Die Identitätskonzeption in Hermann Hesses "Demian"


Bachelorarbeit, 2015

38 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

(I) Einleitung: Die Identität als zentrales Thema in Hesses Œuvre

1 Einführung: Fragestellung
2 Eine begriffliche Fassung von Identität

(II) Methodisches Vorgehen

1 Herangehensweise

(III) Die Identitätskonzeption in Hermann Hesses Demian

1 Strukturale Konzeption
2 Figurative Konzeption von „Demian“
3 Symbiose von Struktur und Inhalt: Diskussion und Funktion der Er-gebnisse

(IV) Schluss

Literaturverzeichnis

(I) Einleitung: Die Identität als zentrales Thema in Hesses Œuvre

1 Einführung: Fragestellung

„Vorwiegend in der modernen und postmodernen Denktradition orientiert sich die Ausle-gung der Identität an dem Begriff des Subjekts; eines Subjekts, das im Widerspruch zu ei-ner Gesellschaft steht, die ihm ihr Modell von Identität aufdrängt. Vor dem Hintergrund jenes Subjekts dient die Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts als das Medium, in wel-chem die Problematik der Identität, die zwischen ‚Eigenheit‘ und ‚Fremdheit‘ pendelt, zum Ausdruck gebracht wird.“1

Das Motiv des Einzelnen, der sich in Konfrontation mit dem Anderen befremdlich oder gar abgestoßen fühlt und dem die simple Zugehörigkeit zu einer Gruppierung nicht ausrei-chend erscheint, um seine eigene Identität zu begreifen, ist neben Hermann Hesses Unterm Rad und seinem Steppenwolf vor allem in Hesses Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend auffällig. So reflektiert Hesses Œuvre deutlich denjenigen Konflikt, welcher sich aus der Konfrontation eines Individuums mit der zu ihm in Opposition stehenden Masse, der Identität im Verhältnis zur Alterität ergibt. Insbesondere sein Demian thematisiert die Ent-wicklung einer Identität, deren Grundfesten in der Adoleszenz gelegt werden. So schreibt Hesse selbst in einem Brief:

„Der ‚Demian‘ handelt von einer ganz bestimmten Aufgabe und Not der Jugend, welche freilich mit der Jugend nicht aufhört, aber doch sie am meisten angeht. Es ist der Kampf um die Individualisierung, um das Entstehen einer Persönlichkeit.“2

Dieser Kampf wird anhand des Protagonisten Emil Sinclair veranschaulicht. Dieser berichtet im Demian in Form einer Rückblende chronologisch von seiner Kindheit bis zur Adoleszenz von seiner Individuation und denjenigen Ereignissen, welche ihn dabei ent-scheidend geprägt haben, darunter seine Konfrontation mit einer ‚bösen Welt‘, die vor allem durch die Figur des Demian Teil seiner neuen Weltanschauung und Selbstauffassung wird. Sinclair erreicht nach einer langen Periode der Verwirrung, der sozialen Isolation und der Zweifel das Ziel einer Individualisierung durch seine Aufnahme in den Kreis der Träger des Kainszeichens und durch die Distanzierung von der elterlichen Welt, welche sich aus bürgerlichen Normen, Konventionen und einem monotheistischen Glauben zusammen-setzt, ohne seine Suche nach sich selbst als abgeschlossen aufzufassen. Emil Sinclair ent-wickelt eine Identität, welche in einem antithetischen Verhältnis zu derjenigen ihm anerzo-genen und in der Gesellschaft als richtig aufgefassten steht.

Vom Vorwort des Erzählers bis hin zum Schluss der Erzählung sind hier „die Schritte, die [er] in [seinem] Leben tat, um zu [sich] selbst zu gelangen“, seine Identitätsfindung, dargestellt.

