungen […] eine neue Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse [erfordert]“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 12). Die Verwendung des Wortes Kulturtechnik wird in dieser neueren Version expliziter ausgeführt; „kompetenter Umgang mit digitalen Medien“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 12). Die Vorteile der technischen Möglichkeiten werden hervorgehoben. Digitale Medien würden Schüler*innen zu mehr „Selbstständigkeit“ beim Erlernen von neuen Themen verhelfen und es kranken Schüler*innen ermöglichen, von zu Hause am Unterricht teilzunehmen (Kultusministerkonferenz 2016, S. 13). Eine grundlegende Verbesserungen der aktualisierten Version stellt die Forderung nach den zu erlernenden Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien dar; zum einen der Anspruch, „Mündigkeit“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 15) zu erlangen, um „gesellschaftliche Teilhabe“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 16) auszuüben und die „digitale Umgebung [zu] reflektieren“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 17). Die KMK stellt sogar konkrete Forderungen. Die Bundesländer „verpflichten sich allen Schüler*innen, die im Schuljahr 2018/2019 in die Grundschule oder Sekundarstufe I eingeschult werden“ bis zum Ende ihrer Schullaufbahn mit den geforderten Kompetenzen auszustatten (Kultusministerkonferenz 2016, S. 18). Insbesondere die folgenden drei Kompetenzen besitzen eine hohe Relevanz für diese Arbeit und unterstützen die Forderung nach Medienmündigkeit:

- „Wirkungen von Medien in der digitalen Welt (z. B. mediale Konstrukte, Stars, Idole, Computerspiele, mediale Gewaltdarstellungen) analysieren und konstruktiv damit umgehen“
- „Die Bedeutung von digitalen Medien für die politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung kennen und nutzen“
- „Potenziale der Digitalisierung im Sinne sozialer Integration und sozialer Teilhabe erkennen, analysieren und reflektieren“ (Kultusministerkonferenz 2016, S. 18)

Zu untersuchen wäre nun zum einen die Umsetzung der Forderungen in konkreter Hinsicht, aber vor allem die thematischen Implikationen für die Fachcurricula. Es gibt keine Patentlösung, allerdings könnten zumindest konkrete Handlungsansätze formuliert werden. Das setzt auch eine Medienmündigkeit der Lehrenden voraus. Die fehlende Medienbildung an Hochschulen und Universitäten, wenn auch von der KMK gefordert, stellt dabei eine große Hürde dar.

Die folgende Erhebung in dieser Arbeit, in Form von Schüler*innen- Interviews soll dazu einen Beitrag leisten und einen Einblick in die Praxis geben. Zuvor werden die Kerncurricula des Faches Politik-Wirtschaft genauer betrachtet.

2.3 Kerncurriculum Politik-Wirtschaft

In diesem Absatz werden kurz die Verweise auf Medienbildung in den Kerncurricula des Faches Politik-Wirtschaft aufgezeigt. Da die Schüler*innen-Interviews mit Schüler*innen stattgefunden haben, die ein niedersächsisches Gymnasium besuchen, werden nur die Kerncurricula für das Fach Politik-Wirtschaft für die Jahrgänge 8-10 und die gymnasiale Oberstufe verwendet. Einen Einzug in das Kerncurriculum Politik-Wirtschaft für das Gymnasium (Schuljahrgänge 8-10) hat der Begriff der Medienkompetenz in Bezug auf Mündigkeit bereits erhalten;

„Das Leitziel des mündigen Bürgers macht die Förderung von Medienkompetenz bei den Lernenden unabdingbar. Politik und Wirtschaft werden heute überwiegend medial vermittelt und erfordern einen reflektierten Umgang mit Medien als Voraussetzung für eine selbstbestimmte Partizipation am demokratischen Willensbildungsprozess und am Wirtschaftsgeschehen. Die Beschäftigung mit Medien, ihrer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingtheit, ihrer Organisation und Struktur, ihrer Informations-, Meinungsbildungs- und Kontrollfunktion sowie ihren Möglichkeiten zur Manipulation und Inszenierung sind konstitutive Bestandteile des Unterrichtsfaches Politik-Wirtschaft“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2015, S. 5–6)

Im Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe werden diese genannten Kompetenzen bereits vorausgesetzt. Thematisch finden sich Medien im 4-stündigen Prüfungsfach im Semester 11/1, in Form von folgenden Punkten:

- „11/1: Demokratie und sozialer Rechtsstaat: […] Der politische Willensbildungsprozess, beispielsweise bei einem Gesetz zur sozialen Sicherung, wird insbesondere von den Medien begleitet, vermittelt und beeinflusst“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2007, S. 14).
- „Der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess am Beispiel eines Gesetzes zur Sozialpolitik: Rolle und Funktion der Medien in der Demokratie (insbesondere beim Agenda-Setting) „ (Niedersächsisches Kultusministerium 2007, S. 14)

Besitzen die Jugendlichen, die in den Jahrgängen 8-10 geforderten Kompetenzen bezüglich Medien, sollten die Inhalte in Jahrgang 11 die Notwendigkeit für das Erlernen der Kompetenzen nochmals verdeutlichen. Das setzt ein analytisches Vorgehen in Bezug auf die Rolle der Medien und den politischen Willensbildungsprozess voraus. Der Schwerpunkt auf die Vermittlung in Jahrgang 8 bis 10 ist sinnvoll wegen des Alters der Schüler*innen, dennoch sollten die Kompetenzen fortlaufend in dem Kerncurriculum der Oberstufe verankert werden.

Die strukturellen Rahmenbedingungen sind folglich ein Schritt in die richtige Richtung, da auch die Bildungspolitik die Wichtigkeit des mündigen Umgangs mit medialen Formaten erkannt hat. Inwiefern eine praktische Umsetzung erfolgt, bleibt dagegen offen. Einen Einblick soll der empirische Teil dieser Arbeit ermöglichen. Da nicht nur die strukturellen Rahmenbedingungen in Bezug auf das Fach Politik-Wirtschaft und Medien betrachtet werden soll, wird im folgenden Kapitel das mediale Umfeld von Schüler*innen in Deutschland ausführlich erläutert.

3 Mediales Umfeld von Schüler*innen in Deutschland

Zunächst soll durch eine Analyse der Literatur zum medialen Umfeld von Schüler*innen der Forschungsstand erhoben werden. Die Analyse soll Anhaltspunkte zur Mediensozialisation und Mediennutzung ergeben. Es soll evaluiert werden, welche Möglichkeiten die ausgewählten medialen Formate Schüler*innen bieten und welche medialen Inhalte vermittelt werden. Welche Lebensentwürfe können die Jugendlichen aus den Formaten für sich beanspruchen und welche Lebensbereiche betreffen die medialen Auswirkungen, ob in positiver oder negativer Weise? Dieses Kapitel soll sowohl Chancen als auch Herausforderungen in Bezug auf die Identitätsbildung und -entwicklung der Jugendlichen herausarbeiten.

