Robert Musils "Die Amsel": Die Amsel als Schlüssel zum anderen Zustand


Seminararbeit, 1992

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt:

1. Zielbestimmung

2. 'Realzustand' und 'anderer Zustand'
2.1 Die konträren Zustände
2.2 Der 'Realzustand' bei R. Musil
2.3 Musils Vorstellung vom 'anderen Zustand'

3. Die Amsel als Schlüssel zum 'anderen Zustand'
3.1 Die Amsel als Nachtigall und Fliegerpfeil
3.1.1 Die Nachtigall-Amsel
3.1.2 Die Fliegerpfeil-Amsel
3.2 Die Amsel als Mutter

4. Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Zielbestimmung:

Ausgehend von R. Musils Erzählung 'Die Amsel' versucht die vor­liegende Arbeit, sich dem Kernproblem des 'anderen Zustandes' bei R. Musil zu nähern. Sie wird mit einer Gegenüberstellung von 'anderem Zustand' und dem Zustand, von dem er sich abhebt und dem er entgegengesetzt ist, eingeleitet.

Reflexionsobjekt bezüglich der verschiedenen Zustände ist der Protagonist der Erzählung, Azwei. Der ihm gegenübergestellte Gesprächspartner Aeins spielt eine untergeordnete Rolle, denn die "Unterredung" der beiden Hauptfiguren der 'Amsel' kann "fast wie ein Selbstgespräch erzählt werden".[1]

Die mathematische Benennung der beiden Rahmenfiguren (als zwei Ausformungen einer Variablen A) läßt ohnedies den Schluß zu, daß es sich bei ihnen nur um verschiedene Facetten der gleichen Persönlichkeit handelt.

Anhand einer Analyse der drei Episoden, die Azwei in der 'Amsel' erzählt, soll ein Zusammenhang zwischen 'Amsel' und 'anderem Zustand' hergestellt werden, der auch die Funktion be­leuchten soll, die die Amsel bezüglich des 'anderen Zustandes' hat.

2. 'Realzustand' und 'anderer Zustand' bei R. Musil:

2.1 Die konträren Zustände:

Eine Kernfrage in der Wirklichkeitsvorstellung von Robert Musil - nicht nur in seiner Erzählung 'Die Amsel' - bildet das Modell von den verschiedenen Zuständen. Nach dieser Vorstellung lassen sich allgemein zwei verschiedene 'Bewußtseinszustände' unter­scheiden, in denen das Individuum sich befinden kann:

1. Der Zustand, der dem Individuum in seinem gewöhnlichen All­tag von der Gesellschaft vorgeschrieben wird, in den es ge­wissermaßen 'hineinwächst'. Dieser Zustand soll in der Folge als 'Realzustand' bezeichnet werden, da er ein rational faß­barer, objektiv erkennbarer und real vorhandener Zustand ist.
2. Der 'andere Zustand', der sich allein im subjektiven Bewußt­sein des Individuums verwirklicht und damit nicht im eigent­lichen Sinne 'real' ist. Er läßt sich nicht in den gewöhnli­chen Alltag, also den 'Realzustand', übertragen.

Robert Musil versteht den 'anderen Zustand' mithin als den Ge­genzustand zum 'Realzustand', als einen Zustand "zum Gebiet der Mystik und nicht dem der Ratio"[2]. Im 'Realzustand' manifestie­ren sich die Sachzwänge und Lebensvorschriften der Gesell­schaft, die das Individuum einschränken und beengen, seine In­dividualität aushöhlen. Einen Ausweg aus dieser Einlinigkeit der vorgegebenen realen Umstände sieht Musil darin, daß sich das Individuum in den 'anderen Zustand', einen Zustand des Nichtgebundenseins und der individuellen Freiheit, zurückzieht, der allerdings rein subjek­tiv ist und sich auf das Bewußtsein des Menschen beschränkt.

Ausgehend von R. Musils Erzählung 'Die Amsel' werden die beiden konträren Zustände, die Grundlagen für den 'anderen Zustand' und dessen konkrete Ausformung in der Folge darzustellen sein.