Ines Gröpper untersucht in Individuation und absolute Ordnung im epischen Werk von Her-mann Hesse gerade diese Thematik als dominantes Motiv in Hesses Œuvre. Sie postuliert, sein Demian gehöre zu denjenigen Werken Hesses, „die auf den ersten Blick die Individua-tion thematisieren“3 und macht aus diesem Grund im Speziellen diese Erzählung nicht zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Doch gerade diese Offensichtlichkeit der Individuations-thematik macht unter dem Aspekt der Identität und ihrer Entwicklung eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Text besonders interessant, um die dadurch vermittelte Konzeption von Identität zu ergründen. So erlaubt diese Eindeutigkeit die Erschließung der Etappen, welche zu einer Identitätsentwicklung führen und die textuelle Facettierung von Identität zu begreifen. Die vorliegende Arbeit möchte diese von Gröpper postulierte Eindeutigkeit als Grundlage nutzen, um die Komplexität, mit welcher die Individuation im Demian dargestellt wird, zu ergründen.

2 Eine begriffliche Fassung von Identität

Da die Identität zentrales Motiv dieser Arbeit sein soll, erscheint es zu Beginn der Untersu-chung ratsam, diesen Terminus näher zu beleuchten und zu spezifizieren. In Hesses Wer-ken selbst wird weniger explizit von ‚Identität‘ gesprochen, vielmehr nutzt er Begrifflichkei-ten wie ‚Persönlichkeit‘ oder ‚persönlicher Charakter‘. Weitere Synonyme, die in der Aus-einandersetzung mit Hermann Hesse fallen, sind ‚Ich-Identität‘, die ‚Individuation‘, das ‚Selbst‘ oder auch das ‚Subjekt‘. Daraus ergibt sich ein großes Wortfeld von synonym ge-brauchten Bezeichnungen, die alle auf den Einzelnen verweisen- auf den Menschen und seine Mensch-Werdung.

Der Begriff ‚Identität‘ ist lateinischen Ursprungs und bedeutet „derselbe“. Aus der Etymologie dieses Wortes wird bereits der Zusammenhang zu etwas anderem deutlich. So ist Identität weniger etwas eigenständiges, sondern benötigt das Andere, um ausgebildet zu werden. Es kann dabei im Allgemeinen die kollektive von der persönlichen Identität unter-schieden werden, die jedoch miteinander in Verbindung stehen. So ist die kollektive Identi-tät „gebunden an die Ausbildung gruppenspezifischer Kulturformen und […] bedarf der ständigen Binnenstärkung durch das ‚kulturelle Gedächtnis‘ in Form von Ritualen, festen Einheitssymbolen und -mythen sowie durch das stigmatisierende Konstrukt einer kollekti-ven Alterität, um sich ihre Überlegenheit zu bestätigen.“4 Die persönliche Identität wird im Allgemeinen als ein dynamisches Konstrukt aufgefasst, das nicht angeboren ist, sondern einen „von der oder dem Einzelnen immer wieder zu bewerkstelligende[n], am Schnitt-punkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie stattfindende[n] Pro-zess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern“5 darstellt. Sie ist also eine variable Größe, die gewissen „Bedingungsfaktoren von Stabilität bzw. Instabilität“6 unterliegt. Glomb verweist darauf, dass eben dieser relationale Aspekt, etwas könne nur identisch mit etwas anderem sein, den Terminus ‚Identität‘ von den oben aufgeführten Termini wie ‚Selbst‘ und ‚Persönlichkeit‘ unterscheide7. Beide Teilbereiche der Identität, sowohl die kol-lektive als auch die persönliche scheinen in Hinblick auf Hermann Hesses Demian von Relevanz zu sein: die kollektive vor allem in denjenigen Bereichen, in denen sich Sinclair mit einer Gruppierung konfrontiert sieht; die persönliche in Bezug auf des Protagonisten beschriebenen Weg hin zu seiner Ich-Werdung. Es soll hier nicht auf das gesamte Wort-feld, welches die Identitätsthematik zu umgeben scheint, diskutiert werden, sondern festge-halten werden, dass allen Termini ein Bezug zu einem Selbst-Bewusstsein gemein ist. Die Identifikation hat dabei „weitreichende Folgen für die Konzeptualisierung von subjektiver Identität und das Verhältnis von Individuum und Umwelt"8, wobei das Erreichen des ‚individuum‘, des Unteilbaren, das ideale Ziel der Mensch-Werdung darstellt.

