Zwischen Apologie und Ätiologie. Untersuchungen zu "Petit éloge de la mémoire" von Boualem Sansal


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Zur Einführung

2. Zwischen Apologie und Ätiologie – Boualem Sansals Petit éloge de la mémoire
2.1. Hinführung: Autor und Werk
2.2. Die poetologischen Determinanten
2.3. Apologie und Ätiologie

3. Zusammenfassung

4. Bibliografie

1. Zur Einführung

La littérature est une aventure. Dès qu’on ouvre une porte, celle du roman dans mon cas, il s’en présente une autre, qu’on a aussitôt envie d’ouvrir.1

–Boualem Sansal

Im französischen Verlagshaus Éditions Gallimard erschien im Jahr 2007 der Essay Petit éloge de la mémoire des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal, „sans doute l’écrivain et la voix la plus importante de l’Algérie“ (de Toro 2009: 62). Sansal gehört zu den Schriftstellern, die sich dem Schaffen von Literatur vergleichsweise spät gewidmet haben: Er war fünfzig Jahre alt, als seine erster Roman erschien. Seine Texte zeichnen sich durch eine ausgesprochen kritische Sicht auf sein Heimatland Algerien aus, was sich als umso brisanter, ja gefährlicher erweist, da Sansal – im Gegensatz zu vielen anderen literarisch tätigen Landsleuten – sich entschlossen hat, seinen Lebensmittelpunkt dort zu belassen.

Petit éloge de la mémoire ist eine Schrift, die sich als problematisch erweist, sobald der Versuch unternommen wird, sie einer Literaturgattung zuzuordnen. Abgesehen davon, dass in der Postmoderne die Grenzen zwischen den Genres an Bedeutung verlieren, ineinander fließen und geradezu obsolet werden, soll im Folgenden dennoch zumindest eine Charakterisierung versucht werden, die es erlaubt, das Werk eben nicht nur inhaltlich, sondern in Bezug auf seine Intention zu fassen. Wie im Titel angedeutet, sollen dabei apologetische und ätiologische Elemente herausgestellt und ihre intentionelle Relevanz apostrophiert werden. Methodisch sollen hierzu einzelne Textpassagen einer genauen Lektüre unterzogen werden, um davon eine Interpretation abzuleiten, die um Auszüge aus wissenschaftlichen Untersuchungen und kritische Stimmen bereichert wird.

2. Zwischen Apologie und Ätiologie – Boualem Sansals Petit éloge de la mémoire

2.1. Hinführung: Autor und Werk

Boualem Sansal, geboren 1949 in Tenient el Had im Nordwesten Algeriens unweit der Mittelmeerküste, ist kein ‚ausgebildeter‘ Literat, sondern schlug als promovierter Ingenieur eine Beamtenlaufbahn ein. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts war er im algerischen Industrieministerium tätig und erhielt so tiefe Einblicke in die nationalen Verwaltungs- und Wirtschaftsprinzipien. Sein Debütroman, Le serment des barbares, erschien 1999 und wurde im selben Jahr sowohl mit dem Prix du premier roman als auch mit dem Prix des Tropiques ausgezeichnet. Es folgten weitere Romane, Novellen und Aufsätze, allesamt in französischer Sprache, die aufgrund ihres anprangernden Tenors dazu führten, dass Sansal 2003 von seinem Posten im Ministerium entlassen wurde. Größten Mut beweist er, indem er trotz der potenziellen Gefahr, die ihm als auf Französisch schreibenden, kritischen Algerier droht, seine Heimat bislang nicht verlassen hat. Soukehal stellt das bestehende Risiko in seinem schonungslosen Algerienpor­trät so dar: „Aujourd’hui, les fanatiques religieux d’Algérie égorgent et dépècent en toute liberté ces écrivains francophones qui commettent la faute (qui est à l’origine un choix) de s’exprimer et d’écrire en langue française.“ (Soukehal 1999: 120) Zur Wahl des Französischen bemerkt de Toro unter Verweis auf Abdelkebir Khatibi: „En effet, l’auteur maghrébin ne doit pas seulement s’appro­prier une seule autre langue, mais il doit légitimer cet acte; il s’agit donc d’un processus culturel et autobiographique général.“ (de Toro 2009: 55)

