Das große Hungern. Hunger als Form der Massengewalt im 20. Jahrhundert


Seminararbeit, 2015

30 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Was ist Hunger?

3. Stalins Gewaltherrschaft – Der Holodomor
3.1. Versorgung nach Plan
3.2. Der Holodomor

4. Hunger im Dritten Reich
4.1. Rationalisierungen
4.2. Brot für die „Deutschen“
4.3. Gezielter Hunger
4.4. Hunger in den Konzentrationslagern

5. Die Hungerpolitik - Schlussbemerkung

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dieser Proseminararbeit möchte ich der Fragestellung nachgehen, inwieweit Hunger als Herrschafts- und Vernichtungsmittel bei Masssenverbrechen in den Regimen von Stalin und Hitler gezielt eingesetzt wurde. Wenngleich es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts genügend Beispiele für Hunger bei Massengewalten gibt, taucht dieses „Phänomen“ im Großteil der Genozidforschung quasi als „Nebenprodukt“ auf. Christian Gerlach, ein deutscher Historiker, kritisiert unter anderem in diesem Punkt die gängige Genozidforschung, da sie eine Absicht des Genozids voraussetzt, wonach Genozid oder Massengewalt ein Staatsakt wäre, dem ein Gesamtkonzept zu Grunde liegt. Dies würde eben weitere Prozesse – wie auch Hunger einer ist –als „Begleiterscheinung“ wirken lassen1. Diese „Abschwächung“ von Massenmorden sind eben darauf zurückzuführen, dass diese Themen bisher in der Forschung vernachlässigt wurden2. Meine Frage ist aber, ob und wie Hunger gezielt und gewollt eingesetzt wurde. Ich möchte das Konzept der Massengewalt dem des Genozids vorziehen, da es für Historiker praktikabler ist. Es stützt sich nicht rein auf Opferzahlen, sondern betrachtet auch einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess und auch eine kollektive Teilnahme an der Gewalt3. Das Konzept der Massengewalt erlaubt gerade bei meiner Forschungsfrage das „Phänomen“ Hunger bei Massengewalten in den Regimen von Stalin und Hitler, der sonst als „Begleiterscheinung“ von Misswirtschaft gesehen wird, als eigenständiges Ereignis auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu betrachten.

In meiner Arbeit werde ich zunächst kurz das „Phänomen“ Hunger behandeln und versuchen einen kurzen Überblick darüber zu geben, was Hunger bedeutet. Denn Hunger ist nicht bloß ein gesamtes Phänomen, sondern muss auch differenzierter betrachtet werden. Als ersten Fall werde ich den Holodomor untersuchen. Stalins Gewaltpolitik in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren hat einen großen Teil der ukrainischen Bevölkerung ausgelöscht. Als Grundlage hierfür dienen mir Jörg Baberowski „Verbrannte Erde“, Volodymyr Vassylenko „The Ukrainian Holodomor“ und eine Sammlung von Dokumenten von Ruslan Pyrih. Beim Fallbeispiel des Hitler-Regimes werde ich mir mehrere Ebenen des Hungers ansehen. Denn nicht alle Bevölkerungsgruppen oder „sozialen Gruppen“ wurden gleich versorgt. Die Inhaftierten in Konzentrationslagern, Kriegsgefangene oder die Zivilbevölkerung hatten unterschiedliche Rationalisierungsvorgaben. Diese Verbrechen sind einer sehr breiten Öffentlichkeit bekannt und wurden auch genau beforscht, doch wurde dem Hunger als eigenständiges Phänomen noch wenig Beachtung geschenkt. Einerseits werde ich hier die Berichte von Eugen Kogon und Mali Fritz heranziehen, sowie Untersuchungen von Christian Streit mit seinem Buch „Keine Kameraden“ und Christian Gerlach mit seinen Werken „Kalkulierte Morde“, „Extrem gewalttätige Gesellschaften“ und „Krieg, Ernährung, Völkermord“.

Abschließend werde ich den gezielten Einsatz von Hunger in und während der Massengewalten in den Regimen Stalin und Hitler beschreiben und auch zeigen, dass das „Phänomen“ Hunger durchaus keine „Begleiterscheinung“ von Misswirtschaft ist, sondern als eigenständiges Ereignis im Kontext von Massengewalten betrachtet werden muss.