(II) Methodisches Vorgehen

1 Herangehensweise

Die folgenden Überlegungen wollen dazu beitragen, die Identitätskonzeption in Hermann Hesses Demian. Eine Geschichte von Emil Sinclairs Jugend anhand einer textimmanenten Detail-analyse zu beleuchten. Dabei soll die Identität zunächst in ihrer strukturalen Konzeption untersucht werden, wofür die ‚Identitätsbewegung‘ nach Norbert Ratz den Rahmen bilden soll. Die Nutzung von Ratz’ Ansatz als methodologische Grundlage soll erlauben, die Iden-tität als zentrales Motiv in Hesses Erzählung zu fokussieren. Dieser Ansatz wird nach methodologischer Reflexion durch eine Integration des von Magdolna Orosz formulierten raumanalytischen Grundgedankens zur ‚möglichen Welt‘ methodisch fruchtbar gemacht und auf Demian angewandt werden. Dabei soll der Schwerpunkt der Analyse auf dem Pro-tagonisten Emil Sinclair liegen, derjenigen Figur, welche eine Identitätsentwicklung durch-läuft. Im zweiten Teil der Untersuchung wird die Identität in ihrer figurativen Konzeption analysiert werden. Hier wird auf Basis der drei als wesentlich aufgefassten identitätsstiften-den Figuren, dies seien Franz Kromer, Max Demian und Pistorius, nach Feststellung ihrer Identitätsstatus deren Einflussnahme auf die Identitätsentwicklung Sinclairs herausgearbei-tet werden. Durch das sich summa summarum ergebende Gesamtbild, welches aus der Symbiose von Struktur und Inhalt resultiert, sollen Aussagen über den geistigen Entwurf von Identität, wie er in Hermann Hesses Demian vorgestellt wird, möglich werden.

1.1 Die methodologische Grundlage: Ratz’ Identitätsroman

Norbert Ratz veröffentlicht im Jahre 1988 eine Untersuchung, in der er eine Alternative zum Gattungsbegriff des Bildungsromans vorschlägt und diskutiert: den Identitätsroman.

Zu Beginn seiner Strukturanalyse setzt er sich kritisch mit der traditionellen Termi-nologie auseinander, „weil sie […] einer immer noch ausstehenden Strukturbestimmung der ‚traditionell‘ mit ihnen bezeichneten Romane im Wege“9 ist. Auf der Basis einer Aus-wahl an Bildungsromanen10 sucht er zu belegen, dass das Gemeinsame dieser Romane in ihrer Erzählstruktur gesucht werden müsse, welche er als ‚Identitätsbewegung‘ näher zu charakterisieren sucht11. Grundlage für die Erarbeitung einer neuen, spezifischeren Gat-tungsbezeichnung ist für ihn die Feststellung, der Terminus ‚Bildungsroman‘ sei weder ein-deutig zu definieren noch auf eine Weise einzugrenzen, dass nicht fast jeder Roman mit ihm benannt werden könnte.12 So ist für Ratz die Definition des „in der Weimarer Klassik entstandenen spezifisch deutschen Romantypus,

in welchem die innere Entwicklung (Bildung) eines Menschen von einer sich selbst noch unbewußten Jugend zu einer allseits gereiften Persönlichkeit gestaltet wird, die ihre Aufga-be in der Gemeinschaft bejaht und erfüllt“13

