Luther und die Hirnforschung. Darstellung und Vergleich zweier Positionen zur Frage der menschlichen Willensfreiheit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

27 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

A Einleitung

B Luthers Haltung zum freien Willen
B.I. Vom unfreien Willen
B.II. Auswertung der Position Luthers

C Die Hirnforschung und der freie Wille
C.I. Das Libet-Experiment
C.II. Die Negation der Willensfreiheit und ihre Folgen
C.III. Luther und die Hirnforschung – ein Vergleich
C.IV. Theologischer Ertrag der empirischen Befunde

D Schlussfolgerung

E Quellen- und Literaturverzeichnis

A Einleitung

Gibt man in großen Internet-Suchmaschinen die Stichworte Luther und Neurobiologie ein, so wirken die Ergebnisse auf den ersten Blick kaum überraschend: die meisten Treffer lassen entweder einen der beiden Suchbegriffe vollständig außen vor, oder verweisen auf neurowissenschaftliche Institute, deren Universitäten den großen Reformator im Namen tragen. Zu wenig scheinen die beiden Begriffe gemeinsam zu haben, als dass sich verbindende Elemente zwischen ihnen finden ließen.

Dass es dennoch zwischen beiden Stichworten eine ernstzunehmende Verbindung gibt, scheint selbst für lutherische Theologen und universitäre Hirnforscher nur von sekundären Belang zu sein. Diese profunde Gemeinsamkeit, welche die lutherische Theologie und die moderne Hirnforschung verbindet, ist die Frage nach der Willensfreiheit. Beide – sowohl der heutige Stand der Neurobiologie, als auch die lutherische Auslegung der Bibel – stehen der Vorstellung eines freien (menschlichen) Willens ablehnend gegenüber.

Doch entspricht diese Charakterisierung überhaupt der Wirklichkeit? Ist es tatsächlich so, dass die heutige Naturwissenschaft die Sicht Luthers auf die Willensfreiheit bestätigt? Und ist es überhaupt denkbar, dass ein Theologe im 16. Jahrhundert vorwegnimmt, was erst Jahrhunderte später von empirischen Wissenschaften formuliert wird?

Auf diese Fragen werde ich im Folgenden eingehen. Dazu werde ich die Position der modernen Gehirnforschung mit derjenigen Luthers vergleichen. Dabei werde ich jedoch nicht bei einem bloßen Vergleich zwischen lutherischer Theologie und moderner Neurowissenschaft stehen bleiben. Vielmehr werde ich nach der Gegenüberstellung beider Positionen versuchen, für die moderne (katholische) Theologie einen Ertrag aus dieser Gegenüberstellung zu formulieren. Denn die Erkenntnisse, welche durch die moderne Neurobiologie herausgestellt wurden, können – sofern sie durch die Theologie richtig aufgegriffen werden - auch für den christlichen Glauben reiche Frucht bringen und großen Segen stiften.

Bevor ich dazu komme, gilt es jedoch, sich der Haltung Luthers zur Willensfreiheit bewusst zu werden. Dieser werde ich mich im Folgenden annähern, um herauszustellen, was im Speziellen die lutherische Ablehnung menschlicher Willensfreiheit ausmacht.

B Luthers Haltung zum freien Willen

Wer diese Schrift nicht aus der Hand legt mit der Erkenntnis, dass die evangelische Theologie mit dieser Lehre vom unfreien Willen steht und fällt, der hat sie umsonst gelesen.1

Diese Aussage stammt vom evangelischen Systematiker Hans-Joachim Iwand. Sie lässt sich jedoch nicht in einer unbedeutenden Randnotiz in Iwands Werk finden. Vielmehr stammt sie aus seinem Vorwort zur Neuausgabe von Martin Luthers Schrift Vom unfreien Willen. Dieses Werk des Reformators steht – mehr als jedes andere – für die unzweideutige Darlegung der lutherischen Position zum Thema Willensfreiheit. Glaubt man Iwands Aussage aus dem Jahr 1937, so gehört die Ablehnung der menschlichen Willensfreiheit konstitutiv zum Gedankengut evangelischer Theologie. Aufgrund der enormen Wichtigkeit, die dieses Thema in Luthers Werk einnimmt, lässt sich vermuten, dass die heutige lutherische Theologie in der modernen Hirnforschung einen positiven Bezugspunkt bei der Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens sehen würde. Doch um zu überprüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist, gilt es zunächst, sich sowohl der Position Luthers, als auch der Haltung der modernen Neurobiologie bewusst zu werden. Daher werde ich mich im Folgenden zunächst der lutherischen Position zuwenden, um dessen Ansätze zur menschlichen Willensfreiheit zu beleuchten.

B.I. Vom unfreien Willen

Zu einer solchen Beschäftigung gehört auch dazu, sich den historischen Hintergrund der Äußerungen Luthers zum freien Willen zu vergegenwärtigen. Schließlich lässt sich Luthers Position zur Willensfreiheit nur verstehen, wenn man die Motive und Beweggründe seiner Äußerungen kennt und diese historisch einordnen kann. Bevor ich also die Spezifika der lutherischen Ablehnung der Willensfreiheit darlege, werde ich die Äußerungen des Reformators kurz in einen historischen Kontext stellen.

Begibt man sich auf die Spur zu den historischen Umständen, unter denen Luther seine Schrift Vom unfreien Willen verfasst hat, so landet man unweigerlich bei Erasmus von Rotterdam. Dieser Zeitgenosse des Reformators hatte im Jahr 1524 ein Werk mit dem Titel Diatribe vom freien Willen verfasst, in welchem er die Willensfreiheit im Zusammenhang mit dem Seelenheil des Einzelnen proklamierte. Luthers Monographie Vom unfreien Willen fungierte dabei als die ein Jahr später erfolgende Antwort auf die Streitschrift des niederländischen Humanisten. Luther zufolge habe dieser in seiner Argumentation zugunsten der Existenz menschlicher Willensfreiheit die von der katholischen Theologie vertretene Position eingenommen.2 Um die im Folgenden beschriebene Haltung Luthers zur Willensfreiheit zu verstehen, gilt es daher, sich eines zu vergegenwärtigen: Luthers Kritik an der Vorstellung der Willensfreiheit kommt nicht etwa als Ergebnis einer philosophischen Reflexion zustande. Vielmehr ist sie als integraler Bestandteil seiner Kritik an der zeitgenössischen katholischen Kirche zu verstehen. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Charakteristika und Motive des lutherischen Determinismus begreifen. Genau diese Charakteristika werde ich im Folgenden darlegen. Später sollen sie dann den Eigenarten des neurobiologischen Determinismus gegenübergestellt werden.

B.I.1. Luthers Definition des freien Willens

Um die Gründe für Luthers Ablehnung der Willensfreiheit zu verstehen, muss zunächst klar umschrieben werden, was der Reformator unter dem Stichwort des freien Willens verstand. In Abgrenzung zur katholischen Definition des freien Willens akzentuierte Luther einige weitere Aspekte, die bei Erasmus‘ Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Willensfreiheit kaum eine Rolle gespielt hatten. Erasmus habe etwa unter dem Begriff des freien Willens die Fähigkeit des Menschen verstanden, sich allem Heilsnotwendigen aus freiem Entschluss zuzuwenden oder es zurückzuweisen.3 Für Luther ist diese Definition der Willensfreiheit, die er bei Erasmus vorfand, jedoch derart kurz gegriffen, dass sie die tatsächliche Bedeutung des freien Willens nicht gänzlich abdecken könne. In Ergänzung zu Erasmus formuliert Luther:

Zwar könnte man dem Menschen vielleicht mit gewissem Recht einen freien Willen zuschreiben; dies aber in göttlichen Dingen zu tun, das ist zu viel. Denn mit dem Begriff ‚freier Wille‘ bezeichnet man […], dass dieser gegenüber Gott vermag und tut, was ihm beliebt, und dabei durch kein Gesetz, durch kein Gebot behindert wird.4

Luthers besonderes Augenmerk in seiner Ablehnung der Willensfreiheit lag also auf der Betonung der menschlichen Unfreiheit Gott gegenüber. Folglich erachtet Luther die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit nicht als eine (rein) anthropologische, sondern sieht darin auch die Stellung Gottes als zutiefst relevant an. Wenn sich der Reformator also in seinem Werk mit auffälliger Schärfe gegen die Idee des freien Willens wendet, so tut er dies im Besonderen gegenüber jenen Konzepten der Willensfreiheit, die eine Autonomie des menschlichen Willens gegenüber Gott proklamierten.

Doch warum wendet sich Luther von diesen Konzeptionen ab? Wie kommt er dazu, die Freiheit des menschlichen Willens mit Bezug auf Gott infrage zu stellen? Und was sind Luthers Motive, die menschliche Willensfreiheit vor diesem Hintergrund zu bestreiten? Diesen Fragen werde ich im Folgenden nachgehen. Die Antworten, die sich aus Luthers Werk ergeben, werden schließlich den Nährboden für eine Gegenüberstellung mit der Position der modernen Neurowissenschaft liefern.

B.I.2. Gottes Voraussicht oder menschliche Freiheit?

Genau wie seine Definition des freien Willens, steht auch Luthers zentrales Motiv zur Ablehnung der Willensfreiheit in einem genuin theologischen Kontext. Dabei sieht Luther die Vorstellung der (menschlichen) Willensfreiheit in grundlegender Spannung zu anderen – für ihn zentralen – theologischen Aspekten. Besonders die Voraussicht Gottes und die Unwandelbarkeit seines Willens würden durch die Idee der menschlichen Willensfreiheit unterminiert:

Gott weiß nichts zufällig voraus, sondern sieht alles voraus, nimmt es sich vor und tut es nach seinem unwandelbaren, ewigen und unfehlbaren Willen. Dieser Donnerschlag streckt den freien Willen nieder und zermalmt ihn ganz und gar.5

Für Luther ist somit unmissverständlich klar, dass dieses Wissen um die Unwandelbarkeit des göttlichen Willens für jeden Christen von enormer Wichtigkeit ist. Luthers Aussage, dass Gott stets gemäß seinem ewigen Willen handelt, lasse somit keinerlei Spielraum für den Menschen, sich selbst in einem freien Willensakt zu Gottes Voraussicht zu verhalten. Ein Mensch, der die Vorstellung eines freien Willens akzeptiere, müsse laut Luther jedoch genau diese Voraussicht – mitsamt der Unwandelbarkeit des göttlichen Willens – leugnen.6 Die Frage nach der Willensfreiheit hatte somit für Luther nicht nur philosophisch-anthropologische Implikationen, sondern gleichsam auch Folgen für sein Gottesbild: Luther betrachtete die Vorstellung der menschlichen Willensfreiheit als mit der umfassenden Voraussicht Gottes unvereinbar. Das Verhältnis von göttlicher Suprematie und menschlicher Freiheit war für Luther dabei vor allem in einer Hinsicht von großer Wichtigkeit. Diese Verhältnisbestimmung Luthers führte zur Formulierung eines der großen reformatorischen Grundprinzipien: sola gratia

B.I.3. Sola gratia – allein die Gnade

Hier liegt der Dreh- und Angelpunkt in unserm Streit, hierum dreht sich alles! Denn darum geht es uns: zu untersuchen, was der freie Wille vermag, worin er passiv ist und wie er sich zur Gnade Gottes verhält. Wenn wir das nicht wissen, dann wissen wir überhaupt nichts vom christlichen Glauben und werden schlimmer dran sein als die Heiden.7

Aus diesen Worten Luthers wird beispielhaft deutlich, worin das zentrale Anliegen des Reformators bestand: In Abgrenzung zur katholisch-humanistischen Position, welche (etwa in Gestalt des Erasmus von Rotterdam) die menschliche Willensfreiheit verteidigte, stellte Luther einen anderen theologischen Begriff ins Zentrum seiner Argumentation – die Gnade.

Mit dem reformatorischen Grundsatz sola gratia (allein die Gnade) grenzte Luther sich somit gegenüber jenen Kräften innerhalb der christlichen Theologie ab, welche die Werksgerechtigkeit für das Seelenheil des Einzelnen als bedeutsam erachteten. Kernaussage der lutherischen Theologie war dabei, dass ausschließlich Gott all jenes im Menschen bewirke, das diesem Heil und Erlösung bringe. Der Mensch selbst könne dagegen aus eigener Kraft nichts tun, das zu seinem eigenen Heil beitragen würde.8 Nicht aufgrund seiner guten Werke werde der Mensch vor Gott gerecht, sondern ausschließlich durch die von Gott ihm zugesprochene Gnade. Mit dieser Haltung positionierte Luther sich gegen den zeitgenössischen Katholizismus, der die Idee der Werksgerechtigkeit dahingehend auslegte, dass die Gläubigen durch den Erwerb von Ablässen ihr eigenes Heil beeinflussen könnten.

Von diesem historischen Hintergrund her lässt sich verstehen, dass Luther die Vorrangstellung der göttlichen Gnade gegenüber der Gerechtigkeit menschlicher Werke betonte: Allein durch die Gnade Gottes – und nicht durch eigene Kraft oder aus einem freien Willen heraus – sei der Mensch zu guten Werken in der Lage. Somit erlange der Mensch auch nicht aus eigener Kraft (geschweige denn durch einen freien Entschluss) sein Heil, sondern ausschließlich aufgrund des gnädigen Handelns Gottes:

Denn wenn nicht wir, sondern Gott allein das Heil in uns wirkt, so rettet nichts, was wir vor seinem Werk tun – ob wir es wollen oder nicht.9

Luther erachtete also die Vorstellung der Willensfreiheit mit der Universalität göttlicher Gnade für unvereinbar. Folglich gründete Luthers Negation menschlicher Willensfreiheit wiederum in seiner theozentrischen Perspektive: Auf der Grundlage des unfreien Willens ergab sich für ihn eine Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes, die dessen Geschöpfen ohne Vorleistung oder eigenes Zutun geschenkt werde.

B.I.4. Pecca fortiter – sündige tapfer!

Jenes Geschenk der göttlichen Gnade erachtet Luther jedoch nicht einfach als bloßes Faktum, sondern als eine Realität, die das ganze Leben eines Menschen beeinflusst und umfasst. Jedes Individuum sei schon deshalb zutiefst von der göttlichen Gnade abhängig, weil die Wirklichkeit des sündigen Handelns unabänderlich zu seinem Wesen gehöre. Beispielhaft wird dies in einem Brief Luthers an Philipp Melanchthon aus dem Jahr 1521 deutlich, dessen Schlusssätze reformationsgeschichtlich vielfältig rezipiert wurden:

Wenn Du über die Gnade predigst, dann verkündige nicht die erdichtete, sondern die wahre Gnade. Wenn es die wahre Gnade ist, dann zeige (Deinen Hörern) die wahre und nicht die erdichtete Sünde. Gott rettet nicht die vermeintlichen Sünder. Sei ein Sünder und sündige tapfer, aber glaube noch tapferer […]! Wir müssen sündigen, solange wir hier sind.10

In aller Klarheit betont Luther an dieser Stelle die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur. Die Möglichkeit, ein Leben außerhalb der Sünde zu führen, sieht Luther für den Menschen unter keinen Umständen als gegeben an. Von daher lässt sich das Motiv begreifen, aufgrund dessen er der göttlichen Gnade eine so gewaltige rettende Funktion zuschreibt: die Sünde nehme in der menschlichen Natur einen derart großen Raum ein, dass der Mensch aus eigener Kraft gar nicht in der Lage sei, ihrer in irgendeiner Form Herr zu werden. Daher brauche jedes Individuum unbedingt diese von Gott geschenkte Gnade, um von der eigenen Sündhaftigkeit befreit zu werden.

Luther betont die Vorrangstellung der göttlichen Gnade somit aus dem Vertrauen heraus, dass diese sich gegenüber der menschlichen Sünde als stärker erweisen werde. Nichts könne den Menschen daher von jenem Gotteslamm trennen, das die Sünden der Welt hinweggenommen habe:

Von dem wird uns keine Sünde wegreißen, wenn wir auch tausend- und abertausendmal an einem Tag hurten oder mordeten. Glaubst Du, daß es nur ein kleines Lösegeld für die Erlösung von unsern Sündern [sic!] war – bei einem solchen und so großen Lamm? Bete kräftig, auch wenn Du ein ganz schlimmer Sünder bist!11

Die universelle Kraft der göttlichen Gnade, welche Luther entgegen der Vorstellung menschlicher Willensfreiheit betont, stellt somit auch die Sündhaftigkeit des Einzelnen in ein neues Licht. Durch die Negation des freien Willens gelingt es Luther in seinen Gedankengängen daher, die menschliche Sünde zu relativieren: Da jeder Mensch von seiner Natur her nicht anders könne, als zu sündigen, gebe es keinen Handlungsspielraum, innerhalb dessen er sich frei gegen (oder für) das sündige Handeln aussprechen könne. Um dazu in der Lage zu sein, bedürfe der Mensch dagegen unbedingt des gnädigen Eingreifens Gottes. Die Betonung eben dieser Gnade ist daher als ein zentrales Motiv der lutherischen Negation der Willensfreiheit zu betrachten.

B.II. Auswertung der Position Luthers

So gilt es nun schlussfolgernd, aus Luthers Ablehnung des freien Willens Eines hervorzuheben: die Kritik des Reformators an der Vorstellung des freien Willens ist nicht das Resultat empirisch-rationalen Nachdenkens über das Wesen des Menschen. Vielmehr entstammt die lutherische Haltung zur Willensfreiheit einer Reflexion über das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit. Oder anders gesagt: über das Verhältnis von Rechtfertigung des Menschen aus der Gnade Gottes oder aus der Gerechtigkeit eigener Werke. Hintergrund der Kritik des Reformators an der Willensfreiheit ist somit primär eine theologische, nicht eine anthropologische Reflexion.

Zudem lässt sich konstatieren, dass die Betonung des gnädigen Gottes in der Biographie Luthers (wie auch in der Seele vieler Gläubiger) enormes emanzipatorisches Potenzial entfalten konnte. Historisch darf also keineswegs unterschätzt werden, in welchem Ausmaß die lutherische Negation der Vorstellung, der Mensch könne aus eigenen (guten) Werken vor Gott gerecht werden, eine befreiende Wirkung auf jene ausübte, die sich den Ideen der Reformation anschlossen.

Luther selbst kann stellvertretend für all jene genannt werden, die durch diese Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch eine befreiende Perspektive erhalten haben. Dies wird insbesondere am Ende seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen deutlich:

Siehe, das ist die rechte geistliche christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Die gebe uns Gott recht zu verstehen und zu behalten. Amen.12

In diesem Zitat Luthers liegt der Schlüssel zum gesamten Verständnis seiner Freiheit eines Christenmenschen. Luther verbindet diesen Abschluss seines Werkes mit einem Gebetsanruf an Jesus, den er seinen Ausführungen vorangestellt hatte. Diese Verbindung lasse sich dahingehend auslegen, dass das Verständnis für die christliche Freiheit nicht in der Hand des Menschen liege (es ihm also nicht einfach gegeben ist), sondern er sich wiederum ganz auf die Gnade Gottes zu verlassen habe.13

Dabei erscheint die Betonung der Freiheit als paradox, wenn man bedenkt, dass gerade die Ablehnung menschlicher Willensfreiheit vielfach als konstitutives Element lutherischer Theologie gesehen wird. Das befreiende Potenzial, das dennoch integraler Bestandteil des reformatorischen Denkens wurde, wird uns bei der Gegenüberstellung mit der neurowissenschaftlichen Position zur Willensfreiheit wiederbegegnen.

Genau dieser Position werde ich mich im Folgenden zuwenden. Dabei werde ich die Haltung der neurobiologischen Forschung zur Willensfreiheit ausführlich darlegen und diese mit den Ansätzen Martin Luthers vergleichen. Die Ergebnisse dieses Vergleiches werde ich schließlich dazu nutzen, einen theologischen Ertrag für die christliche Orthopraxie in der Moderne zu formulieren. Zunächst gilt es jedoch, sich die Untersuchungen der Neurowissenschaften zur Frage des freien Willens zu vergegenwärtigen.

C Die Hirnforschung und der freie Wille

Nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der neurobiologischen Forschung spielt die Frage nach der Willensfreiheit eine gewichtige Rolle. Kaum ein Neurobiologe äußert sich in dieser Frage (auch öffentlichkeitswirksam) mit einem derart interdisziplinären Interesse wie der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. Zusammen mit dem Philosophen Michael Pauen etwa verfasste Roth im Jahr 2008 eine Monographie, die sich im Kontext des menschlichen Willens mit der Frage nach Freiheit beschäftigte. In Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit werden dabei die zentralen Erkenntnisse der modernen Hirnforschung auch mit Methoden der Geisteswissenschaft reflektiert. Die folgenden empirischen Untersuchungen, welche die Neurowissenschaften in der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit ins Feld führen, sind somit auch vor dem Hintergrund philosophischen Denkens als stichhaltig zu betrachten.

C.I. Das Libet-Experiment

Zu Beginn ihrer Ausführungen greifen die beiden Wissenschaftler dabei die Erkenntnisse eines besonders kontrovers diskutierten Experiments auf, das der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet zu Beginn der 1980er Jahre durchführte. Für die jüngere Geschichte der Wissenschaft war diese Untersuchung von fundamentaler Bedeutung, da sie erstmalig ermöglichte, das subjektive Zustandekommen eines Willensaktes empirisch und experimentell zu erfassen. Zentrale Frage der Untersuchung war im Besonderen, inwieweit der bewusste Willensakt bei den Prozessen menschlicher Handlungssteuerung von Bedeutung sei. Dabei zielten die Wissenschaftler darauf ab, jene messbaren Vorgänge im Gehirn zu untersuchen, die zwar nicht bis ins Bewusstsein der Probanden vordrängen, sehr wohl aber mit ebenfalls messbaren Willkürhandlungen zusammenhingen. Das zeitliche Auftreten dieser (handlungseinleitenden) Hirnprozesse sollte dann – so die Vorstellung der Wissenschaftler – dem Moment der ersten Wahrnehmung eines bewussten Willens chronologisch gegenübergestellt werden. Auf neuronaler Ebene sollte somit festgestellt werden, ob der bewusste Wille eines Individuums tatsächlich der Einleitung einer konkreten Handlung vorausgehe.14

Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wandte sich Libet dem sogenannten Bereitschaftspotenzial zu, welches primär in jenen Hirnarealen lokalisiert ist, die für die Handlungsvorbereitung zuständig sind. Um in der Großhirnrinde eine willkürliche (also nicht bewusst durchgeführte) Handlung auszulösen, müsse dieses Bereitschaftspotenzial eine bestimmte Aktivitätsschwelle überschreiten.15 In den von Libet in den 1980er Jahren durchgeführten Untersuchungen wurde genau dieses Bereitschaftspotenzial gemessen und anschließend dem zeitlichen Willensentschluss der Probanden chronologisch gegenüberstellt. Dazu forderten die Versuchsleiter die Teilnehmenden auf, in einem bestimmten Zeitfenster eine Bewegung mit der rechten Hand durchzuführen. Gleichzeitig wurden die Versuchspersonen angehalten, ihren Blick auf den rotierenden Zeiger einer Uhr zu richten, die im Versuchsraum angebracht war. In exakt dem Moment, in dem die Teilnehmenden die (bewusste) Entscheidung zu einer Bewegung trafen, sollten sie sich schließlich die Position des Zeigers einprägen.16 Das Ergebnis dieser Versuchsreihe erscheint auf den ersten Blick sehr überraschend – auch für die Frage nach der Freiheit menschlicher Willensentscheidungen:

Die Experimente zeigten, daß das Bereitschaftspotential […] dem Willensentschluß vorausging, nicht mit ihm zeitlich zusammenfiel oder ihm etwa folgte. Dies schien zu zeigen, daß die Handlung durch das nicht bewußtseinsfähige Bereitschaftspotential und nicht durch den bewußten Willensakt eingeleitet wird. Dieser tritt erst auf, wenn die Handlung längst eingeleitet ist.17

Da die Versuche Libets in den Folgejahren – auch wegen ihrer Methodik – vielfach kritisiert wurden, stellten die Neurologen Patrick Haggard und Martin Eimer Ende der 1990er Jahre die Experimente unter ähnlichen Bedingungen nach. Jene Aspekte jedoch, die an Benjamin Libets experimenteller Durchführung kritisch rezipiert wurden, verbesserten Haggard und Eimer und ersetzten sie durch eine eigene Methodik.18 Auch Haggard und Eimer kamen vor dem Hintergrund ihrer Versuchsanordnung zu dem Schluss, dass der Beginn des Bereitschaftspotenzials dem Augenblick des freien Willensentschlusses signifikant vorausgehe.19

[...]


1 Luther, Martin, Vom unfreien Willen, Augustdorf 2017, S.4

2 vgl. ebd., S.7

3 vgl. ebd., S.110

4 ebd., S.110

5 ebd., S.36

6 vgl. ebd., S.36

7 ebd., S.33

8 vgl. ebd., S.64f.

9 ebd., S.65

10 Luther, Martin, Briefe von der Wartburg 1521/1522, Eisenach 1991, S.55

11 ebd., S.55

12 Luther, Martin, Von der Freiheit eines Christenmenschen, Tübingen 2017, S.95

13 vgl. ebd., S.95

14 vgl. Pauen, Michael/Roth, Gerhard, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit (= edition unseld 12), Frankfurt am Main 2008, S.73

15 vgl. ebd., S.74

16 vgl. ebd., S.75

17 ebd., S.75

18 vgl. ebd., S.76

19 vgl. ebd., S.77

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Luther und die Hirnforschung. Darstellung und Vergleich zweier Positionen zur Frage der menschlichen Willensfreiheit
Hochschule
Universität Münster  (Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte)
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
27
Katalognummer
V457423
ISBN (eBook)
9783668898011
ISBN (Buch)
9783668898028
Sprache
Deutsch
Schlagworte
luther, hirnforschung, darstellung, vergleich, positionen, frage, willensfreiheit
Arbeit zitieren
Tobias Laubrock (Autor:in), 2019, Luther und die Hirnforschung. Darstellung und Vergleich zweier Positionen zur Frage der menschlichen Willensfreiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457423

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