Wenn man das mediale Umfeld von Schüler*innen verstehen will, sind viele verschiede Bereiche zu bedenken. Welche Faktoren können als relevant im Umfeld der Schüler*innen identifiziert werden? Welche Themen sind für Jugendliche interessant und welche medialen Formate sind für Kinder und Jugendliche überhaupt attraktiv und warum? Neue Medien heben sich von den herkömmlichen Formaten wie Büchern, Radio und Fernsehen ab. Dies bedeutet nicht, dass diese Formate nicht mehr genutzt werden. Es besteht bei den neuen medialen Formaten die Möglichkeit, aus passiven Nutzer*innen aktive Gestalter*innen zu machen. Diese partizipieren am öffentlichen Diskurs z.B. durch die Herstellung von YouTube-Videos. Diese neue Form der Mitgestaltung und Kommunikationsmöglichkeit erweitert die bloße Rezeption. Der Stellenwert der Kommunikation sei deutlich gestiegen und befinde sich in der Rangordnung vor der Informationssuche und Unterhaltung (vgl. Besand 2014, S. 99). Die althergebrachten Formate hätten zudem gegenüber dem „Internet als Informationsmedium“ und Nachrichtenquelle, laut der Digital News Survey, bei den unter 35-jährigen deutlich verloren (Schmidt 2016, S. 10). Dies kann damit in Verbindung gebracht werden, dass im Internet ein sofortiges Abrufen von Informationen möglich ist und sich z.B. in sozialen Netzwerken über aktuelle Geschehnisse in Echtzeit ausgetauscht werden kann. Die Zeit der passiven Mediennutzung scheint zumindest für die jüngere Generation vorüber zu sein. Was dabei zu bedenken ist, führt Helga Theunert aus; denn „[…] das Entschlüsseln und Verstehen von medialen Bilderwelten ist zentral für Informationsverarbeitung und gesellschaftliche Teilhabe“ (Theunert 2006, S. 24). So würden „mediale Bilderwelten“ auch „lebensweltliche Erfahrungen, Vorstellungen, Deutungen, Gefühle und Stimmungen“ anbieten (Theunert 2006, S. 24). Diese „medialen Bilderwelten“ beschreiben bei Theunert die Bilderwelten des Fernsehens. Dies kann aber auch auf das Internet übertragen werden, da in Mediatheken, Datenbanken und Videoplattformen wie YouTube, diese Bilderwelten jederzeit für Schüler*innen abrufbar sind. Die Herausforderung, die sich aus der Vermittlung der genannten Felder ergibt, besteht darin, dass die „Komplexität Differenzierung fordert, z.B. von fiktionalen und informativen Gehalten oder von realen und virtuellen Räumen“ (Theunert 2006, S. 24). Dass solch eine Differenzierung von Jugendlichen vorgenommen wird, ist unter anderem die Verantwortung der politischen Bildung und sollte zum einen als Herausforderung, aber auch als Chance gesehen werden. Und zwar insofern, als dass Untersuchungen zur Mediensozialisation, die meist auf Grund einer negativen Hypothese ausgeführt werden, multiperspektivisch betrachtet werden. Dass es positive Effekte geben kann, wird meist kaum berücksichtigt. Es wird davon ausgegangen, dass Medien die Rezipierenden nur in negativer Weise beeinflussen können (vgl. Kübler 2010, S. 20). Deshalb soll in der folgenden empirischen Untersuchung, die Schülerperspektive besonders stark gemacht werden, um so Implikationen für die Politische Bildung zu schaffen.

Folglich werden in diesem zweiten Abschnitt die Mediensozialisation von Kindern und Jugendlichen und deren Mediennutzung genauer betrachtet. Ferner werden einige ausgewählte mediale Formate vorgestellt und kritisch analysiert, um Rückschlüsse auf die medial vermittelten Lebensentwürfe zu ziehen. Hierbei spielen vor allem die Identitätsbildung und die Instrumentalisierung medialer Formate eine große Rolle. Die aus der Forschung übernommenen Ergebnisse und eigenen Analysen medialer Formate dienen zudem als Ausgangspunkt für die darauffolgenden Schüler*innen-Interviews.

3.1 Mediensozialisation

Wird von Mediensozialisation gesprochen, dann wird das Aufwachsen in einer mediatisierten Welt beschrieben, bzw. die Sozialisation durch Medien. Diese sind zunächst nach Harry Pross in „primäre, sekundäre und tertiäre“ Medien zu klassifizieren, die zwischen „Sender“ und „Empfänger“ vermitteln (Pross 1972, 1972; zit. nach: Jäckel 2008, S. 60). In dieser Arbeit stehen die „tertiären Medien (Fernsehen, Neue Medien)“ im Vordergrund und die „primären (Gestik, Mimik etc.)“ und „sekundären (Rauchzeichen, Zeitungen etc.)“ eher im Hintergrund bzw. stellen nicht den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit dar (Pross 1972; zit. nach: Jäckel 2008, S. 60). Der Begriff „Medien“ kann in diesem Zusammenhang unterschiedlich besetzt sein, da je nach Elternhaus die Verwendung von unterschiedlichen medialen Formaten differiert. So werden in einem Haushalt nur Zeitungen, TV und Radio als Medien konsumiert und im anderen zählen das Handy/Smartphone und internetbasierte Formate zum alltäglichen Leben dazu. Ein rotes Tuch können für Eltern zum einen auch die sozialen Medien sein, während in anderen Haushalten Instagram/YouTube und Facebook auch von den Eltern genutzt werden und daher zum festen Bestandteil des familiären Lebens gehören. Für Ralf Vollbrecht und Claudia Wegener gelten Medien neben Eltern, Schule und Peergroup als zusätzliche „Sozialisationsinstanz“ (Vollbrecht und Wegener 2010, S. 9). Unter dem Begriff der Mediensozialisation fassen sie folgende Teilgebiete zusammen: „… Medienrezeption, die Aneignung von Medien im lebensweltlichen Kontext, der Gebrauch von Medien als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel, Verständigung über solche Themen und Inhalte, die in der jeweiligen Kultur primär über Medien vermittelt sind“ (Vollbrecht und Wegener 2010, S. 9). Daher lasse sich Mediensozialisation nicht von „allgemeiner“ Sozialisation trennen, da das „Aufwachsen und Leben mit Medien“ in den meisten Familien dazu gehöre (Vollbrecht und Wegener 2010, S. 9). Dagmar Hoffmann und Lothar Mikos bringen Vollbrecht und Wegener entgegen, dass dem „Postulat“ Medien als Sozialisationsinstanz keine „eingeführte Sozialisationstheorie entgegengebracht werden“ könne (Hoffmann und Mikos 2010, S. 8), sondern dass es an einem „komplexen zeitgemäßen Theoriemodell“ fehle (Hoffmann und Mikos 2010, S. 9). Dagmar Hoffmann merkt an, dass es keine langfristigen Studien über die Auswirkungen oder „Spätfolgen“ durch die Identifizierung mit bestimmten medialen Persönlichkeiten gebe oder ob Medienakteure Leitbildfunktionen übernehmen würden (Hoffmann 2010, S. 12). Diese Annahme lässt sich allerdings revidieren, denn laut einer Studie des IZI5 und BFE6 aus dem Jahr 2015 kann genau dies der Fall sein. Ein Drittel der Befragten 241 Menschen mit einer Essstörung geben an, dass die Model- Castingshow Germany’s Next Topmodel ausschlaggebend für die Entwicklung bzw. Verstärkung ihrer Krankheit gewesen sei (vgl. IZI/BFE 2015). Dieser Zusammenhang zeigt, dass Medienakteure in diesem Fall Heidi Klum oder die teilnehmenden Model das Körperbild der Rezipierenden immens beeinflusste. Und zwar in dem sie ein unerreichbares Ideal darstellen und durch Castingshows dieses Ideal zur Norm werden lassen. Jede/r, der/die diese Norm nicht erreicht erscheint als gesellschaftliches Mängelexemplar.