keine zulängliche Gattungsbezeichnung. Mittels „ausschließlich sozialpsychologischen Kategorien“14 will Ratz den Bildungsroman eindeutiger beschreiben, da er die traditionellen Motive wie „‚Konflikt zwischen Innen und Außen‘ und einem ‚Innere[n], das für seine [des Helden, D.R.] Individualität und seinen Charakter bestimmend‘ sei“ als „überkommene[ ] Vorstellungen“15 bewertet, und sieht demzufolge eine Umbenennung als zwingend not-wendig. Bevor er seine Textanalyse durchführt, setzt er sich umfassend auch mit der Be-zeichnung des Entwicklungsromans auseinander, welche er ebenso als unfruchtbar wahr-nimmt, sodass er das, was Steinecke mit dem Begriff ‚Individualroman‘ zusammenfasste, unter der Bezeichnung ‚Identitätsroman‘ vertiefend zu analysieren und erklären sucht, weil Steinecke „den Begriff nicht weiter expliziert und einer Strukturbestimmung unterwor-fen“16 hat. Ausgangspunkt seiner Strukturbestimmung ist dabei die Annahme „eine[r] er-zählerisch auf ein- und dieselbe Weise geordnete[n] Wiederholung untereinander abhängi-ger inhaltlicher, psychischer und geschehensbezogener Elemente“17. Auf Basis identitäts-theoretischer Überlegungen, vor allem auf der Grundlage von Erik H. Eriksons Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel, entwickelt er das Erzählmodell der ‚Identitäts-bewegung‘, welche das Kriterium für den Identitätsroman darstellen soll, ein Modell, „das auch inner- und zwischentextuelle Abweichungen erklären kann“18. Dieses Modell setzt sich aus „d[er] invariante[n] Abfolge von: Identitätsverwirrung – Selbstreflexion – Syntheti-sierung lebensgeschichtlicher sowie aktueller psychischer und sozialer Realitäten“19 zusam-men. Diese drei Stufen erläutert er unter Bezugnahme auf Eriksons Überlegungen:

(1) Identitätsverwirrung = normative Identitätskrise nach Erikson; „ausgelöst durch das Aufeinandertreffen einander widersprechender Selbstentwürfe und gesellschaftlicher Erwartungen“20
(2) Selbstreflexion = vergleichendes Prüfen und Nachdenken unter Bezugnahme des Feedbacks der Außenwelt; conditio sine qua non für die Ausbildung einer Ich-Identität
(3) Synthetisierung = wechselseitige Assimilation nach Erikson; Resultat erfolgreichen Durchlaufens der Stufe 2

Dabei begreift Ratz diese Stufen keinesfalls als statische Konstrukte, sondern verweist darauf, dass diese „im konkreten Roman jeweils modifiziert“21 werden, was seines Erach-tens nichtsdestotrotz sein Konzept des Identitätsromans haltbar macht22.

Exemplarisch soll Ratz’ analytisches Vorgehen mittels der Betrachtung seiner Aus-einandersetzung mit Wielands Geschichte des Agathon (1766/67), welche als Bildungsroman „im weiteren Sinne“23 begriffen und vielmehr als Entwicklungsroman bezeichnet wird, dar-gelegt werden. Unter diese Kategorie fallen „seit dem ‚Demian‘ alle Romane Hermann Hesses“24. Ratz beginnt seine Untersuchung mit einer Diskussion des im Agathon realisier-ten identitätstheoretischen Ansatzes und einem historischen Abriss in Bezug auf die Ich-Identität. Damit ist seine Analyse keine ausschließlich werkimmanente, sondern er bezieht sowohl den Autor als auch die dem Werk zugrundeliegende Auffassung des Menschen im 18. Jahrhundert in seine Interpretation mit ein. Durchgängig spielen Wielands Auffassun-gen als Autor eine gewichtige Rolle, wenn Ratz „die Identitätssuche des Romanhelden als Problem der (moralischen) Vernunftrealisation untersucht“25. „Wielands anthropologisch-aufklärerische Vorstellung von Individualität“26 bildet für Ratz also den Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit diesem Roman. In seinem Verfahren hält er sich an die im theoretischen Teil konstatierten Phasen und arbeitet sie auf Basis signifikanter Textstellen heraus. Die festgestellte Identitätskrise wird mit der Analyse der Reflexionsfähigkeit des Helden beantwortet, einmal mit Bezug auf die Wahrnehmung der äußeren, dann mit Bezug auf die Wahrnehmung der inneren Realität; daraufhin das Ziel der Selbstreflexion festge-stellt. Ratz unterteilt seine Untersuchung der Figur Agathons in die Kategorien persönli-cher und sozialer Identität und verbindet den Text mit dem Autor, indem er hervorhebt, Wieland verweise mit aufklärerischer Konsequenz auf die Gebundenheit von Ich-Identität an eine identitätsfähige, nämlich moralische Gesellschaftsordnung. Sei diese nicht gegeben, müsse jene scheitern27. Er beschließt seine Analyse keinesfalls eindeutig in Hinblick auf die Identität der textuellen Figur, sondern mit einer allgemein gefassten Anmerkung zur „Wahrhaftigkeit und […] Modernität dieses Romans“28, im Zuge derer er wiederum auf den Autor des Textes und die von ihm erreichte Wirkung eingeht.