In Petit éloge de la mémoire (fortan PEM) aus dem Jahr 2007 stellt sich Sansal dem enormen Unterfangen, eine 4001-jährige2 Geschichte seines Landes, die im Alten Ägypten beginnt und in der Gegenwart endet, auf vergleichsweise wenigen Seiten abzuhandeln. Er verwendet dazu ein lyrisches je – dessen genaue Identität noch zu klären sein wird –, das sich auf eine Zeitreise durch die Äonen begibt. Die Darstellung erfolgt in Form eines Erlebnis- oder Augenzeugenberichts, wobei das je wechselnde Identitäten annimmt und an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zeiten unterschiedlich lang verweilt. Es liegt also eine hybride Textsorte vor, die historio­grafische, fiktionale und autobiografische Bestandteile in sich vereint. Diese aufgehobenen Grenzen erscheinen ganz im Sinne der kulturtheoretischen Betrachtung de Toros, für den offensichtlich ist, „dass der geschichtswissenschaftliche Diskurs sich in dem Augenblick in die Fiktion begibt, in dem er die sog. Fakten zu interpretieren beginnt bzw. mangels gesicherter Fakten Hypothesen formuliert“ (de Toro 2004: 10; Hervorhebung im Text). Schon in der antiken Geschichtsschreibung war eine ähnliche Unterscheidung Usus: annales bezeichnete die Chronologie vergangener Zeit­alter, die sich auf Realien stützte und deren Leerstellen durch die Imaginationskraft des Autors aufgefüllt wurden, historia/ἱστορία hingegen die zeitgenössische, vom Verfasser selbst erlebte Geschichte.3 Indem Sansals lyrisches Ich in PEM verschiedene Identitäten aus viele Jahrhunderte zurückliegenden Zeiten annimmt, werden Hypothesen über mögliche Umstände in der jeweiligen Epoche formuliert und Faktion hin zur Fiktion transgrediert. Der Gedanke des Auffüllens findet sich auch in der aktuellen Definition der mémoire bei Khaled Zekri: „La mémoire permet de connaître les événements du passé qui ne sont pas forcément consignés par écrit. Les témoins de cette mémoire réactivent et mettent en ordre ces événements selon une logique qui n’obéit pas toujours au principe de vérité.“ (Zekri 2006: 200) Zwar ist Zekris Untersuchung auf Marokko ausgerichtet, doch wird der Begriffsinhalt als allgemeingültig verstanden.

Der Zweck dieser Darstellung, so die leitende Annahme dieser Arbeit, erfüllt eine apologetische Funktion auf der einen, eine ätiologische auf der anderen Seite. Unter Apologie wird dabei eine verteidigende, bisweilen auch entschuldigende Diskursabsicht verstanden; mit Ätiologie sind Darstellungen gemeint, die geeignet sind, die Ursachen bestimmter Gegebenheiten aus ihrer Genese heraus zu erklären. Ganz konkret bedeutet das, dass ich vermute, dass Boualem Sansal als algerischer Bürger mit diesem Werk versucht, dem internationalen Publikum vor Augen zu führen, wie das heutige Algerien tatsächlich beschaffen ist und wie es – unter Rekurs auf die gesellschaftliche, politische und historische Entwicklung – dahin gekommen ist, denn „[s]elon Sansal, un peuple peut se reconnaître et s’identifier avec son pays uniquement s’il accepte son passé multiple“ (de Toro 2009: 73). Vielleicht soll auch so etwas wie Verständnis oder die Fähigkeit zum Nachvollzug generiert werden, was die folgende Untersuchung jedoch erst zeigen muss.

2.2. Die poetologischen Determinanten

Ehe in PEM die Reise durch die Zeiten beginnt, definiert der Autor die nostalgie als Orientierungsgröße, als Kompass bei einer Suche in der Vergangenheit, und schon im zweiten Satz des Essays wird ein Ziel dieser Reise deklariert: „Le tout est de savoir où est son pays, ce qu’il a été, ce qu’il est devenu, comment et pourquoi on s’en est éloigné, et par quel fil on s’y rattache encore“ (9)4. In diesem Satz sind mehrere pro­grammatische Elemente enthalten: savoir setzt voraus, dass der Autor den Anspruch hat, etwas durch Suche und Erkenntnis zu erfahren; pays verweist darauf, dass es sich um eine Erforschung der nationalen Historie damals (ce qu’il a été) und heute (ce qu’il est devenu) handelt. Es ist auch die Verortung der eigenen Identität innerhalb dieses Gefüges geboten, von dem man sich durch so etwas wie Entfremdung gelöst hat (on s’en est éloigné), aber an das man durch besondere mentale Konnexionen (fil) mehr oder weniger stark geknüpft ist. Das Abtauchen in die Vergangenheit, um ebendiese Verbindungen aufspüren und herausstellen zu können, könnte sich – so der Autor – als gefährliches Unterfangen erweisen: „La nostalgie est comme la spéléologie, une démarche risquée, on entre en soi, on avance pas à pas dans les profondeurs de son âme, de sa mémoire, de son histoire, avec toujours l’espoir d’atteindre le fond et de pouvoir retrouver le chemin de retour“ (9–10). Dies kann gleichsam als Warnung an den Leser verstanden werden, denn die Höhlenforschung ist unweigerlich mit Kategorien wie eng, dunkel, kalt, Labyrinth, Eingeschlossen sein und Ausweglosigkeit konnotiert. In einer globalen Sichtweise bedeutet das, dass wir als Leser uns auf Unliebsamkeiten einstellen müssen.