Die Relevanz der Mediensozialisation erhöht sich mit Beginn der sekundären Sozialisation. In dieser Sozialisationsphase, welche durch andere Sozialisationsagenten als die Eltern geprägt ist, vor allem durch Peers und Schule, bekämen Medien eine wichtigere Stellung im Leben der Jugendlichen (vgl. Spektrum 2000). Grund dafür sei die neue Form der „gesellschaftlichen Kommunikation“, welche medial basiert ist (Vollbrecht und Wegener 2010, S. 9). Medien jedweden Formats dienen dabei der Identifikation mit bestimmten Dingen und verbinden so die Peers miteinander (vgl. Kübler 2010, S. 24). Ein großer Anteil der Kommunikation finde über Messenger statt. Katharina Seckler interviewte in ihrer Umfrage Schüler*innen im Alter von 12 bis 15 Jahren (Gymnasium, IGS, Realschule Plus) und stellte die Wichtigkeit von medialer Kommunikation innerhalb der Schülerschaft heraus (Seckler 2015, S. 236). Zum einen gab es laut der Aussagen der Schüler*innen seit der dritten Klasse kaum Kinder, die kein Smartphone besaßen und alle Befragten nutzten WhatsApp als tägliches Kommunikationsmedium.

Dass das Smartphone ein Konvergenzmedium7 ist, wird deutlich, wenn man die Aussagen der Schüler*innen in Bezug auf die unterschiedliche Nutzung hin auswertet. So würden zwar wenige Lehrer*innen die Nutzung im Unterricht zu Recherchezwecken erlauben, jedoch würde dies nicht komplett ausgeschlossen. Einige Lehrer*innen ließen zur Freude der Schüler*innen die Nutzung der Smartphones in den Pausen zu. Die Handlungsweisen der Lehrer*innen unterschieden sich dabei je nach Alter. Jüngere Lehrkräfte benutzten ihr Smartphone in der Schule selbst, während ältere Lehrkräfte eine kategorische Ablehnung gegenüber Smartphones hegten.

Viele Schüler*innen bemängelten auch das fehlende Wissen von Erwachsenen bezüglich medialer Formate. Ihren Eltern verziehen sie dies eher als den Lehrkräften, da Eltern dafür sorgen müssten, dass ihre Kinder nicht abhängig würden. Die Lehrkräfte hingegen würden die Chancen, die z.B. Smartphones bieten, nicht wahrnehmen und somit ein neues Lehrmedium ablehnen. Viele Schüler*innen forderten in ihren Aussagen eine Auseinandersetzung der Lehrkräfte mit neuen Medien und deren Inhalten, mit denen sich die Schüler*innen beschäftigen würden (Seckler 2015, S. 242–244). Der Generationenkonflikt bezüglich der Nutzung und Verwendung medialer Formate bestärkt vor allem immer wieder den Konflikt über die generelle Nutzung von Medien durch Jugendliche. Dies verstärkt das Unverständnis darüber, welchen Einfluss Medien auf Jugendliche haben können, ob positiver oder negativer Art (vgl. Hartung 2013, S. 111). Für Hans-Dieter Kübler ist es eine allgemeingültige Annahme, dass Medien die Rezipierenden beeinflussen (vgl. Kübler 2010, S. 17). Auch er bezeichnet Medien als „elementare Sozialisationsagenten […], deren Perzeption und Aneignung […] fast nur noch von der kognitiven Entwicklung und Fähigkeiten der jungen Rezipienten“ abhänge, „Eltern“ üben daher „nur noch eine begrenzte Zugangskontrolle aus“ (Kübler 2010, S. 24). Formate wie YouTube gelten dabei als „neue Art der Vergemeinschaftung“ (Kübler 2010, S. 25). Kübler kritisiert nicht die aktive Mitgestaltung in den Medienformaten, allerdings die „unüberlegte offene Darstellung“, welche der „Selbstverwirklichung“ diene (Kübler 2010, S. 25).

Gerade weil sich die Medienaktivitäten der Schüler*innen der elterlichen Kontrolle entziehen, muss daran gearbeitet werden die genannten kognitiven Fähigkeiten der Jugendlichen soweit auszubilden, dass diese Fähigkeiten auch die kritische Reflexion der medialen Formate beinhalten. Nur so können sie zu medienmündigen Rezipient*innen ausgebildet werden.