In seiner Zusammenfassung und seinem abschließenden Ausblick räumt Ratz ein, dass „sich die Identitätsbewegung in jedem Roman anders darstellte, modifiziert durch historisch-kulturelle Voraussetzungen und individuelle Erfahrungen des jeweiligen Autors. Dabei ergaben sich die beiden Möglichkeiten des gelingenden und des scheiternden Identitätsromans, deren Vorkommen keiner irgendwie gearteten ‚historischen Logik‘ folgte.“29

In Form einer tabellarischen Übersicht präsentiert Ratz die Ergebnisse seiner Textanalysen, wobei er in jedem besprochenen Text die jeweiligen Stufen der Identitätsverwirrung, der Selbstreflexion sowie der Synthese von Erfahrungen festhält. Das Ende seiner Untersu-chung bildet eine neuzeitliche Einordnung der Gattung des Identitätsromans, wobei Ratz festhält, dass „das Grundproblem des traditionellen Identitätsromans, wie Sozialisierung und Individuierung widerspruchslos möglich seien“30, gegenwärtig sei. So hält er die disku-tierte Gattungsbezeichnung für grundsätzlich möglich. Diese Argumentation und Analyse Norbert Ratz’ soll im Folgenden kritisch beleuchtet und diskutiert werden.

1.2 Grenzen des Ansatzes, aktueller Forschungsstand und raumanalytische Modifizierung des Ansatzes

Auf die Veröffentlichung seines Ansatzes folgten einige wissenschaftliche Rezensionen, die sich kritisch mit seiner These auseinandersetzten. So nennt Waniek die Auseinandersetzung in Hinblick auf die traditionelle Terminologie „überflüssig“31 und erachtet „de[n] Zusam-menhang zwischen Lebensstadium und Erzählstruktur [als] zu glatt konstruiert“32. Für ihn ist das Modell von Ratz zu unstrukturiert und zu sehr den jeweils besprochenen Texten an-gepasst, „wenn es auf den ersten Blick so scheint, als träfe das Modell einfach nicht zu“33. Nichtsdestotrotz bewertet Waniek Ratz’ Ansatz als ertragreich, wenn er den von Ratz fo-kussierten „Rahmen der Spannung von Sozialisierung und Individualisierung“ als „genaues, ergiebiges tertium comparationis34 bezeichnet. Auf ähnliche Weise konkludiert auch Boa, da sie feststellt, „Dr Ratz’s model […] should help to undermine the simplistic opposition of individual versus society which haunts discussion of novels”35. Jedoch äußert sie ebenso eine ambivalente Haltung bezüglich der Notwendigkeit der Einführung eines alternativen, spezifischeren Terminus für die Auseinandersetzung mit derjenigen Literatur, welche ge-meinhin als Bildungsliteratur aufgefasst wird:

“The model proves highly adaptable, allowing for structural comparison but accommoda-ting very different historical and ideological issues. It might, indeed, seem too capacious, and the limiting specification of adolescent confusion may be determined less by the new model than by the pre-existing concepts of Bildung or Entwicklung and their inherent teleolo-gical implications.”36

Das von Ratz entwickelte Schema würde demnach zu weit gefasst sein und weniger zur Klärung beitragen als von Ratz selbst erhofft. Wulf Koepke verweist darauf, dieses saubere Schema von Ratz, welches sich unter anderem durch seine Kürze auszeichnet, habe Haken, sonst wäre die Forschung darauf verfallen37. So wirft er Ratz unter anderem vor, dass „die dargestellten Aspekte […] so einseitig dargestellt sind, um ins System zu passen.“38 Dabei stimmt er Ratz grundsätzlich zu, „daß sowohl die Form bzw. Struktur des Bildungsromans umstritten ist, als auch sehr fragwürdig ist, welche Romane denn eigentlich dazu gehören sollen“39. Jedoch kritisiert er, dass dieser traditionelle Gattungsbegriff nicht gänzlich ohne Charakteristika aufgestellt worden und daher dessen Abwertung beziehungsweise Infrage-stellung nicht zwingend vonnöten sei.

Eine aktuellere Auseinandersetzung mit dem von Ratz formulierten Gattungsbe-griff ist nach Durchsicht aktueller Forschung nicht feststellbar. Der von ihm vorgestellte Terminus hat keinen Einzug in die einschlägigen Nachschlagewerke gefunden. Erkennbar hat er sich nicht durchgesetzt, obwohl vereinzelt auf Ratz’ Strukturanalyse verwiesen wird. So bedient sich beispielsweise Dorota Nowak in Der Identitätsroman der Wende-Zeit am Beispiel ausgewählter Texte von Günter de Bruyn und Monika Maron explizit Ratz’ Strukturbestimmung40, doch erfolgt diese Übernahme ohne kritische Auseinandersetzung mit seiner Theorie. Eine Ergründung der Grenzen dieses Ansatzes ist nach Begutachtung der Rezensionen nützlich, um potentielle Ansätze für dessen Modifizierung entwickeln zu können.

Zunächst kommt man bei der Lektüre von Ratz nicht umhin, die Subjektivität seiner Auseinandersetzung mit dieser Thematik wahrzunehmen, wenn er darauf verweist, ‚er‘ kenne keinen einzigen ‚Entwicklungsroman‘ von Rang, dessen Struktur und Gehalt durch das Hineinwachsen eines Individuums in die ‚jeweils geltende Welt‘ charakterisiert werden könnte41. Hier kann bereits eine gewisse Determiniertheit in seiner Analyse festge-stellt werden. Des Weiteren kann den Rezensionen in Bezug auf die allzu weit gefasste Of-fenheit des Ratz’schen Konzepts zugestimmt werden. Wo Ratz den Bildungsroman als un-systematisch und allzu oberflächlich kritisiert, lässt sich diese von ihm geforderte Systema-tik in seinem eigenen Ansatz ebenso nur schwerlich feststellen. Gepaart mit dem hohen Grad an Differenziertheit und an Variabilität seiner Analyse sowie der finalen Ergebnisse ist die ‚Subsumierungskapazität‘42 des von ihm entwickelten Ansatzes fraglich und schwer fassbar. Zudem deckt Ratz die traditionelle Grundkategorie der Analyse narrativer Texte, die Zeit, nicht aber diejenige des Raumes ab. In Verbindung mit seiner dominanten Ten-denz zum Biographischen im Zuge der Analyse seiner Auswahl an Texten ist sein Ansatz verhältnismäßig distanziert vom Text an sich, was auch Koepke anmerkt:

„Vielleicht sollten wir in der Tat mehr Hilfe bei der Sozialpsychologie suchen. Aber die Umsetzung von Eriksons Erkenntnissen in ästhetische Strukturen erfordert wohl doch mehr Einblick in den Stand unserer Forschung und die Natur der Texte.“43