Das lyrische je gibt sich sodann als Reisender zu erkennen, der nach eigenem Gutdünken in seine Erinnerungswelt ab- und aus ihr wieder auftaucht: „Ainsi, mon chemin est balisé, j’ai mes repères, j’entre en nostalgie et j’en sors quand je veux“ (10). Daran wird deutlich, dass es sich nicht um einen ‚traditionellen‘ historischen Abriss handelt, sondern dass das je eine Auswahl getroffen hat und wir es deswegen mit einer subjektiven Darstellung zu tun haben –Fakten und Fiktionen werden in­einander übergehen.

Die historische Betrachtung beginnt im Alten Ägypten, „la mère du monde“ (13), zur Zeit der Pharaonen, irgendwann im 2. Jahrtausend v. Chr., wenn nicht sogar noch früher. Dort nimmt das je die Identität eines Jungen an, dessen Vater in der Metallverarbeitung tätig ist und der selbst eine Ausbildung dort erhält, um später im Tempel lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Das Ägypten jener Zeit zeichnet sich dank des Monarchen, der „régnait comme jamais roi ne l’avait fait avant lui et comme jamais roi ne le ferait après lui“ (23), durch eine nie wieder erreichte Perfektion und Harmonie aus, die ganz im Gegensatz zu den Zuständen der Jetztzeit steht. – Nächster Schauplatz wird Numidien, das sich westlich und südlich von Karthago befand, später römische Provinz wurde und heute dem östlichen Algerien entspricht. Dort, im Norden Afrikas, wo „[l]a religion avait perdu la force qui avait élevé Pharaon au rang de dieu immortel“ (29), nimmt die Geschichte plötzlich eine unheimliche Geschwindigkeit an, es beginnen die Invasionen gegen die Numider. Der Autor streift den Dido-Mythos, die drei Punischen Kriege und den Numiderkönig Massinissa, die Geburt Jesu von Nazareth („un tel homme ne pouvait être qu’un Berbère“ [66]) und landet vergleichsweise unvermittelt im Mittelalter. – Als das je sich dann im dritten Teil des Buches in Algerien verortet, findet es dies bereits unter französischer Herrschaft vor, ein Land, in dem sich alle heimisch fühlen und wiederfinden bis auf die Berber und Araber (vgl. 120). Die Hauptstadt Algier ähnele ihrem Zwilling Marseille, „[u]n îlot de misère dans un empire de prospérité“ (126). Mit der Heimkehr in die Gegenwart und einem Lob auf die endlich erlangte Unabhängigkeit des Landes Algerien endet das Buch schließlich nach 134 Seiten.