Lothar Mikos gibt zu bedenken, dass es wichtig sei, den Zeitpunkt der anfänglichen Nutzung der jeweiligen Medien zu betrachten. Dieser sei ausschlaggebend dafür, wie die Menschen mit den Medien und deren Inhalten umgehen würden und wie die Nutzung die Vorstellung der Welt beeinflusse. Die Nutzer*innen würden sich die Welt durch bestimmte „Medienhandlungsmuster“ erschließen, welche abhängig von „Lebensstil, Geschlecht und sozialem Milieu“ seien (Mikos 2013, 42). Es stellt sich die Frage, inwiefern Kinder und Jugendliche sich im Medienverhalten von ihren Eltern entfernen oder sich diesem annähern. Wachsen Kinder mit einem laufenden Fernseher am Abendbrottisch auf, übernehmen sie dieses Medienhandlungsmuster vielleicht. Dennoch können die Inhalte der familieninternen Tageszeitung und den von den Jugendlichen auserkorenen medialen Formaten divergieren, etwa aufgrund des Altersunterschiedes zwischen Eltern und Kindern und den unterschiedlichen Interessenlagen. Dies bestätigt auch Schweiger; Menschen ließen sich meist am stärksten von ihrem direkten sozialen Umfeld beeinflussen (vgl. Schweiger 2010, S. 63). Der Einfluss von Medien sei zwar vorhanden, dennoch betrieben fast alle Menschen „selektive Mediennutzung“ (Schweiger 2010, S. 63). Dies bedeutet, dass sie meist Medien nutzten, die ihre Meinung bestätigen (vgl. Maurer 2010, S. 65). Davon auszugehen, dass Jugendliche alles glauben, was ihnen die medialen Formate bieten, pauschalisiert und entspricht nicht den Gegebenheiten. Sie vertrauen ihren Freunden und ihrer Peer-Group. Die These könnte lauten, dass die Jugendlichen sich für bestimmte mediale Formate und deren Inhalte interessieren, um sich einer bestimmten Peer-Group zugehörig zu fühlen, oder der Empfehlung eines/einer Freund*in nachzukommen (vgl. Hoffmann und Mikos 2010, vgl. 7). Wenn der Medienkonsum von Jugendlichen betrachtet wird, gehen Forscher*innen zunächst vom Individuum aus, um eine Pauschalisierung der Kohorte auszuschließen. Dieser Ansatz ist nachvollziehbar. Dennoch sollte bedacht werden, dass bestimmte Serien im Fernsehen oder YouTube/ Instagram-Kanäle vielleicht nur geschaut bzw. abonniert werden, um nicht in die Außenseiterposition zu geraten. Gruppenzwang und der Druck, mitreden zu können, spielen hier eine große Rolle. Gruppendynamische Prozesse sind demnach übertragbar auf Medienkonsum von Jugendlichen. In der KIM-Studie 2014 fanden Feierabend et. al heraus, dass 62% der befragten Haupterzieher glaubten, dass ihre Kinder (6-13 Jahre) „ohne Handy/Smartphone zum Außenseiter“ würden (Feierabend et al. 2014, S. 67). Wenn die Angst der Ausgrenzung ihrer Kinder schon in den Gedanken der Eltern verankert ist, kann sich dies womöglich auch auf ihre Kinder übertragen. Die Logik lautet daher; nutze ich keine medialen Formate oder besitze kein Smartphone, Laptop etc., werde ich zum Außenseiter/zur Außenseiterin. Diese gemeinsame Angst potenziert sich und mündet darin, dass die Nutzung von Medien und der Konsum verschiedener Formate zu einem gesellschaftlichen Gut wird, das nicht abgelehnt werden darf.

Die Mediensoziologen Dagmar Hoffmann und Lothar Mikos schreiben Medien folgende Alltagseigenschaften zu: „parasozial, sozial-integrativ, sinngebend, wertschöpfend und identitätsstiftend“ (Hoffmann und Mikos 2010, S. 7). Zudem teilen sie die Annahme von Hans-Dieter Kübler, dass Medien „Einfluss auf die Lebenswelt und die Persönlichkeit“ nehmen (Kübler 2010, S. 17). Sie gehen einen Schritt weiter und sagen, dass „Menschen diese Einflussgröße bewusst in ihrer Lebenswelt“ zulassen würden (Hoffmann und Mikos 2010, S. 7). Die Kritik der Soziologie, die Medien nicht als echte Sozialisationsagenten anerkennt, liege in der diffusen Konstruktion und fehlenden Fähigkeit einen „authentischen“ Primärkontakt darstellen zu können (Hoffmann 2010, S. 15–16). Zugleich könnten Medien dem „Sozialisanden“ nichts zurückspiegeln (Hoffmann 2010, S. 16). Diese Kritik kann nach heutigem Erkenntnisstand angefochten werden. Durch viele Formate wie Facebook, Instagram und YouTube ist ein direkter Austausch möglich. Durch die LIVE-Funktion bei Facebook ist sogar eine Übertragung in Echtzeit eines Videos möglich, welches live von den Zuschauer*innen kommentiert werden kann. Auch können in der Kommentarfunktion unter Fotos und Videos der genannten Medien Reaktionen auf den Post8 veröffentlicht werden, auf die die Urheber*innen des Bildes wiederum antworten können. Das Medium Facebook selbst reagiert natürlich nicht auf den/die Nutzer*in, allerdings besteht die Möglichkeit, der Spiegelung einer Reaktion in der Interaktion zwischen Urheber*in und Nutzer*in. Geht es aber um Kritik oder Anmerkungen, die die Plattform betreffen, besteht auch die Möglichkeit mit dem Anbieter selbst in Kontakt zu treten. Neue internetbasierte Formate werden immer interaktiver durch neue Funktionen. Auf Grund der Medienkonvergenz kann aus rezeptiven Medien auch ein interaktives Medium werden, z.B. durch ein Video einer Fernsehsendung, welches über YouTube auf einem Smartphone abgerufen wird und so durch Nutzer*innen kommentiert oder diskutiert werden kann. Auf sekundärer Ebene tragen auch rezeptive Medien zu Interaktion bei, z.B. wenn die Rezipient*innen über eine Sendung reden. Das rezeptive Medium regt hier zu primärer Kommunikation zwischen Menschen an. Auch Hoffman merkt an, dass dies als „direkte Wirkung“ gefasst werden könne (Hoffmann 2010, S. 16).

Eine Intensivierung von persönlichen Einstellungen oder die Bestätigung derer lässt sich also in allen Lebensbereichen durch Medienkonsum hervorrufen. Dies muss nicht nur auf politischer Ebene erfolgen, sondern betrifft auch Lebensbereiche wie körperliche Selbstwahrnehmung, Sexualität bis hin zu Fankultur. Der Zugang zu medialen Formaten mit hochkulturellem oder kritisch analysierten, politischen Themen allein führt noch nicht zu einer Nutzung durch Schüler*innen. Betrachtet man das Konstrukt der selektiven Mediennutzung, erscheint folgende These logisch; neigen sie dazu sich für diese Themen zu interessieren, ist die Wahrscheinlichkeit der Nutzung sehr hoch, liegen ihre Präferenzen in anderen Bereichen, ist die Wahrscheinlichkeit eher niedrig. Das heißt nicht, dass man als Lehrende diesem Phänomen entgegenwirken sollte. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, zu kritischem Analysieren, zu Reflexion und pluralistischem Denken anzuleiten, sodass Schüler*innen eigenständig Handlungskompetenzen in Bezug auf mediale Formate entwickeln. Auch Anja Hartung hat in ihrer Studie „Schule und Medien“ 2010 herausgefunden, dass Schüler*innen keine technischen Fähigkeiten vermitteltet bekommen möchten, da sie diese meist beherrschten, sondern auch eine „Reflexion, in der neben Risiken auch Chancen und Möglichkeiten zur Sprache kommen“ einforderten (Hartung 2013, S. 115).