2. Was ist Hunger?

Hunger ist ein sehr abstraktes Wort, welches einiger Erklärungen bedarf. Der Mensch nimmt Nahrungsmittel (tierische, pflanzliche, mineralische) zu sich, um seinen Energiebedarf zu decken und den Körper wieder zu regenerieren. Die Maßeinheit ist die Kalorie, wobei das WFP (World Food Programme der UNO) den Tagesbedarf eines Erwachsenen auf mindestens 2200 Kilokalorien festgesetzt hat. Nimmt man weniger Kilokalorien zu sich, bekommt man nicht genügend Energie und wenn dieser Kalorienmangel länger andauert, spricht man von Hunger4. Der Begriff Hunger muss aber noch weiter differenziert werden. Das World Food Programme der UNO definiert zwei „Arten“ von Hunger. Das gerade eben Beschriebene wird als Unterernährung bezeichnet. Wenn ein Mensch über einen längeren Zeitraum nicht genügend Kalorien zu sich nimmt, dann ist das eine chronische Unterernährung und er ist nicht mehr fähig, alltägliche Dinge und schwere Arbeit und Anstrengung zu vollbringen5. Neben der eben beschriebenen Unterernährung tritt oft auch die Mangelernährung auf. Wenn ein Mensch mit gewissen (Mikro-)Nährstoffen, wie etwa Eisen, Zink, Vitamine, etc., nicht ausreichend versorgt wird, dann sinkt seine Arbeitskraft und er ist anfälliger auf ansonsten harmlose Krankheiten und kann an ihnen sterben – was bei einem ausreichend ernährten Menschen nicht der Fall ist6. Dieser Zustand war in den Konzentrationslagern ein Hauptbestandteil der Machtausübung der SS gegenüber den „rassisch Minderwertigen“ oder auch der Wehrmacht gegenüber den Kriegsgefangnen. Und Stalin setzte nicht zuletzt den Hunger ein, um an den vermeintlich aufsässigen ukrainischen Bauern ein Exempel zu statuieren und sie sterben zu lassen.

Dieser Hunger wird strukturell produziert. Es werden die Strukturen so geschaffen, dass der Hunger – also sowohl Mangel- als auch Unterernährung – gezielt eintreten. Wenn dieser Fall eintritt, muss man von Massengewalt sprechen. Ein Problem tritt dabei aber auf: Begleitet wird dieser strukturelle Hunger oft vom konjunkturellen Hunger; das heißt der Mangel an Nahrungsmitteln ist auf Ereignisse wie Dürre, Überschwemmungen oder Heuschreckenplagen etc. zurückzuführen7. Die Grenzen zwischen dem gewollten strukturellen Hunger und dem konjunkturellen Hunger sind aber oft nicht klar ersichtlich, da entweder Missernten etc. für einen Hungerplan ausgenutzt wurden oder repressive Regime vor allem in Kriegssituationen die Bevölkerung nicht mehr ernähren konnten und dann mit dem Krieg selbst als Rechtfertigung für den vermehrten Hunger von verfolgten oder inhaftierten „unerwünschten Gruppen“ argumentiert wird. Ausgelassen wird aber, dass die Unterernährung bereits vor diesen Hungerkatastrophen für verfolgte oder inhaftierte „unerwünschte Gruppen“ Tatsache war. Der Hunger war hierbei aber hierarchisch verteilt. Selbst wenn allgemeine Nahrungsmittelknappheit herrschte, was nicht oft der Fall war, litten bestimmte Bevölkerungsgruppen keinen Hunger. Andere litten vermehrt an Hunger8. In meiner Arbeit werde ich den konjunkturellen Hunger weitestgehend nicht beachten. Mir geht es mehr um die Strukturen, die geschaffen wurden, um Menschen hungern zu lassen, beziehungsweise möchte ich aufzeigen, wie durch Hunger Macht ausgeübt wurde.

[...]


1 Gerlach, Christian: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München 2011. 14f.

2 Ebd. 313.

3 Dabag, Mihran: Genozidforschung. Leifragen, Kontoversen, Überlieferung. In: Zeitschrift für Genozidforschung 1 (1999) 6 - 35.

4 Ziegler, Jean: Wir lassen sie verhungern. München 2011. 26.

5 World Food Programme. 2015. Online unter: http://de.wfp.org/hunger/unterernährung (Zugriff am 26. Februar 2015).

6 World Food Programme. 2015. Online unter: http://de.wfp.org/mangelernaehrung (Zugriff am 26. Februar 2015).

7 Nach Ziegler (2011) 32f. in etwas abgeänderter Form verwendet.

8 Gerlach (2011) 362.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Das große Hungern. Hunger als Form der Massengewalt im 20. Jahrhundert
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Zeitgeschichte)
Veranstaltung
PS Säubern und vernichten: Massengewalt im 20. Jahrhundert
Note
2
Autor
Jahr
2015
Seiten
30
Katalognummer
V457389
ISBN (eBook)
9783668888128
ISBN (Buch)
9783668888135
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hunger, Holodomor, Vernichtung, Konzentrationslager, Rationalisierung, Hungerpolitik, Drittes Reich, Sowjetunion
Arbeit zitieren
Dominik Uhl (Autor:in), 2015, Das große Hungern. Hunger als Form der Massengewalt im 20. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457389

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