Die oben erwähnte Erweiterung des historischen Romans hin zu einer neuen Form entspricht in vorliegenden Fall dem, was de Toro in Anlehnung an Ceballos den transversal-historischen Roman nennt. In einem Artikel aus dem Jahr 2000 stellt de Toro die vier Komponenten zusammen, die postmoderne Werke „von der traditionellen Textsorte des historischen Romans“ (de Toro 2000: 141) unterscheiden. Sie alle finden sich auch in PEM wieder: 1. Die zahlreichen historischen Darstellungen prägen, wie die vorangegangene Inhaltsskizze nachvollziehen lässt, das ganze Bild des Romans. Exemplarisch sei hier auf eine der zahlreichen Passage verwiesen, in der der Autor sachlich historische Fakten darlegt: „Son fils [de Juba Ier] Juba II préféra se mettre tranquillement sous l’aile titulaire de Rome, dont il obtint la citoyenneté de la main même d’Octave, et cultiver les arts, les sciences et les lettres.“ (58) Außerdem werden mitunter reale historiografische Texte zitiert, so von Cato dem Älteren (51), Titus Livius (53–54) und Plutarch (58); auch ein Zitat von Huysmans (50) und eines von Camus ist enthalten (77). 2. Das lyrische Ich hat bei der ‚Erinnerung‘ an Vergangenes teilweise Probleme, wodurch Faktizität und Imagination ineinander über gehen (vgl. de Toro 2000: 141): „Je crois me souvenir que les miens sont venus de cette contrée où le Grand Fleuve prend sa source […]“ (13). An der Stelle „J’ai nommé l’empereur Lucius Septimius Severus Pertinax, dit Septime Sévère“ (64) geht das lyrische je sogar soweit, die Namen historischer Persönlichkeiten mit seiner Urheberschaft zu verknüpfen. Auch orale Elemente spielen eine große Rolle, denn Stellen wie „Écoutez-moi raconter mon pays“ (13) und „Nous ne dûmes notre salut qu’à la fuite chez nos voisins, les Maures“ (75) evozieren den Eindruck, wir hätten es mit einem narrateur im ursprünglichen Sinne zu tun, einem Geschichten erzähler, der aus seinem Geschichten- bzw. Geschichtsrepertoire mündlich vorträgt und dabei sogar den Eindruck zu vermitteln versucht, selbst (nous,notre) am Geschehen beteiligt gewesen zu sein. 3. Das Zitat von Seite 13 in PEM ist auch geeignet, die autoreferenzielle Komponente des Romans herauszustellen: Der Autor kündigt das Kommende an. Ganz am Schluss des Werkes blickt der Autor auf das Zurückliegende bzw. in diesem Falle tatsächlich das Zurückgelegte zurück: „Quatre mille et une années dans le brouillard ne se traversent pas comme ça […]“ (133). Damit wird der Fokus auf die Produktion des Textes, hier auf dessen Abschluss, gelegt und die Diskursgenerierung thematisiert (vgl. de Toro 2000: 141). Den Anspruch des Wahrheitsgehaltes seiner Darstellungen eröffnet das lyrische je, als es im Hinblick auf die Punischen Kriege behauptet: „Il n’est pas d’historien capable de la déchiffrer [cette partie d’échecs politiques] de bout en bout. Foin des livres académiques, ils déforment tout.“ (50) 4. Auch die von de Toro konstatierten Präferenzen für die Außenbereiche der Geschichte lassen sich nachweisen. Sie werden in PEM zwar nicht ins Zentrum gerückt, aber die Darstellung des Alltags ist – zumindest in der ersten Hälfte des Romans – gängiges Gestaltungsmittel, so z. B. als der Autor in „chaque soir ils rentraient le troupeau en comptant chaque tête, se tenant toujours prêts à fuir“ (31) die unsichere Situation der Numider in der alten Zeit darstellt, oder die exzessive Beschreibung der olfaktorischen Qualitäten der antiken Stadt Theben (18–19).

[...]


1. Im Rahmen eines Gesprächs mit Maïssa Bey und Salim Bachi im Mai 2009 an der Universität Louisiana, USA. http://leblogdeahmedhanifi.blogspot.com/2009/06/154-entretien-avec-les-plus-talentueux.html. [29.04.2010]

2. Vgl. den Untertitel des Werkes, Quatre mille et une années de nostalgie, der einen hier nicht näher zu untersuchenden Verweis auf die orientalische Märchensammlung Les Mille et Une Nuits/Tausendundeine Nacht enthält.

3. Vgl. Aulus Gellius, Noctes Atticae, 5,18,1–2: „Certains pensent qu’une histoire (historia) diffère d’ annales en ceci: alors qu’elles sont l’une et les autres le récit d’événements, l’ histoire l’est proprement d’événementshistoire his auxquels participa l’auteur de la narration […]“ (Übers.: Aulu-Gelle: Les nuits attiques par René Marache (1978), Bd. 2, Paris: Les Belles Lettres).

4. Fortan bezeichnen bloße Seitenangaben hinter Zitaten das Primärwerk, nämlich die in der Bibliografie bezeichnete Ausgabe von Petit éloge de la mémoire.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zwischen Apologie und Ätiologie. Untersuchungen zu "Petit éloge de la mémoire" von Boualem Sansal
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Romanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
19
Katalognummer
V456045
ISBN (eBook)
9783668868076
ISBN (Buch)
9783668868083
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sansal, de toro, boualem, Algerien
Arbeit zitieren
René Dietzsch (Autor:in), 2010, Zwischen Apologie und Ätiologie. Untersuchungen zu "Petit éloge de la mémoire" von Boualem Sansal, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456045

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