Vollbrecht und Wagner verstehen „Medienwirkung“ nicht als eine einem Kometeneinschlag ähnliche Kraft, die ihre Rezipient*innen ohne Vorwarnung mit voller Wucht trifft, sondern eher als ein Teil der Lebenswelt, in der es eher darauf aufkommt, diese Wirkung zu interpretieren und zu reflektieren. Der Schwerpunkt liegt hierbei eher auf den Lernprozessen, welche alle (medien) -sozialisierten Kinder durchlaufen (vgl. Vollbrecht und Wegener 2010, S. 10). Ob diese Lernprozesse zu einem Lernerfolg führen, kann nicht garantiert werden, da auch in der Sozialisation in anderen Bereichen viele Faktoren zum Tragen kommen.

Als Beispiel hierfür dient die bereits erwähnte LfM- Studie 2011, demnach falle es besonders Schüler*innen mit niedriger formaler Bildung schwer Werbung, auch als solche zu erkennen. Es stimmten auch 70% der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Aussage zu, dass man den medialen Inhalten „nicht trauen“ könne (Schmidt et al. 2011, S. 278). Dies lässt auf eine kritische Sichtweise bezüglich Medien schließen und stellt zugleich ein Paradoxon her. Wenn die Befragten davon ausgehen, dass man den Inhalten medialer Formate nicht trauen kann, warum wird Werbung innerhalb dieses Kontext dann häufig nicht erkannt? Zwar muss der formale Bildungsgrad der Rezipient*innen miteinbezogen werden, dennoch ist zu erkennen, dass niemand von der mangelnden Reflexionsfähigkeit ausgenommen ist. So kann z.B. Werbung in YouTube-Tutorials oder auf Instagram-Accounts als nett gemeinter Ratschlag verstanden werden und nicht als versteckte Werbebotschaft.

Die hohe Priorität, die die Mediennutzung für Jugendliche hat, führt zu einem Generationen- und Erziehungskonflikt. An dieser Stelle muss angesetzt werden und eine Einigung gefunden werden, um Potenziale auszuschöpfen und Gefahren einzudämmen. Dies ist nur durch den Austausch zwischen Schüler*innen und Lehrkräften und auch den Eltern möglich. Eine pauschale Abwertung der Mediennutzung kann nicht zum Ziel der Medienmündigkeit führen. Wichtig ist, dabei die Lerner*innenperspektive genau zu evaluieren, um so davonausgehend Unterricht zu planen.

3.2 Mediennutzung

Der folgende Abschnitt gibt eine kurze Übersicht darüber, welche Medien und medialen Formate von Jugendlichen genutzt werden. Außerdem sollen beliebte Formate identifiziert werden, um eine Eingrenzung zu schaffen, welche die Schwerpunkte dieser Arbeit begründet. Dies dient als Ausgangspunkt, um von der Art der medialen Formate auf die Interessen der Jugendlichen zu schließen. Eine weitere Erklärung für die aktive oder passive Nutzung kann an dieser Stelle auch geleistet werden.

Die folgenden Daten stammen aus der JIM-Studie 2016 und der Shell-Jugendstudie 2015.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Gerätebesitz Jugendlicher 2016

Wie in der Grafik der JIM-Studie 2016 des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest zu erkennen ist, besitzt fast jeder Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren ein Handy bzw. Smartphone. 95% der Befragten verfügen über ein Smartphone mit Internetzugang. Mit steigendem Alter befinden sich auch Laptop/Computer und Fernseher in den Zimmern der Mädchen und Jungen. Es wurde auch festgestellt, dass es in Bezug auf die unterschiedlichen Bildungsstände der Befragten kaum Unterschiede in Hinblick auf Medienbesitz gebe (vgl. Feierabend et al. 2016, S. 6). Die Beschäftigung mit Medien in der Freizeit dominiert. Zwar würden die Befragten viele Angebote als Nebenbeschäftigung wahrnehmen, allerdings dienen sie als fester Bestandteil des Alltags der Jugendlichen (vgl. Feierabend et al. 2016, S. 11–12). Die Shell-Studie 2015 klassifiziert 27% der befragten 12-25-jährigen als „Medienfreaks“, da sie ihre Freizeit vermehrt mit medialen Formaten verbringen. Es seien alle „Herkunftsschichten“ vertreten, männliche Teilnehmer seien dagegen deutlich stärker präsent als die befragten Mädchen und Frauen (Leven und Schneekloth 2015, S. 117). Am häufigsten genutzt würde das Smartphone und das Internet, an dritter Stelle stehe das Musikhören (Feierabend et al. 2016, S. 11). Die Befragten favorisieren im Internet die Videoplattform YouTube (64 %), den Nachrichtendienst WhatsApp (41%), das soziale Netzwerk Facebook (26%) und den Foto-und Videodienstleister Instagram (23%) (Feierabend et al. 2016, S. 29). 86% der Befragten nutzen YouTube mehrmals in der Woche u.a. auf Grund der Themenvielfalt und des unzensierten zur Verfügung gestellten Materials (Feierabend et al. 2016, S. 38). Lineares Fernsehen stellt weiterhin, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne, einen Bestandteil der Freizeitgestaltung von 12 bis 19-jährigen dar, wenn auch nur Teile der Sendungen angeschaut werden, verbreitet durch unterschiedliche Internetplattformen (z.B. YouTube-Kanäle der Sender). Der Inhalt ist gleichbleibend (vgl. Feierabend et al. 2016, S. 34). Der favorisierte Fernsehsender der Befragten ist der Privatsender Pro7 (45%) (Feierabend et al. 2016, S. 35). In den Mediatheken der Sender schauen Jugendliche am liebsten Serien (50% gesamt, Anteil Jungen und Mädchen ausgeglichen), direkt gefolgt von Castingshows (23% gesamt; 33% Mädchen und 14% Jungen). Insbesondere bei Castingshows ist der Geschlechterunterschied auffällig, wie bei den Sendungen; Germany’s Next Top Model (Model Casting/Coachingsendung) und Voice of Germany (Musik-Castingshow) (Feierabend et al. 2016, S. 37).

Auf Grund der Häufigkeit ihrer Nutzung wird diese Arbeit einen Schwerpunkt auf die genannten Formate legen. Eine genauere Analyse wird daher in Bezug auf die Inhalte von sozialen Netzwerken Facebook, Instagram, Snapchat und YouTube vorgenommen. Da TV-Formate nicht so beliebt wie Internetformate sind, bzw. über das Internet abgerufen werden können, sollen diese nur in reduzierter Form diskutiert werden. Als Beispiel hierfür dient das Format Castingshows.