2.2 Der 'Realzustand' bei R. Musil:

Der Realzustand bedeutet bei R. Musil fast ausschließlich jenen Zustand, in dem der Mensch sich in seinem gewöhnlichen Alltag befindet. Dieser Zustand wird häufig charakterisiert durch eine

"absolute Unpersönlichkeit und Unfreiheit sowie das Fehlen von jeglichem menschlichen Gehalt in den Dingen".[3]

Diese Unfreiheit und Unpersönlichkeit wird durch die vollstän­dige Einlinigkeit des alltäglichen Lebens bestimmt; es gibt keine individuellen Freiräume im eigentlichen Sinne mehr, son­dern nur noch vorbestimmte und durch die Gesellschaft determi­nierte Handlungsabläufe, die sich in von der Gesellschaft vor­geformten Handlungsräumen abspielen. Am deutlichsten zeigt sich diese Vorstellung von der Vorgeformtheit, Einlinigkeit und De­terminiertheit des Alltagsdaseins in der Beschreibung der seri­enmäßig gebauten Wohnung, in der sich Azwei unmittelbar vor dem ersten Kontakt mit der Amsel aufhält:

"Da hinaus und hinab sehen nun die Küchen und Schlafzim­mer; nahe beieinander liegen sie, wie Liebe und Verdauung am menschlichen Körper. Etagenweise sind die Ehebetten übereinander geschichtet; denn alle Schlafzimmer haben im Haus die gleiche Lage, und Fensterwand, Badezimmerwand, Schrankwand bestimmen den Platz des Bettes fast auf den halben Meter genau. Ebenso etagenweise türmen sich die Speisezimmer übereinander, das Bad mit den weißen Kacheln und der Balkon mit dem roten Lampenschirm. Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbüffet. Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet, wenn man einzieht."[4]

In dieser Beschreibung wird der Zustand der von der Gesell­schaft bestimmten realen Welt faßbar gemacht. Der Mensch wird in vorgeformte Zwänge gepreßt, die kaum Rücksicht auf individu­elle Bedürfnisse nehmen - die Vermassung des Ein­zelnen spiegelt sich in dem von der Gesellschaft geformten Le­bensraum wider. Der Mensch wird gewissermaßen 'entindividualisiert', sein "persönliches Schicksal ist [...] schon vorgerichtet", was in der Konsequenz heißt, daß er kein 'eigenes' persönliches Schicksal mehr hat, keine individuelle Freiheit, das eigene Leben zu bestimmen, sondern vielmehr Teil der Masse wird, die durch die institutionellen Umstände konsti­tuiert ist.

Der Weg, der nach R. Musil in diesen 'Realzustand' führt, ist das schrittweise Eintreten in die Gesellschaft, das 'Sich-Beu­gen' vor den institutionellen Zuständen, das ganz zwangsläufig die Folge eines an die Gesellschaft angepaßten Lebens ist. 'Realzustand' heißt bei ihm,

"aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, feste We­sensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll."[5]

Der 'Realzustand' ist also nach R. Musil mit den gewöhnlichen Sachzwängen verbunden, in die eine bürgerliche Gesellschaft den Menschen drängt, wenn sie ihn 'sozialisiert'. Je weiter man sich in soziale Abhängigkeiten begibt, je mehr Zugeständnisse man an die bürgerliche Ordnung macht (Charakter, Beruf, etc.), desto mehr wird man von den Zwängen eingesponnen, die zur Entindividualisierung im 'Realzustand' führen und das Leben bis zum letzten Augenblick determinieren.

Auch Azwei in der 'Amsel' tritt durch die allmähliche Konstitu­ierung eines bürgerlichen Lebens in diesen 'Realzustand' ein. Bereits in der Studienzeit, einer Phase der Berufswahl, schwärmt er

"für eine materialistische Lebenserklärung, die ohne Seele und Gott den Menschen als physiologische oder wirtschaft­liche Maschine ansieht".[6]

Er entscheidet sich damit bewußt für die mit dem 'Realzustand' einhergehende 'Entmenschlichung', alles Mystische wird zugun­sten des rein Materialistischen verdrängt, der Mensch wird zum seelenlosen Objekt, dessen Gefühle in Anbetracht seiner eigent­lichen Struktur als 'Maschine' keine Bedeutung haben.