Diese Natur der Texte scheint bei Ratz eine relativ untergeordnete Rolle zu spielen und scheint nur relevant für die Feststellung der von ihm definierten Phasen zu sein, die erfüllt sein müssen, um das Vorliegen eines Identitätsromans verifizieren beziehungsweise falsifi-zieren zu können. Das Ziel der Analyse bleibt dabei zu unscharf umrissen. So liegt die Ver-mutung nahe, dass im Falle von Ratz’ Analyse der Aspekt der narrativen Identität vor-herrschend ist, welcher auf Kosten der figurativen Identität, sei sie als kollektive oder per-sönliche begriffen, in den Vordergrund tritt.

Im Folgenden soll ein Vorschlag der Modifizierung des Ansatzes präsentiert wer-den. Die Rückkehr zum Text als alleinigen Untersuchungsgegenstand exklusive biographi-scher Exkurse soll die monierte Offenheit des Ansatzes beheben und das von Ratz formu-lierte Konzept der ‚Identitätsbewegung‘ fruchtbarer machen für eine rein textuelle Analyse, in diesem Falle für die Analyse der Identitätskonzeption in Hesses Demian. Hierbei dient Magdolna Oroszs Empfehlung einer Transformation der Kategorie ‚Raum‘ als Grundlage, um eine immanentere Textanalyse in Hinblick auf die Identitätskonzeption in Hermann Hesses Demian zu ermöglichen. Orosz führt dabei die Gedanken Jurij Lotmans fort44 und erweitert sie, wenn sie vorschlägt, die narrative Beschreibungskategorie des Raumes mit dem Begriff ‚mögliche Welt‘ zu ersetzen45. Sie sieht darin einen Einbezug der fiktionalen Charaktere erfüllt und will mittels dieser Umformulierung „den ‚Raum‘ als Kategorie der abstrakten semantischen Struktur von dem in der erzählten Welt konstruierten konkreteren Räumen […] unterscheiden“46 können. Die ‚mögliche Welt‘ einer Figur ergibt sich dabei aus der Gesamtheit der über diese Figur getätigten Aussagen und beschriebenen Charakte-ristika. Durch den expliziten Bezug einer ‚möglichen Welt‘ zum Individuum erscheint die Anwendung dieses Ansatzes im Kontext der Untersuchung einer Identitätskonzeption, wie sie in der vorliegenden Arbeit erfolgen soll, als potentiell praktikabel.

Als ebenso zweck-mäßig ist Oroszs Hinweis, aus der Gesamtheit der ‚möglichen Welten‘ innerhalb eines nar-rativen Textes ließen sich u.a. „Veränderungen der ‚Weltstruktur‘ im Ablauf der Ereignisse (‚Handlung‘) der erzählten Geschichte“47 ableiten, zu bewerten.

[...]


1 Paraskevi Petropoulou: Die Subjektkonstitution im europäischen Roman der Moderne. Zur Gestaltung des Selbst und zur Wahrnehmung des Anderen bei Hermann Hesse und Nikos Kazantzakis. Wiesbaden 1997, S. 6.

2 Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hg. von Ursula und Volker Michels. Zweiter Band. 1922-1935. 1.Aufl. Frankfurt am Main 1979, S. 210.

3 Ines Gröpper: Individuation und absolute Ordnung im epischen Werk von Hermann Hesse. Marburg 2001, S. 13.

4 Anna-Margaretha Horatschek: Kollektive Identität [Art.]. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. 5., aktual. u. erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar 2013, S. 323-324, S. 323.

5 Stefan Glomb: Persönliche Identität [Art.]. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Per-sonen-Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. 5., aktual. und erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar 2013, S. 324.

6 ebd., S.324.

7 vgl. ebd., S.324.

8 Anna-Margaretha Horatschek: Identifikation [Art.]. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. 5., aktual. u. erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar 2013, S. 322-323, S. 322.

9 Norbert Ratz: Der Identitätsroman. Eine Strukturanalyse. Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschich-te. Bd.44. Tübingen 1988, S. 1f.

10 Ratz erwählt Grimmelhausens Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch, Thomas Manns Der Zauberberg, Moritzs Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Flegeljahre. Eine Biographie von Jean Paul, Stifters Der Nachsommer. Eine Erzählung sowie Wielands Geschichte des Agathon für seine Strukturana-lyse.

11 vgl. Ratz, S. 1.

12 vgl. Ratz, S. 2.

13 Irmgard Schweikle: Bildungsroman [Art.]. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. Aufl. Stuttgart 1990, S. 55.

14 Ratz, S. 2.

15 ebd., S. 7.

16 ebd., S. 4.

17 ebd., S. 8.

18 ebd., S. 10.

19 ebd., S. 8.

20 ebd., S. 8.

21 ebd., S. 9.

22 vgl. ebd., S. 10.

23 Schweikle: Bildungsroman, S. 55.

24 Irmgard Schweikle: Entwicklungsroman [Art.]. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. Aufl. Stuttgart 1990, S. 125.

25 Ratz, S. 36.

26 ebd., S. 37.

27 vgl. ebd., S.43.

28 ebd., S. 46.

29 ebd., S. 141.

30 ebd., S. 146.

31 Erdmann Waniek: Der Identitätsroman von Norbert Ratz. In: Monatshefte 82 (1990), S. 501-502, S.501.

32 ebd., S. 501.

33 ebd., S. 502.

34 ebd., S. 502.

35 Elizabeth Boa: Review: Der Identitätsroman: Eine Strukturanalyse by Norbert Ratz. In: The Modern Lan-guage Review 84 (1989), S. 1025-1026, S. 1026.

36 ebd., S. 1026.

37 Wulf Koepke: Der Identitätsroman. Eine Strukturanalyse von Norbert Ratz. In: Colloquia Germanica 22 (1989), S. 322-324, S. 323.

38 ebd., S. 324.

39 ebd., S. 323.

40 Dorota Nowak: Der Identitätsroman der Wende-Zeit am Beispiel ausgewählter Texte von Günter de Bruyn und Monika Maron. In: Studia Germanica Posnaniensia 27 (2001), S. 233-244, S. 233.

41 vgl. Ratz, S. 5.

42 vgl. ebd., S. 2.

43 Koepke, S. 324.

44 Lotman verweist in seiner einflussreichen Schrift Die Struktur literarischer Texte darauf, dass die allerallge-meinsten sozialen, religiösen, politischen, ethischen Modelle der Welt, mit deren Hilfe der Mensch auf ver-schiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte den Sinn des ihn umgebenden Lebens deutet, stets mit räumli-chen Charakteristiken ausgestatten seien. Diese Auffassung, modifiziert durch Orosz, erscheint hier als poten-tiell fruchtbare Grundlage, um die Identität als dem Menschen eigenes Konzept im Demian greifbar und ana-lysierbar zu machen.

45 Orosz betont die Abhängigkeit der Kategorien ‚Zeit‘, ‚Figur‘, ‚Geschichte‘ und ‚Raum‘ voneinander (vgl. Orosz, S. 13), eine Verbindung, welche bei Ratz keinerlei Beachtung findet.

46 Magdolna Orosz: Raumsemantik und Modalität. In: Räume, Grenzen, Grenzüberschreitun-gen.Bedeutungs-Welten in Literatur, Film und Fernsehen. Hg. von Hans Krah. Kodikas/Code ArsSemeioti-ca 22, 1–2. Tübingen 1999, S. 13-24, S. 14.

47 ebd., S. 15.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Die Identitätskonzeption in Hermann Hesses "Demian"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien)
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
38
Katalognummer
V457553
ISBN (eBook)
9783668897977
ISBN (Buch)
9783668897984
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hermann Hesse Demian Identität Raum, Identitätsroman Ratz Orosz
Arbeit zitieren
Dominique Reiner (Autor:in), 2015, Die Identitätskonzeption in Hermann Hesses "Demian", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457553

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