Die folgenden Inhalte schauen sich die Befragten auf YouTube an: (Feierabend et al. 2016, S. 39)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: YouTube Nutzung 2016

Jugendliche informieren sich im Internet, laut der JIM-Studie 2016, meist über die Suchmaschine Google. Viele nutzten auch die Möglichkeit, sich Erklärvideos/Tutorials auf YouTube anzuschauen, oder erkundeten sich in sozialen Netzwerken (vgl. Feierabend et al. 2016, S. 40). In der Shell-Studie 2015 fanden die Autoren heraus, dass bei der Internetnutzung und den Wegen, wie auf das Internet zugegriffen werde, signifikante Unterschiede deutlich würden im Gegensatz zum Medienbesitz. Dieser begründe sich im Bildungshintergrund, des sozialen Status und des Geschlechts. So dominiere die Laptopnutzung an Gymnasien (68%) im Gegensatz zu Haupt- und Realschulen (50%). Und ein Smartphone richte sich nach einem höheren sozialen Status (86%) und niedrigerem sozialen Status (71%) (Leven und Schneekloth 2015, S. 125).

Dass, das Internet für Jugendliche inzwischen interessanter ist als lineares Fernsehen, Zeitungen oder Radio, liegt zum einem am Konvergenzcharakter der Smartphones und Laptops. Zum anderen aber auch am „soziale(n) Charakter des Internets als Plattform zur Kommunikation“, was ein weiterer Faktor für die hohe Nutzungsrate und Attraktivität sei, da Kollaboration und „Problemlösung“ im Vordergrund stünden und so auf die Bedürfnisse Heranwachsender eingegangen werde (Leven und Schneekloth 2015, S. 127; Lai und Turban 2008, S. 387).

Inwiefern diese Bedürfnisse durch mediale Formate bedient werden und wie diese durch Medienakteure ausgenutzt werden können, soll in den nächsten Abschnitten erörtert werden, um die Wirkung der Formate auf die Identitätsbildung junger Menschen zu klären.

3.3 Mediale Formate und die Vermittlung ihrer Lebensentwürfe

Im Folgenden sollen die Formate vorgestellt werden, die sich einer besonders hohen Nutzungsrate erfreuen. Dazu gehören YouTube, Facebook, Instagram, Snapchat und das Fernsehformat Castingshows. Diese werden in Hinblick auf ihre mögliche Rezeption analysiert. Nicht nur die Inhalte und Produzent*innen der Videos sollen betrachtet werden, sondern auch die Reaktionen z.B. in Form von Kommentaren unter den Videos. Ziel dieses Abschnitts soll ein praktischer und realer Einblick in die medialen Formate, und auch in die an den Formaten ausgeübte Kritik, sein. Ferner können die hier getätigten Ergebnisse mit den folgenden Schüler*innen-Interviews verglichen werden. Zur Analyse dienen außerdem Erkenntnisse aus der Medien- und Jugendforschung.

YouTube

Wie aus dem vorherigen Abschnitt hervorgeht, ist die Videoplattform YouTube ein beliebtes Format für 12 bis 19-jährige, um sich über verschiedene Themen zu informieren. Zu den besonders beliebten Videoarten gehören Tutorials9, VLOGs10 und Videos von YouTuber*innen mit eigenem Kanal.

YouTube wurde im Jahr 2005 in Kalifornien (USA) gegründet und gehört seit 2006 zu dem Unternehmen Google. Die Nutzer*innen können sich Videos anschauen oder hochladen. Die Kanäle werden sowohl kommerziell als auch privat genutzt. Voraussetzung für die Nutzung der Dienste ist ein Google-Konto. Die Videos können mit einem Daumen nach oben bzw. nach untern bewertet und kommentiert werden (Taskin 2015).

Im Folgenden werden einige Videos vorgestellt, um die Bandbreite des Formats zu verdeutlichen, thematische Schwerpunkte des Formats und deren Beliebtheit zu vorzustellen. Es folgen Fallbeispiele, die einen realen Einblick in das Nutzer*innenverhalten geben..

YouTube Kanal: BibisBeautyPalace, Titel des Videos: Die 5 KRANKESTEN Gegenstände, die NIEMAND kennt! (BibisBeautyPalace 2017). Aufrufe: 4.014.885

Inhalt: Julienco11 (Bibis Freund) zeigt Bibi Gegenstände und sie muss erraten, was man diesen Gegenständen macht.

Gegenstände: Schlafkissen, Nasensauger für Säuglinge, Urinella, Klobeleuchtung, Fußschaukel

Julian hat seiner Freundin Bibi fünf Gegenstände mitgebracht und sie muss nun die Funktion dieser erraten. Es handelt sich dabei um Gegenstände, die ihrer Meinung nach niemand kennt und sie in witziger Art und Weise den Follower*innen nahebringen möchten. Da Julian weiß, worum es sich bei den Gegenständen handelt, kann er die Zeit bestimmen, die Bibi zum erraten hat. Beide animieren die Abonnent*innen in den Kommentaren über die Funktion der Gegenstände zu diskutieren. Die fünf Gegenstände, um die es geht, sind teilweise ausgefallen und teilweise nicht ganz unbekannt. Der erste Gegenstand ist ein Schlafkissen, welches dafür gemacht ist, um gemütlich im Sitzen, mit dem Kopf auf einem Tisch liegend, zu schlafen. Der zweite Gegenstand ist zumindest den Menschen bekannt, die mit Säuglingen in Berührung gekommen sind, da es sich um einen Nasensauger für Säuglinge handelt. Julian und Bibi lassen diesen Gegenstand dafür eher als Absurdität erscheinen, in dem sie darauf hinweisen, dass es „widerlich“ sei, die Babys von ihrem Nasenschleim zu befreien. Als drittes soll Bibi die Funktion einer Urinella erraten, einem Hilfsmittel für Frauen, um im Stehen urinieren zu können. Auch dieser Gegenstand wird von Julian und Bibi abgewertet und als sonderlich betitelt. Das nächste Objekt wird von Julian mit dem Hinweis angekündigt, dass er dies auch gern besitzen möchte. Es handelt sich dabei um eine Klobeleuchtung, die den Kloinnenraum bunt beleuchtet. Zuletzt wird eine Fußschaukel vorgestellt, die unter den Schreibtisch gehängt werden kann, um dort die Füße bequem zu platzieren. Auch davon sind die beiden begeistert.

Dieses Video unterhält die Zuschauer*innen. Mit ihrer forschen und oft überzeichneten Art macht Bibi den Beitrag zu einem Event. Würde nur Julian die fünf Gegenstände vorstellen, hätte das Video mit der simplen Idee unbekannte Gegenstände zu erraten, nicht den gleichen Effekt. Das laute Lachen, Kreischen und die ungläubige Mimik der beiden Protagonist*innen wirken in intensiver Weise auf die meist jungen Zuschauer*innen. Diese diskutieren in den Kommentaren und bestätigen häufig die Meinung der YouTuber*innen. Sowohl die Urinella als auch der Nasensauger für Säuglinge werden durch Bibi und Julian als absonderliche Gerätschaften dargestellt. Dass diese keine Alltagsgegenstände darstellen, denen die Jugendlichen ständig begegnen, scheint offensichtlich. Dennoch wird ihnen durch die beiden YouTuber*innen suggeriert, dass Neues und Ungewöhnliches eklig sei. Dass diese Meinung durch die Zuschauer*innen fast ausschließlich in den Kommentaren bestätigt wird, zeigt das große Ausmaß der Einflussnahme auf die Abonnent*innen und deren fehlende kritische Sichtweise. Und so wird in diesem Video ein notwendiges Hilfsmittel in der Säuglingspflege verfremdet.