2.3 R. Musils Vorstellung vom 'anderen Zustand':

Die Strukturen des 'Realzustand' sind im Alltag durch die Ge­sellschaft so fest verankert, daß eine bewußte Absage an die mit ihm verbundenen Zwänge, eine Wiedergewinnung der Individua­lität und eine Rückkehr zu dem Wunsch des Individuums nach men­schengerechten Lebensumständen im realen Alltag kaum möglich ist. Dem gegenüber steht aber das Bedürfnis des Einzelnen nach einer Verwirklichung der

"Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit, nach einem Le­ben, das sich von demjenigen unterscheidet, in das das In­dividuum aufgrund institutioneller Umstände hineingeworfen wird".[7]

Diese bietet nach R. Musil der 'andere Zustand'. Beim 'anderen Zustand' handelt es sich nicht um eine Veränderung der Alltags­struktur der Gesellschaft, sondern um eine rein subjektive Er­fahrung im Bewußtsein des Einzelnen, die sich in verschiedenen Formen äußern kann. Seine Erfahrungen bedeuten

"die Reaktion - die Umstülpung - eines menschlichen Be­wußtwerdens [...]. Diese Umstülpung führt zur Vision einer anderen Lebensmöglichkeit, einer Einbindung in bisher un­bekannte Beziehungen. Das derart erschütterte Individuum ist dazu verurteilt, gemäß dem Absolutheitsanspruch seiner Persönlichkeit zu leben."[8]

Besonders in der 'Amsel' beschreibt Musil diesen 'anderen Zu­stand' als ein völliges Heraustreten aus der gesellschaftlichen Anbindung. Diese beinhaltet etwa eine Rückkehr zum Bewußtsein der eigenen Individualität, die aber auch mit der völligen Ver­schmelzung von Ich und Welt einhergehen kann, ein Eintauchen in ein zur Außenwelt vollkommen beziehungsloses Ich, das auch die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen des 'Realzustands' bedeu­tet.[9]

Im MoE bringt R. Musil die Gegensätzlichkeit von 'Realzustand' und 'anderem Zustand' auf den Punkt, indem er ausdrückt, daß

"der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. [...] Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreib­lich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge."[10]

Von besonderer Bedeutung ist hier das Wort 'selbstlos'; es cha­rakterisiert nämlich den Ich-Bezug eines Individuums, das sich im 'anderen Zustand' befindet. Im 'Realzustand' ist das Indivi­duum "selbstsüchtig", also durchaus bezogen auf sein eigenes Ich, aber "gleichsam hinaus geprägt", d.h. auf die Zwänge der umgebenden gesellschaftlichen Umstände fixiert und von ihnen determiniert. Im 'anderen Zustand' befindet sich die Persön­lichkeit dagegen in einem Zustand völliger Befreiung von allen Zwängen und Vorschriften, es fühlt 'nach innen', in seinem ei­genen Bewußtsein, das eine völlige Trennung von jeglicher Art faßbarer Struktur in Persönlichkeit und Denken vollzieht und gewissermaßen 'aufweicht'. Wenn alle diese Strukturen aufgelöst sind und miteinander verschwimmen, herrscht eine vollkommene Bezugs- und Zwanglosigkeit, die allein eine Ablösung vom 'Realzustand' ermöglicht - die Ich-Bezogenheit verschwimmt also zugleich mit den Ich-Strukturen und weicht einem Gefühl der Be­freiung von allen Anbindungen an die Welt, die das Individuum in irgendeiner Weise determinieren oder durch Sachzwänge been­gen.

[...]


[1] Musil 1957, S. 522.

[2] Hoppler 1984, S. 190.

[3] Roth 1984, S. 180.

[4] Musil 1957, S. 523.

[5] Musil 1978, S. 250.

[6] Musil 1957, S. 522.

[7] Roth 1984, S. 180 f.

[8] Roth 1984, S. 181.

[9] Vgl. Musil 1957, S. 525.

[10] Musil 1978, S. 687.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Robert Musils "Die Amsel": Die Amsel als Schlüssel zum anderen Zustand
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Deutsches Institut)
Veranstaltung
Der Irrationalismus in der Literatur der Zeit zwischen den Kriegen
Note
1,3
Autor
Jahr
1992
Seiten
18
Katalognummer
V45666
ISBN (eBook)
9783638430258
ISBN (Buch)
9783638763714
Dateigröße
461 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ausgehend von R. Musils Erzählung 'Die Amsel' versucht die Arbeit, sich dem generellen Kernproblem des 'anderen Zustandes' bei R. Musil zu nähern. Anhand einer Analyse der drei Episoden, die in der 'Amsel' erzählt werden, soll ein Zusammenhang zwischen 'Amsel' und 'anderem Zustand' hergestellt werden, der auch die Funktion beleuchten soll, die die Amsel bezüglich dieses Zustandes hat.
Schlagworte
Robert, Musils, Amsel, Schlüssel, Zustand, Irrationalismus, Literatur, Zeit, Kriegen
Arbeit zitieren
Jörg Erdmann (Autor:in), 1992, Robert Musils "Die Amsel": Die Amsel als Schlüssel zum anderen Zustand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45666

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