Das vorangegangene Video stellt eher ein Unterhaltungsvideo dar, wohingegen das nächste Video die emotionale Ebene der Zuschauer*innen behandelt.

Titel des Videos: ICH KANN NICHT MEHR L alles ist scheiße… (BibisBeautyPalace 2015). Aufrufe: 2.651.454

Inhalt: Bibi möchte den Abonnent*innen erklären, was sie machen können, wenn sie traurig sind und sich in einer depressiven Phase befinden. Sie möchte, laut ihrer Aussage, die Menschen dazu bringen, öfter an das Positive zu denken. Am Anfang des Videos weist sie darauf hin, dass dies ein „ernsteres“ Video sei.

Bibi erzählt von ihren eigenen Erfahrungen, wie sie in der Schule gemobbt wurde, weil sie sich in der siebten und achten Klasse für die Schule interessierte und gute Noten hatte. Mitschüler*innen hätten sie gemobbt und geschlagen. Sie wolle ihre Geschichte erzählen, da sie glaubt, dass sich viele junge Menschen mit anderen vergleichen würden und daher davon ausgingen, anderen gehe es immer gut. Anschließend erzählt sie, wie sie sich gefühlt hat und wie sie mit ihrem Problem umgegangen sei. Sie habe sich zurückgezogen, im Bett verkrochen und geweint. Auf der anderen Seite wollte sie sich von anderen Menschen nicht negativ beeinflussen lassen und hat das Problem zunächst ignoriert. Dann habe sie sich an ihre Lehrer*innen und ihre Familie gewandt, die ihr geholfen hätten, gegen das Mobbing vorzugehen. Anschließend gibt die YouTuberin Tipps, wie ihre Abonnent*innen mit ihren Problemen umgehen könnten. Des Weiteren weist sie darauf hin, sich nicht zu vergleichen, denn auch fröhliche Menschen hätten Probleme. Durch den Kontakt mit depressiven Menschen, sei ihr bewusstgeworden, wie wichtig die Themen Depressionen und Mobbing seien und daher wolle sie anderen Betroffenen helfen.

Man solle zunächst mit der Familie und Freunden oder Personen, denen man vertraut, über die Probleme reden. An Schulen gäbe es zudem auch Vertrauenslehrer*innen mit denen man reden könne. Sie weist zusätzlich auf kostenlose Beratungsangebote hin, wie die „NummerGegenKummer“12 (Nummer gegen Kummer e.V. 2017) und auch auf professionelle Hilfe wie Psycholog*innen. Man solle sich nicht schämen, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bibi beteuert auch, dass Selbstmitleid keine Lösung sei und man Stärke zeigen müsse, um sich von dem Urteil anderer Menschen loszumachen. Man solle „sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen“ und „nicht nur über das Negative, sondern auch über das Positive im Leben nachdenken“. Verstärkt werden diese Botschaften der YouTuberin durch Texteinblendungen, die ihre Aussagen hervorheben. Letztendlich könne man sich nur helfen, indem man „über seinen Schatten springe“ und stark sei. Zum Schluss fordert Bibi die Zuschauer*innen auf, von ihren Erfahrungen in den Kommentaren zu berichten.

In der Kommentarfunktion des Videos finden sich unter anderem folgende Kommentare13. Diese wurden im Original übernommen und anonymisiert, sie zeigen nur einen Ausschnitt aller Kommentare, allerdings wurden sie aufeinanderfolgend unter das Video geschrieben:

1 .) „Ich bin jetzt 13 und habe seit einem Jahr Kreislaufprobleme und es ist schrecklich, wirklich schrecklich... obwohl es sich nicht so anhört ...ich habe schon Millionen Sachen ausprobiert und was weiß ich aber ich habe immernoch Probleme damit und es ist schlimm... ich kann nichts machen ausser bei den Gedanken zu sein "Bitte nicht schwindelig werde" und das ist so schlimm auch wenn es sich nicht danach anhört mir geht es einfach die ganze zeit dreckig ich habe zu nichts Lust weil ich mir denke das ich gleich in Ohnmacht Falle.. Und das ist wirklich schlimm.. Meine Mutter meint es ist kopfsache aber ich versuche ja nicjt darüber nachzudenken aber das ist schwer.. sehr schwer... ritzen oder ähnliches tue ich mich nicht und ich will es auch nicht aber ich bin manchmal deswegen echt down und niemand denn ich kenne versteht was ich meine 😟 ... ich bete wirklich jeden abend dafür das dieser Teufels Kreis mich endlich in ruhe lässt..“
2.) „Liebe ***, ich bin 11 Jahre und hatte auch mal ähnliche Probleme. Ich bin mal kolabiert und dieses Erlebnis hat mich irgendwie etwas schockiert... ich hab mir nichts mehr dabei gedacht aber dann hatte ich auch immer wieder schwindelanfälle und hatte einfach nur Angst das das Kolabieren nochmal kommt. Mittlerweile bin ich selber rausgekommen zwar noch nicht ganz aber einen Tipp an dich: Rede mit einer Person der du vertraust. Das hilft! ❤ wenn du ein bisschen mehr wissen möchtest wie ich damit unmgegangen bin, schreib einfach zurück ❤ ich hoffe das du da bald wieder rauskommst! 💘 Du schaffst das 💪 ❤ LG deine ***
3.) ich weiß wie scheiße das ist, ich habe das auch, aber nicht so schlimm. Ich habe mich wegen einem anderen Problem schon mal geritzt, aber bitte mach das nicht!!! Das ist so dumm!!! Es bringt überhaupt gar nichts !! Geh noch mal zu deiner Mutter und sag ihr noch mal genau, was dir auf dem Herzen liegt ! 
4.) ich kenne das ! ist ein scheiß gefühl ! meistens ist das psychisch udn wegen stress oder weil du einfach etwas tust was du gar nicht wirklich willst udn du stehst unter druck von Eltern das du das machen musst ! da gibt es viele möglichkeiten ! Ganz ganz viele haben sowas ! geh mal zu einem Psychologen , das tun sehr viele . dort kannst du vielleicht lernen was das ist und warum du das hast . Außerdem kannst du aber auch dinge machen die dich entspannen . z.b. joga oder meditation oder sowas . Hier bei youtube kannst du meditationen zur entspannung finden . 
5.) (Antwort auf Nr.4) *** bin Gott sei dank von Soizitgedanken weg gekommen, dank einer Lehrerin an meiner Schule, mit der ich sehr gut vertraut bin. Wir sind quasi Freunde. Aber danke, für deine Tipps. Lieb von dir ! :) 
6.) Ich dachte ich wäre der einzige, der sowas hätte.. Hat sich leider immer noch kein Stück gebessert und hab totale Angst in die Schule weil mir da einfach so unfassbar schwindelig wird. 
4.) @ ***@*** aber auch alle anderen , wenn ihr wollt könne wir auf Facebook schreiben . Ich bin glaub schon ne ecke älter wie ihr , vielleicht kann man sich gegenseitig tips geben .Ich könnte aber auch eine Gruppe erstellen wenn ihr wollt wo wir alle rein gehen . Ich bin auch in der Schulzeit bzw. Ausbildungszeit krank geworden durch stress usw. lange hat nichts geholfen bis ich eine Lösung gefunden habe die mich zu mindest weit nach vorne gebracht hat . schreibt mir doch beide pn , so lernt ihr euch auch kennen und könnt euch gegenseitig beraten . 
7.) Google mal: posturales tachykardiesyndrom... ich hab diese Probleme ebenfalls.. 
8.) *** Ich kenn das. Hab auch so eine Kopfsache.. 😞 
9.) *** du arme, LG 😘 

Was auffällt ist, dass die Benutzer*innen sehr offen mit ihrer Privatsphäre umgehen. Sie schreiben ihren Namen, geben ihr Geschlecht preis und häufig auch ihr Alter. Sie erzählen persönliche Geschichten und eröffnen einen Einblick in ihre suizidalen und selbstverletzenden Gedanken etc. Sie sprechen offen über ihre Probleme. Was ist der Ausgangspunkt dieser Diskussion? Ein Video einer Youtuberin, die über Mobbing berichtet, und ihre Unterstützung anbietet. Die meisten Kommentare sind von jüngeren Mädchen, die Hilfe suchen oder den Hilfesuchenden Beistand leisten. Die meisten Kommentare sind positiv und bieten Hilfe an wie man in den Kommentaren von Nr.7 bis Nr.9 erkennen kann. Die aufgeführten Kommentare folgen dem Aufruf von Bibi, eigene Erfahrungen zu schildern, wenden sich aber nicht direkt an sie. Es entsteht eine Unterhaltung zwischen den Kommentierenden.

Nr.1 ist ein 13-jähriges Mädchen, das nach eigenen Angaben mit ihren Kreislaufproblemen zu kämpfen hat. Aus ihrem Kommentar lässt sich erahnen, dass sie bereits mit ihrer Mutter über ihr Problem gesprochen hat. Dennoch fühlt sie sich nicht ernst genommen, da sie beteuert, dass es ihr wirklich schlecht gehe und ihre Mutter sage, dass es eine „Kopfsache“ sei. Bibis Aufforderung erreicht also die Öffnung eines 13-jährigen Mädchens auf einem Videoportal, das für alle frei zugänglich ist. Das scheint zunächst gefährlich und sollte auch kritisch gesehen werden. Dennoch muss der Entschluss des Mädchens auch in den größeren Kontext eingeordnet werden. Warum reicht es dem Mädchen nicht aus mit seiner Mutter zu reden? Kann es sich nicht an seine Freund*innen oder Lehrer*innen wenden? Vielleicht ist es auch der Geltungsdrang des Mädchens. Der Grund ist wahrscheinlich ein Zusammenspiel aus den verschiedenen Faktoren. Alexandra Klein merkt an, dass viele Jugendliche, besonders wenn es um die Themen Sexualität und emotionale Entwicklung gehe, das Elternhaus und die Schule als „ungeeignet“ empfinden, um in diesem Kontext als beratende Instanz hinzugezogen zu werden. Sie gibt zu bedenken, dass dieses Potenzial medialen Angeboten zugesprochen wird, wie in diesem Fall (Klein 2014, S. 61).

[...]


1 In dieser Arbeit werden die Wörter Kanal und Channel als Synonyme verwendet.

2 Informations- und Kommunikationstechnik

3 Kurz vor Abgabe dieser Masterarbeit wurde bekannt, dass das Investitionspaket der Bundesbildungsministerin Johanna Wanka eventuell nicht umgesetzt wird und eine bereits veröffentlichte Erklärung der Kultusministerkonferenz zur Umsetzung des Digitalpaketes zurückgenommen werden muss. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich die CDU-Politikerin nicht mehr öffentlich geäußert (vgl. Munzinger 2017).

4 Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen

5 Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen

6 Bundesfachverband Essstörungen

7 „Unter Medienkonvergenz versteht man einen […] Prozess oder Zustand, der die Verschmelzung verschiedener Medien bzw. Kommunikationskanäle auf der technischen, der inhaltlichen Ebene und der Nutzungsebene beschreibt“ (Koschnick 2010, S. 1). Demnach ist das Smartphone ein Konvergenzmedium, da Schüler*innen mit den Smartphone über Messenger-Dienste kommunizieren, Videos angucken, Fernsehen gucken und recherchieren etc.

8 Ein Post ist ein Beitrag in einem sozialen Netzwerk. Das Wort stammt aus dem Englischen; „to post something“ bedeutet einen Beitrag verfassen.

9 In einem Tutorial geben die Macher*innen des Videos Tipps oder Anleitungen zu Themen wie: Make-Up, Frisuren oder aber auch zu ganz anderen Themengebieten. Hauptsächliches Ziel ist es, den Rezipient*innen etwas beizubringen.

10 Ein VLOG ist ein Videotagebuch im Internet und setzt sich aus den Wörtern Video und Blog zusammen.

11 Julienco (Julian Claßen) ist ein deutscher YouTuber/Video Blogger. Er ist der Freund der deutschen YouTuberin BibisBeautyPalace (Bianca Heinicke).

12 https://www.nummergegenkummer.de/

13 Die Namen der Benutzer*innen wurden durch *** ersetzt. Rechtschreibfehler wurden im Original übernommen.

Ende der Leseprobe aus 220 Seiten

Details

Titel
Click and Like!? Mündigkeit im Spannungsfeld von Politischer Bildung und Medien
Untertitel
Zur Notwendigkeit einer reflektierten Handlungskompetenz von Schülerinnen und Schülern im Umgang mit medialen Formaten
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Politische Wissenschaft; Didaktik der Politischen Bildung)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
220
Katalognummer
V458065
ISBN (eBook)
9783668878136
ISBN (Buch)
9783668878143
Sprache
Deutsch
Schlagworte
click, like, mündigkeit, spannungsfeld, politischer, bildung, medien, notwendigkeit, handlungskompetenz, schülerinnen, schülern, umgang, formaten
Arbeit zitieren
Judith Lehner (Autor:in), 2017, Click and Like!? Mündigkeit im Spannungsfeld von Politischer Bildung und Medien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458065

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Click and Like!? Mündigkeit im Spannungsfeld von Politischer Bildung und Medien



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden