Schöpfer und Schöpfung. Zum Verhältnis von Elternschaft und Autorschaft in Mary Shelleys "Frankenstein" und Heinrich von Kleists "Der Findling"


Masterarbeit, 2015

83 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Elternschaft und Autorschaft: Eine jahrtausendealte Tradition

Elternschaft und Autorschaft in 'Frankenstein' und 'Der Findling'
Vorgehen
Fragestellungen
Zur Einordnung in den historischen Kontext: Elternschaft und Autorschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Elternschaft im 19. Jahrhundert: Vom 'Haus' zur Kernfamilie
Autorschaft und Rechtsverständnis: Entwicklung des Urheberrechts bis zum
Jahrhundert
Elternschaft als Autorschaft in 'Der Findling'
Elternschaftskonstellationen in 'Der Findling'
Das Findlingsmodell von Autorschaft
Elternschaft als Autorschaft in 'Frankenstein'
Elternschaftskonstellationen in 'Frankenstein'
Das Frankensteinmodell von Autorschaft
'Frankenstein' und 'Der Findling': Gemeinsamkeiten und Unterschiede der
präsentierten Autorschaftsmodelle
Künstlich generierte Elternschaft in 'Frankenstein' und 'Der Findling'
Autorschaft als notwendig scheiternde Elternschaft?
Schrift-Erzeugnisse in 'Frankenstein' und 'Der Findling': Vom Erzeugnis zum
Zeugen

Die Aufhebung der Vernichtung durch Fortschreibung und Rezeption

Quellenverzeichnis

Elternschaft und Autorschaft: Eine jahrtausendealte Tradition

Dass Autorschaft als eine Form von Elternschaft verstanden, mit Elternschaft verglichen oder als Elternschaft metaphorisiert wird oder dass die beiden Konzepte auf die eine oder andere Art für das jeweils andere einstehen, ist ein bekanntes Phänomen mit einer so langen Tradition, dass sich, wie später gezeigt wird, schon in der Antike Beispiele dafür finden lassen.

Eine solche ungebrochene und konsistente Verbindung der zwei Konzepte ist deshalb möglich und geradezu zwingend, weil sie auf derselben Grundlage fußen: Beide beruhen auf einem Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung. Eltern zeugen Kinder, Autoren erzeugen Texte.

Schöpfung ist das Wesentliche, das die beiden Konzepte miteinander verbindet; dies führt aber auch zu weiteren Parallelen: Sowohl Eltern als auch Autoren investieren enorm in ihre Schöpfungen und deren Ausformung bzw. Ausbildung, sei es in Form von Zeit, Geld oder Aufmerksamkeit - sie stecken ihr „Herzblut“ hinein. Sie tun dies, weil sie große Erwartungen an ihre Schöpfungen richten. Die Identifizierung der Schöpfer mit dem Erschaffenen ist in beiden Fällen in der Regel sehr hoch, sowohl von Seiten der Schöpfer selbst als auch im Rückblick der Gesellschaft auf die beiden. Dass die soziale Spiegelung der Zugehörigkeit zueinander so stark ist, hat auch praktische Konsequenzen: Eltern wie Autoren sind für ihre Schöpfungen (im Falle der Eltern zumindest bis zur Volljährigkeit des Kindes) auch rechtlich verantwortlich und werden, wenn diese gegen Gesetze verstoßen, an ihrer Statt zur Rechenschaft gezogen. Gleichzeitig wird ihnen auch das Recht zugestanden, bis zu einem gewissen Grad über ihre Schöpfungen zu entscheiden (im Falle der Eltern wiederum nur bis zu deren Volljährigkeit).

Einige Belege für Instanzen, die Elternschaft und Autorschaft im Laufe der Jahrhunderte als zusammengehörig dargestellt haben, finden sich in den folgenden Absätzen. Beginnen wir mit einem Text, der die meisten Menschen im christlichen Teil der Welt in den letzten zweitausend Jahren konstant von klein auf begleitet hat und der für die meisten Menschen wohl eine der ersten Verknüpfungen von Literatur und Schöpfung ist, mit der sie sich in ihrem Leben auseinandersetzen:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe [das Wort] war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe [das Wort] gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. […] Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. 1

Die Idee, dass „das Wort“ - oder allgemeiner gefasst: Sprache - in der Lage ist, in einem magischen Akt ganze Welten und als Teil dieser Welten auch Menschen zu schaffen, und dass Gott als Vater der Menschheit seine Ebenbilder auf diesem Wege gezeugt hat, ist Teil einer der bekanntesten Stellen des Neuen Testaments und damit ein grundlegender Bestandteil christlich geprägter Kulturen.

Diese Idee ist genau genommen sogar noch älter als das Christentum; schon im Alten Testament, etwas anders formuliert, schafft Gott die Welt, nachdem er dieses Vorhaben ausgesprochen hat (was, da es noch niemanden gibt, der ihn hören kann, nur den Zweck der Kreation selbst haben kann):

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. 2

Nicht nur in der christlich, sondern auch in der jüdisch geprägten Welt spielt die Idee der Schöpfung und der (Gott-)Vaterschaft durch Sprache also schon seit mindestens zweieinhalbtausend Jahren 3 eine existentielle Rolle im Weltverständnis der Menschen.

Wie Gott schafft auch der Schriftsteller eine Welt dadurch, dass er sie sprachlich konstituiert. Er schreibt Worte auf und erschafft dadurch fiktive Orte und Figuren. Folglich ist er der Gott dieser neuen Welt und der Gott-Vater der Figuren, die in dieser Welt leben; ohne ihn würden sie nicht existieren.

Solche Verknüpfungen von Vaterschaft und sprachlicher Schöpfung beschränken sich natürlich nicht auf antike religiöse Texte, sondern lassen sich durchaus auch in neueren und weltlich orientierten Komödien finden: In The Importance of Being Earnest von Oscar Wilde beispielsweise wird der Säugling Earnest mit einem Romanmanuskript vertauscht, wobei sowohl das Manuskript als auch das Kind verloren gehen. Das Manuskript wird dann - statt des Kindes - im Kinderwagen wiedergefunden, wovon das ehemalige Kindermädchen, Autorin des Werkes, genau dann erfährt, als auch das verschwundene Kind wieder-'gefunden' bzw. erkannt wird. Das Schicksal des literarischen Werkes und des Kindes verhalten sich also spiegelbildlich zueinander. 4

Auch in der Alltagssprache und im wissenschaftlichen Diskurs werden die Begriffe „Vater“ oder “Mutter“ häufig synonym für Autoren verwendet, die etwas grundlegend Neues schaffen: Wer einen neuen Diskurs oder ein neues Genre begründet, der wird auch als Vater oder Mutter dieses neuen Bereichs bezeichnet. Einige Beispiele hierfür sind die Titulierungen von Jules Verne oder Hugo Gernsback als „Vater der Science Fiction“, 5 von Sigmund Freud als „Vater der Psychoanalyse“ 6 oder von Ann Radcliffe als „mother of the gothic novel“. 7

Auch in der Psychoanalyse werden Dichtung und Zeugung verwoben. Das Phantasieren, wovon das Dichten laut Freud eine Unterart darstellt, wird von ihm als eine Ersatzbefriedigung für unerfüllte Wünsche vor allem erotischer Natur verstanden, d.h. das Schreiben substituiert den Sex:

Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische. […] [S]o können wir an den meisten ehrgeizigen Phantasien in irgendeinem Winkel die Dame entdecken, für die der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er alle Erfolge zu Füßen legt. 8

Auch vordergründig dem Ehrgeiz geschuldete Phantasien beruhen Freud zufolge also letztlich auf unerfüllten erotischen Triebwünschen. Das Produkt des Schreibens, der Text, ersetzt folgerichtig das Resultat des geschlechtlichen Austausches, das Kind.

Auch die Etymologie des Begriffes „Autor“ lässt Parallelen zur Elternschaft erkennen: 9 Das lateinische 'auctor' bezeichnet nebem dem schriftstellerischen Autor auch den Urheber oder Schöpfer. Eltern aber sind die Schöpfer und Urheber ihrer Kinder. Das Stammwort 'augere' bezeichnet jene Aufgaben, die Eltern an ihren Kindern erfüllen: Es kann 'wachsen machen', 'mehren' oder 'fördern' bedeuten. Auch für 'auctoritas', die Autorität, ist 'augere' das Stammwort, und Eltern sind die erste Autorität im Leben ihrer Kinder.

Zudem sind die Begriffe „Eltern“ und „Autoren“ auch alltagssprachlich verbunden: „auteur“ hat im Französischen neben der offensichtlichen Bedeutung des Autors auch die des Vaters. Der Ausdruck „les auteurs de mes jours“ meint beide Eltern auf einmal. 10

Auch die beiden Werke, die in dieser Arbeit besprochen werden sollen, setzen sich mit dem Themenkomplex Elternschaft und Schaffenskraft auseinander. In Übereinstimmung mit der jahrtausendealten Deutungstradition will ich auch bei diesen zwei Texten des beginnenden 19. Jahrhunderts diese elterliche Kreativität als eine sprachlich-künstlerische und literarische deuten.

Der Findling, eine deutsche Novelle des Dichters Heinrich von Kleist, stammt aus dem Jahr 1811. Frankenstein or The Modern Prometheus ist ein englischer Roman aus der Feder einer Frau, Mary Wollstonecraft Shelley, und erschien in seiner ursprünglichen Form, mit der ich im Folgenden auch arbeiten werde, im Jahre 1818, zunächst ohne

Namensangabe. Von Frankenstein erschienen später noch weitere, von der Autorin teils stark veränderte Ausgaben; beim Findling ist dies nicht der Fall und auch nicht möglich, da der Autor noch im Jahr des Erscheinens des Textes verstarb.

In beiden Texten geht es um die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Anders als in vielen anderen Werken, die Elternschaft als Bild für kreative Schaffenskraft verwenden, sind in diesen Prosatexten die Väter nicht die leiblichen Väter ihrer Söhne und haben auch sonst keine anderen leiblichen Kinder (mehr), sondern sind auf künstlichem Wege zu ihren Söhnen gekommen. In beiden Texten wird die Entwicklung des Sohnes zum Erwachsenen dargestellt, und beide enden damit, dass sowohl Vater als auch Sohn sterben.

Dass diese Werke sich gerade mit den künstlich entstandenen Varianten von Elternschaft beschäftigen, ist es, was sie unter all den Texten, die sich anhand des Elternschaftsmotivs mit kreativem Schaffen auseinandersetzen, besonders interessant macht. Künstliche, künstlerische Elternschaft steht im Mittelpunkt des Interesses dieser Arbeit, da das dichterische Schreiben Sprach-Kunst ist. Wie sich dieser Unterschied auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern auswirkt und was daraus für das Verständnis von Autorschaft folgt, das in den beiden Werken präsentiert wird, soll im Folgenden untersucht werden. Meine These lautet dabei, dass die Texte die Auseinandersetzung ihrer Autoren mit dem künstlerischen Schöpfungsprozess widerspiegeln. Ich gehe hierbei davon aus, dass die im Text erwähnten Kinder das literarische Werk repräsentieren und die Familie der Kinder die Personen, die in Relation zum Werk stehen, allen voran die Eltern, die für den literarischen Autor stehen. 11 Wenn diese Annahme stimmt, sollte auch Schriftstücken, die im Text vorkommen, eine besondere Bedeutung zukommen, da sich in ihnen der Standpunkt des Autors zum Schöpfungsprozess verdichten sollte.

Neben den bereits weiter oben erwähnten Verbindungen von künstlerischem und elterlichem Erschaffen ist eine weitere Grundlage für diese These die Tatsache, dass literarische Texte häufig als Kopfgeburten bezeichnet werden, und damit implizit als Kinder, die aus dem Kopf des Autors schlüpfen. Auch die etymologische Verbindung der Begriffe „zeugen“, „erzeugen“ und „bezeugen“ hat zu dieser Über-Zeugung

beigetragen: Kinder werden ge-zeugt und be-zeugen daraufhin das Leben ihrer Eltern; sie tragen die Erinnerung an sie nach deren Tod in sich weiter, erzählen von ihnen und sorgen dafür, dass ihr Lebenswerk fortbesteht. Texte werden er-zeugt, doch auch sie be-zeugen die Gedanken des Autors und erhalten sie für die Nachwelt, so dass sein Lebenswerk auch nach seinem Tod erhalten bleibt.

Elternschaft und Autorschaft in 'Frankenstein' und 'Der

Findling'

Vorgehen

Zunächst werde ich die Fragestellungen darlegen, die durch die Analysen der Elternschaftsdarstellungen in den beiden Texten beantwortet werden sollen, ebenso wie die Fragen, die sich aus der Deutung dieser Darstellungen als Autorschaft ergeben. Diese Fragen werde ich zu beantworten versuchen, indem ich nah am Text arbeite und aus den einzelnen Informationen, die mir der jeweilige Text zur Verfügung stellt, abstrahiere, d.h., ich bewege mich vom Einzelnen zum Allgemeinen, gehe also methodisch induktiv vor.

Um entscheiden zu können, ob die Familien, die in den Texten vorgestellt werden, der Norm zur Zeit der Entstehung der Texte entsprechen oder ob sie aus dem üblichen Rahmen fallen, ist es notwendig, vor Beginn der eigentlichen Untersuchung einen kurzen historischen Überblick über das Familienleben im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu geben. Die Darstellung der juristischen Voraussetzungen des Verhältnisses von Autor und Text erfolgt im Anschluß als Exkurs zur Entstehung des Urheberrechts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.

Nach dieser historischen Darlegung wende ich mich der detaillierten Untersuchung der Texte zu. Zunächst werden die Verwandschaftsverhältnisse der jeweiligen Familienmitglieder im Detail geprüft. (Bei der Untersuchung von Der Findling kann ich dabei zum Teil bereits auf Erkenntnisse einer Seminararbeit zurückgreifen, die im Anhang zur Verfügung gestellt wird.) Daraufhin werde ich mich auf die primäre Vater-Sohn-Beziehung des Textes konzentrieren und sie analysieren.

Auf der Grundlage der Analyseergebnisse der Familien- und insbesondere der Eltern-Kind-Beziehungen werde ich daraufhin den Autorschaftsbegriff entwickeln, der diesen Darstellungen zugrunde liegt.

Im Anschluß werden im Vergleich der beiden Texte die entscheidenden Differenzen und Parallelen in der dargestellten Elternschaft und Autorschaft herausgearbeitet.

Fragestellungen

Im Verlauf dieser Arbeit möchte ich einige Fragen beantworten, die sich einerseits auf die konkret in den Texten dargestelle Elternschaft, andererseits auf deren mögliche Interpretation als Autorschaftsmodell beziehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Eltern-Kind-Beziehung, wie sie in den Texten dargestellt wird, vom Autor des Textes als Aussage über die Beziehung zwischen Autor und Werk gedacht ist, der Text also die Umstände und Gründe seiner eigenen Entstehung und Existenz reflektiert. Die behandelte Literatur ist selbstreflexiv. Daher werden auch Erwähnungen von Schriftstücken in den Texten genauer untersucht.

Frankenstein und Der Findling werden dabei zunächst unabhängig voneinander untersucht, damit sich die Zusammenhänge innerhalb des jeweiligen Textes deutlicher abzeichnen. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden:

1. Welchen „Zweck“ hat Elternschaft diesen Texten zufolge für Eltern, weshalb entscheiden sie sich trotz der damit verbundenen Mühen und Kosten dafür, Kinder großzuziehen?
2. Welche möglichen Gründe liegen der „künstlichen“ Vaterschaft von Antonio Piachi und Victor Frankenstein zugrunde?
3. Wie unterscheidet sich die künstliche Herstellung des Elternschaftsverhältnisses von der natürlichen?
4. Wirken sich diese Unterschiede auf die Eltern-Kind-Beziehung aus und wenn ja,in welcher Form?
5. Ist künstliche Elternschaft im Hinblick auf die angestrebten Zwecke der Elternals geeigneter Ersatz zu betrachten?
6. Was bezwecken Autoren diesem Modell zufolge mit dem Erschaffen von Werken?
7. Wie entsteht diesem Modell zufolge ein literarisches Werk? Wer ist an seiner Entstehung beteiligt?
8. Wie verhalten sich dem dargestellten Autorschaftsmodell zufolge Autor und Text zueinander, nachdem das Werk fertiggestellt wurde und welche Rolle spielt die Artifizialität, die der Autorschaft eigen ist, dabei?
9. Wie beantwortet das dargestellte Autorschaftsmodell die Frage, ob die Autoren mit ihrem Zielvorhaben beim Verfassen der Werke Erfolg haben?
10. Welche Vorstellung von Schöpfung liegt diesem Modell zugrunde?
11. Was haben die Autorschaftsmodelle, die Frankenstein und Der Findling zugrundeliegen, gemeinsam, was unterscheidet sie?
12. Welche Auswirkungen haben Schrift-Erzeugnisse auf den Verlauf der Handlung und welche Bedeutung tragen sie für die Einschätzung des Romans bzw. der Novelle für den Leser?

Zur Einordnung in den historischen Kontext: Elternschaft und Autorschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Elternschaft im 19. Jahrhundert: Vom 'Haus' zur Kernfamilie

Oft wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Familieneinheit, wie wir sie heute als Standardmodell kennen, bestehend aus Vater, Mutter und ihren gemeinsamen minderjährigen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt, schon immer die dominante und akzeptierte Form der Lebensgemeinschaft war. Dies war aber keineswegs immer der Fall. Zum Einen unterscheiden sich die Ausprägungen der Familienformen stark je nach Schicht, zum anderen änderten sich die Lebensmodelle auch innerhalb der Schichten im Laufe der Jahrhunderte durch den Einfluss politischer, rechtlicher und technischer Entwicklungen. Da sich die beiden Primärtexte dieser Arbeit mit Figuren aus dem gehobenen Bürgertum und Adel beschäftigen, werden bei diesem kurzen historischen Abriß der Familien- und damit auch Elterngeschichte vor allem diese Gruppen im Vordergrund stehen.

Der Begriff 'Familie' wird im Deutschen erst seit Ende des 17. Jahrhunderts verwendet, bezeichnete damals aber nicht die Kernfamilie, sondern war zunächst gleichbedeutend mit dem Begriff 'Haus', 12 der „die Gesamtheit der unter dem Regiment des Hausvaters stehenden Personen umfaßt, sofern sie zusammen arbeiteten, wohnten und aßen“. 13 Dazu gehörte auch das Gesinde und alle anderen Personen, die im Haushalt lebten. Dieser Verband wurde vom Hausvater geleitet. Für die Kernfamilie im heutigen Sinne gab es lange keine eigene Bezeichnung.

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also zur Zeit der Entstehung der hier behandelten Werke, änderten sich die Ehe- und Familienkonzepte allmählich. Die religiöse Legitimation der Vormachtstellung des Hausvaters, die zuvor vorherrschte, wurde nicht mehr akzeptiert und so wurde die Familie nun als Vertragswerk verstanden. Jedes Familienmitglied hatte bestimmte Pflichten, wobei diese vertraglichen Vereinbarungen auch wieder gekündigt werden konnten.

Die aufklärungskritische Strömung der Romantik war mit diesem Konzept nicht zufrieden und stellte ihm ein auf Liebe begründetes Familienkonzept gegenüber, das später „zum Leitbild bürgerlichen Familienlebens“ 14 wurde.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (also auch zur Zeit der Entstehung von Frankenstein und Der Findling) lag die Zahl der Geburten im Bildungsbürgertum (dem die Familie Frankenstein angehört) bei knapp sechs Kindern pro Ehe, eine Zahl, die keine der Familien in den beiden Texten auch nur ansatzweise erreicht. 15 Möglichkeiten der Familienplanung und Geburtenbeschränkung waren bereits zumindest in einem Teil der Bevölkerung bekannt, 16 hatten aber offensichtlich noch keine großen Auswirkungen auf die durchschnittliche Kinderzahl.

Das Personal der bürgerlichen Familien lebte und aß nicht mehr wie früher (oder wie bei Bauern teilweise immer noch üblich) in den gleichen Räumen mit der Familie zusammen, sondern hatte ein Dienstbotenzentrum im Souterrain des Hauses und konnte bei Bedarf mit einer Klingel gerufen werden. 17 Zugleich entwickelten sich eigene Arbeits-, Schlaf- und Kinderzimmer, sodass sich nicht nur die Familie vom Personal, sondern auch die einzelnen Familienmitglieder voneinander zurückziehen konnten. 18

Die Ehe war seit dem 12. Jahrhundert Sache der Kirche und damit lange kein Teil der bürgerlichen Rechtsordnung, sondern ein Gegenstand des Kirchenrechts. Dies ändert sich um den Jahrhundertwechsel: ab 1794 ist die Ehe im Preußischen Landrecht „nur noch ein privatrechtlicher Vertrag, der durch die freie Einwilligung beider Teile“ 19 geschlossen wird. Die Ziele der Ehe werden folgendermaßen festgelegt: „Die Ehe ist ein Kontrakt, durch welchen zwei Personen verschiedenen Geschlechts sich verbinden, vereinigt zu leben, Kinder miteinander zu erzeugen und zu erziehen und sich in ihren Bedürfnissen gegenseitig Hilfe und Unterstützung zu leisten“. 20 Im Laufe des 19. Jahrhunderts aber wendet sich dieses rein juristische Eheverständnis wieder und Naturrechtsphilosophen wie Johann Gottlieb Fichte widersprechen einem Verständnis der Ehe als „bloß juridische[r] Gesellschaft“ 21 und sehen sie stattdessen als eine „durch den Geschlechtstrieb begründete vollkommene Vereinigung zweier Personen beiderlei Geschlechts, die ihr eigner Zweck ist“; 22 Die Ehefrau soll die Erfüllung ihrer natürlichen Triebe darin finden, sich ihrem Ehemann (vor allem sexuell) hinzugeben und ihn zu befriedigen. 23

Die Partnerwahl unterlag den Großteil des 19. Jahrhunderts über in vielen Ländern noch erheblichen Einschränkungen: Zum Einen hatten Eltern und Gemeinden ein Einspruchsrecht, 24 zum Anderen musste man einen „ausreichenden Nahrungsstand“ nachweisen können, bevor eine Heiratserlaubnis erteilt wurde, wobei die Entscheidung darüber, was als ausreichend galt, von den einzelnen Gemeinden abhing. 25 In Preußen (Kleists Heimat) jedoch wurden solche Beschränkungen bereits 1794 im Allgemeinen Landrecht abgeschafft; die einzige bleibende Einschränkung war das Verbot der standesübergreifenden Heirat 26 (eine solche wird im Findling zwischen Antonio, dem Bürger, und Elvire, der Adligen, geschlossen; allerdings befinden sich die beiden nicht in Preußen, sondern in Italien, womit rechtliche Inkongruenzen im Text vermieden werden).

Zwischen 1750 und 1850 nahm europaweit die Zahl unehelicher Geburten zu: 10 bis 20% aller Geburten waren unehelich. In einigen Regionen stieg der Anteil sogar auf über die Hälfte. 27

Während es im ländlichen Raum üblich war, auch vor der Heirat schon sexuell aktiv zu sein, sofern eine Verlobung stattgefunden hatte oder wenigstens ein Eheversprechen gegeben worden war, 28 war Sexualität im Bürgertum im 19. Jahrhundert nur im Rahmen der Ehe akzeptiert. Frauen, die uneheliche Kinder bekamen, ruinierten damit ihre Chancen, standesgemäß zu heiraten. Mädchen wurden daher streng beaufsichtigt und ihnen wurde das Ausleben ihrer Sexualität untersagt. Bürgerliche Männer aber konnten in der Regel relativ folgenfrei sexuelle Kontakte vor der Ehe haben; Frauen, die dabei geschwängert wurden, entschädigte man finanziell oder leugnete die Vaterschaft. Auch die Inanspruchnahme der Leistungen von Prostituierten wurde gesellschaftlich als eine Art Ventil in Kauf genommen. 29

Die Bürger verfolgten ein Liebesideal, das die Ehe als „sinnliche und geistige Zuneigung integrierende Liebesehe“ 30 verstand. Ausgehend von den autobiographischen Aufzeichnungen des Bürgertums kann davon ausgegangen werden, dass dieses Ideal sich auch auf die tatsächlichen Ehen auswirkte, die als „intensive[] eheliche[] Partnerbeziehungen“ 31 gelebt wurden.

Anders als bei Bauern und Arbeitern, die aufgrund ihrer Lebensumstände häufig nicht die Möglichkeit hatten, ihre Kinder rund um die Uhr zu versorgen oder Säuglinge immer zu stillen (zum Beispiel, weil die Mütter mit dem Einholen der Ernte beschäftigt waren) und die aufgrund der Belastungen, die durch kleine, noch arbeitsunfähige Kinder entstanden, häufig ambivalente Beziehungen zu ihren Kindern hatten, pflegte das gehobene Bürgertum schon seit dem Mittelalter eine sehr emphatische Beziehung zu seinen Kindern, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts noch verstärkte. 32 Das veränderte Verständnis von Ehe führte auch dazu, dass das Kind als Liebesbeweis des Paares wahrgenommen wurde und Frauen sich daher intensiv mit ihren Kindern beschäftigten, ihnen viel körperliche Nähe zukommen ließen und sie gern selbst stillten. In den oberen Gesellschaftsschichten nahm die Kindersterblichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts daher ab. 33

Kinder wurden im Bürgertum sentimentalisiert: Sie galten als „reine und göttliche Wesen auf der Erde“. 34 Daher wurden sie aus der Welt der Erwachsenen entfernt und bekamen ihren eigenen Raum,das kinderzimmer. 35

Autorschaft und Rechtsverständnis: Entwicklung des Urheberrechts bis zum 19. Jahrhundert

Gieseke zufolge konnten Dichtungen in der Antike und im Mittelalter nur mündlich oder handschriftlich verbreitet werden, was dazu führte, dass es kein Urheberrecht gab: Eine Weiterverbreitung durch andere Personen war für den Urheber schließlich die einzige Möglichkeit, ein großes Publikum zu erreichen. Zudem bestand besonders bei der mündlichen Verbreitung immer die Möglichkeit, dass der Text abgewandelt wurde, was die Zuordnung zum Urheber erschwerte. Wurden Werke handschriftlich festgehalten, so handelte es sich häufig um alte Texte, bei denen Konflikte mit dem Urheber ohnehin schon allein deshalb ausgeschlossen waren, weil dieser längst nicht mehr lebte. Darüber hinaus war aber ohnehin das Verständnis vorherrschend, dass der Urheber geistiger Werke an ihnen nicht mehr Rechte habe als die Allgemeinheit. In Rom gab es zwar zeitweise bereits Schriftsteller, die ihre Manuskripte verkauften und von diesem Verkauf zu leben versuchten, doch konnte auch dann nach der Veröffentlichung jeder nach Belieben Abschriften herstellen lassen. 36 Der Begriff des geistigen Diebstahls war dennoch schon in der Antike bekannt: Das Werk eines anderen als das eigene auszugeben, wurde schon damals moralisch verurteilt, doch es ist kein Fall bekannt, in dem auch rechtliche Schritte dagegen unternommen wurden. 37

Wie Höffner feststellt, sind aus dem 16. Jahrhundert vor allem Aussagen Luthers zu den Nachdruckern bekannt, deren Tätigkeit er als „grosse öffentliche Reuberey […] die Gott auch wol straffen wird“ bezeichnete. Während dies heute häufig als Verurteilung des Nachdruckens überhaupt verstanden und davon ausgegangen wird, Luther habe auf ein exklusives Vervielfältigungsrecht des Autors gepocht, ist Höffner zufolge viel mehr davon auszugehen, dass es Luther dabei um Fehler ging, die sich bei den Nachdruckern in die Texte einschlichen. Prinzipiell schätzte er die beschleunigte Verbreitung seiner Lehren durch die Nachdrucke. Finanziell hatte er nichts zu verlieren, da er von den Verlegern ohnehin kein Honorar erhielt. Was ihn störte, war die Tatsache, dass die Nachdrucke nicht ordentlich und fehlerfrei hergestellt wurden. 38

Zwar profitierten Autoren häufig noch nicht von ihrer Arbeit, doch konnten sie für ihre Werke bereits bestraft werden: 1541 beispielsweise wurde im Abschied des Reichstags zu Regensburg (29. Juli) festgehalten,

daß hinfüro in dem Heil. Reich keine Schmähschrifften, wie die Namen haben mogen, g e t r u c k t , f e y l g e h a b t , k a u f f t , n o c h v e r k a u f f t , sondern wo die Ti cht er, Tr ucker, K auffer oder Verkauffer be treten , darauf eine jede Obrigkeit fleißig Aufsehens zu haben verfügen, daß dieselben nach Gelegenheit der S c h m ä h s c h r i f f t e n , so bey ihnen erfunden, ernstlich und härtiglich gestrafft werden sollen. 39

Es wurden also nicht nur Werke verboten und vernichtet, sondern auch deren Drucker und Dichter („Tichter“) für die Produktion und Vervielfältigung der Texte bestraft. Wie „ernstlich und härtiglich“ diese Strafen ausfallen konnten, lässt sich z.B. an Luther sehen, der für vogelfrei erklärt wurde, d.h. er konnte von jedem straffrei getötet werden. 40 Das zeigt, dass die Idee geistigen Eigentums - und einer Verantwortung für dieses Eigentum, wenn auch nur im strafrechtlichen Sinne - bereits im 16. Jahrhundert existierte.

Dabei wurde diese rechtliche Verknüpfung mit dem Text nicht auf Autoren beschränkt, sondern auch Drucker, Käufer und Verkäufer strafrechtlich relevanter Texte wurden zur Verantwortung gezogen: Die Anerkennung ihres Anteils am Entstehungs- und Verbreitungsprozess des Textes spiegelt sich in den Strafandrohungen wider.

Im 18. Jahrhundert war es bereits üblich, dass Autoren für ihre Manuskripte honoriert wurden; Die Verleger gaben ihnen dafür in der Regel eine einmalige Zahlung. Kopien oder Nachdrucke der Bücher konnten allerdings auch in dieser Zeit nicht auf rechtlichem Wege unterbunden werden, worunter auch Goethe zu leiden hatte, als sein G ö tz von Berlichingen, den er zunächst eigenständig hatte drucken lassen, von Verlegern ohne Erlaubnis nachgedruckt wurde. Ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor Luther beschwerte auch er sich nicht darüber, dass ihm dadurch Einkünfte entgingen (obwohl dies durchaus der Fall war). Was auch ihn störte, war die mangelnde Sorgfalt, mit der die Nachdrucke hergestellt worden waren. 41

Wirkliche Urhebergesetze, die vor unautorisierten Nachdrucken schützten, entstanden im deutschsprachigen Raum erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 42 lange nach dem ersten Erscheinen von Kleists Der Findling. Die Idee war allerdings schon älter; bereits seit dem 17. Jahrhundert feilten die Buchhändler an einer „rechtliche[n] Konstruktion, den Nachdruck ohne Privileg zu unterbinden“, 43 für die sie allerdings lange keine geeignete Form hatten finden können. Was es bereits gab, waren Privilegienrechte, die einzelnen Autoren, Druckern oder Buchhändlern die Rechte an Texten zusicherten, doch das System war chaotisch und „zeichnete sich durch Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit aus“. 44 Ganz anders war die Situation in England: Dort hatte die Buchhändlergilde (zu der es in Deutschland keine Entsprechung gab) im 17. Jahrhundert bereits das Copyright entwickelt. 45 In beiden Ländern war die Entwicklung eines rechtlichen Schutzes - wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten - in erster Linie nicht den Autoren, sondern vor allem den Buchhändlern zu verdanken.

Diese erstritten in Deutschland weitreichende Urheberrechte - nicht, weil sie Mitgefühl mit den Autoren gehabt hätten, sondern weil sie ihnen diese Urheberrechte mit der Zahlung eines Honorars abkaufen konnten und dann selbst besaßen. Sie konnten das Manuskript dann „unbehelligt vom Autor oder von Dritten“ 46 nach Gutdünken vervielfältigen und verbreiten.

Auch, wenn es die Buchhändler waren, die diese Änderungen herbeiführten, zeigte die dazu führende Argumentation dennoch, dass der Autor als Urheber des Werkes anerkannt wurde. So findet sich z.B. in Zedlers Universal-Lexikon unter dem Stichwort „Nachdruck derer Bücher“ folgender Abschnitt:

Daß dasjenige, was ihre eigene Erfindungs-Krafft hervor gebracht und ihr unermüdeter Fleiß in gute Ordnung zusammen gesetzt hat, ihr eigen sey, wird niemand leugnen. Ist es ihr Eigenthum; so steht es ihnen frey, sich desselben, als eines Mittels ihrer Erhaltung, nach eigenen Gefallen zu gebrauchen, wie es ihnen rathsam dünckt, besagten Zweck am bequemsten zu erhalten. 47

Diese Freiheit konnte der Autor durch die Übertragung an einen Verleger mit einem Kaufvertrag verlieren, war dann aber immer noch der Werkinhaber, auch wenn ein anderer die Vervielfältigungsrechte besaß. 48

Elternschaft als Autorschaft in 'Der Findling'

Elternschaftskonstellationen in 'Der Findling'

Im folgenden Kapitel werde ich die verwandschaftlichen Beziehungen der Mitglieder der Familie Piachi aus Kleists Erzählung Der Findling aus dem Jahre 1811 untersuchen, wobei ich mit einem Überblick über die gesamte Familie beginnen und mich dann insbesondere auf die Eltern-Kind-Beziehungen zwischen Antonio Piachi bzw. Elvire Piachi und dem Sohn Nicolo konzentrieren werde.

Dass in den Kleistschen Werken die Motive „Geschlechtsverkehr, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt“ 49 sehr oft eine zentrale Position einnehmen, ist, wie auch Helmut Schneider feststellt, für jeden Leser, der sich mit mehreren Werken Kleists beschäftigt hat, offensichtlich. Auch Der Findling bildet hier keine Ausnahme:

In dieser Novelle ist kaum eine Eltern-Kind-Beziehung so, wie sie auf den ersten Blick scheint. Die Rolle im Familiengefüge, die die verschiedenen Figuren einnehmen, ändert sich sowohl im zeitlichen Verlauf der Erzählung als auch auf verschiedenen Textschichten oder Leseebenen, wobei diese Verschiebungen und Wechsel der Rollen wie Spiegelungen in einem Kaleidoskop funktionieren: Die Rollen kehren sich um (der Sohn wird zum Vater und umgekehrt, der leibliche Vater zum Adoptivvater, die Stiefund Adoptivmutter zur leiblichen Mutter usw.), wiederholen sich in anderen Figuren oder werden verzerrt, was ich bereits in der Seminararbeit Kaleidoskopische Spiegelungen in Kleists 'Der Findling' nachgewiesen habe. 50

Silke-Maria Weinecks Formulierung „pursuit of double or triple paternity“ 51 trifft es dabei nicht ganz, da zum Einen nicht nur die Vater-, sondern teils auch die Mutterschaft von diesen Verzerrungen betroffen ist und zum Anderen die Elternschaftsverhältnisse nicht parallel bestehen und doppelt oder dreifach zählen, sondern sich ständig gegenseitig zum Kollabieren bringen: Die Elternschaft des Einen stellt die des Anderen infrage. Wie in einem Kaleidoskop bestehen zwar verschiedene

Kombinationsmöglichkeiten der (Figuren-)Elemente, jedoch kann nicht mehr als eine dieser Möglichkeiten gleichzeitig existieren.

Elvire Piachi ist als Jugendliche zunächst Tochter, nämlich die Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers. 52 Es ist wahrscheinlich, dass sie nach ihrer Rettung aus dem brennenden Haus ihres Vaters zur Mutter wird, indem sie von ihrem Retter, einem genuesischen Ritter namens Colino, geschwängert wird; Dass sie später Antonio, einen Bürger, heiratet, obwohl sie selbst adlig ist, weist darauf hin, dass zuvor etwas passiert ist, das sie in ihrem ursprünglichen sozialen Gefüge als nicht mehr heiratsfähig erscheinen lässt. Die Annahme einer unehelichen Schwangerschaft, bei der Colino der Vater ist, liegt hier sehr nahe, da sie noch Jahre später von ihm schwärmt. Aufgrund seiner Krankheit und seines vorzeitigen Todes kann er sie nicht mehr ehelichen.

Es erklärt auch, weshalb sie ihn vor seinem Tod drei Jahre lang pflegt: Sie versucht, den Vater ihres Kindes zu retten, damit er gesund werden und sie heiraten kann. Zudem existiert später ein Kind, das dem Mann extrem ähnlich sieht, dessen Name an den Colinos erinnert und dessen Alter in diese Ereigniskette hineinpasst - Nicolo. Gleichzeitig hat Nicolo mit Elvire seine fragile Konstitution gemein: Er kann von Antonio leicht überwältigt werden und ist „von Natur aus schwächer“, 53 so wie Elvire, die ein „empfindliches Gemüt“ 54 besitzt, bei jeder Gelegenheit ohnmächtig wird, 55 „sicht nicht wohl befinde[t]“ 56 oder sich ein „Fieber“ 57

[...]


1 Privileg. Württ. Bibelanstalt, Stuttgart (Hrsg.): Neues Testament. Evangelium des Johannes, 1.Kapitel, V. 1-14. In: Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des Alten u. Neuen Testaments nach der deutschen Ü bersetzung d. Martin Luthers. Gütersloh: Mohn & Co. (1948), S. 106.

2 Privileg. Württ. Bibelanstalt, Stuttgart (Hrsg.): Altes Testament. Das erste Buch Mose, 1. Kapitel, V.26-27. In: Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des Alten u. Neuen Testaments nach der deutschen Ü bersetzung d. Martin Luthers. Gütersloh: Mohn & Co. (1948), S. 6.

3 Ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. wurden Texte des AT schriftlich fixiert, ab ca. 500 v. Chr. wurden sie zu einem größeren Werk zusammengefügt: Vgl. Herrmann, Siegfried: Die Entstehung des Alten und des Neuen Testaments (kein Datum) . Das Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft. http://www.die-bibel.de/bibelwissen/entstehung-der-bibel/altes-und-neues-testament/, zuletzt aufgerufen am 17. Januar 2015.

4 Vgl. Wilde, Oscar: The Importance of Being Earnest (edited by Joseph Bristow). London, New York:Routledge (1992).

5 Rosenbauer, Roland: Jules Verne - Der Vater der Science-Fiction (06.02.2003/04.02.2008). Was Ist Was. http://www.wasistwas.de/archiv-sport-kultur-details/jules-verne-der-vater-der-science-fiction.html, zuletzt aufgerufen am 8. Oktober 2014; Patalong, Frank: Science-Fiction-Vater Gernsback: Der Ur - Nerd (19.07.2013). Spiegel Online. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/zkm-karlsruhe-zeigt-sonderschau-zu-hugo-gernsback-a-910376. html, und Patzer, Georg: Vater der Science Fiction (25.07.2013). Jüdische Allgemeine. http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/16555, beide zuletzt aufgerufen am 8. Oktober 2014.

6 Beispielhaft für die Verbreitung dieses Ausdrucks mögen drei Werktitel genannt sein: Ricci, Giancarlo: Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse. Berlin: Parthas (2006). Leitner, Anton; Petzold, Hilarion G.: Sigmund Freud heute: Der Vater der Psychoanalyse im Blick der Wissenschaft und der psychotherapeutischen Schulen. Düsseldort: Krammer (2009). Weier, Günter: 'Vater Freud' und die fr ü he psychoanalytische Bewegung (Beitr ä ge zur psychologischen Forschung). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (1996).

7 Boyle, Laura: Ann Radcliffe: Mother of the Gothic Novel (16.07.2011) . Jane Austen Centre. http://www.janeausten.co.uk/ann-radcliffe-mother-of-the-gothic-novel/, zuletzt aufgerufen am 14. Oktober 2014.

8 Freud, Sigmund: Der Dichter und das Phantasieren. In: Bildende Kunst und Literatur. Studienausgabe, Band X. Frankfurt: Fischer (1980), S. 173f.

9 Drosdowski, Günther (Hrsg.): Lemma „Autor“, in: Duden »Etymologie«: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverlag (1989).

10 Lemma „auteur“, in: Weis, Erich (Hrsg.): Langenscheidt Sachs-Villatte. Gro ß w ö rterbuch Franz ö sisch. Teil I: Franz ö sisch- - Deutsch. Berlin, München, Wien, Zürich, New York: Langenscheidt (1979).

11 Wenn ich im Folgenden das Wort „Autor“ benutze, meine ich damit stets den Dichter oder literarischen Autor. Wer z.B. im Auftrag seines Arbeitgebers eine Broschüre über rückenfreundliches Sitzen am Schreibtisch verfasst, der ist zwar auch ein Autor, aber kein Dichter und spielt für diese Arbeit weiter keine Rolle.

12 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 4.

13 Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999),S. 4.

14 Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999),S. 5.

15 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 21.

16 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 20.

17 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 21.

18 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 21.

19 Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999),S. 28.

20 Svarez, Carl Gottlieb: Vortr ä ge ü ber Recht und Staat. Hrsg. v. H. Conrad und G. Kleinheyer. Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag (1960), S. 316.

21 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg: Felix Meiner (1960), S. 311.

22 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg: Felix Meiner (1960), S. 309.

23 „[D]as Weib kann überhaupt sich nicht hingeben der Geschlechtslust, um ihren eigenen Trieb zu befriedigen; und da sie sich denn doch zufolge eines Triebs hingeben muß, kann dieser Trieb kein anderer sein, als der, den Mann zu befriedigen. […] Sie behauptet ihre Würde, ohnerachtet sie Mittel wird, dadurch, daß sie sich freiwillig, zufolge eines edlen Naturtriebs, des der Liebe, zum Mittel macht“ - Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg: Felix Meiner (1960), S. 304.

24 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 29.

25 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 29.

26 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 29.

27 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 31.

28 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 31.

29 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 32.

30 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 32.

31 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 33.

32 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 36.

33 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 36.

34 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg bekamen ihren eigenen Raum, das Kinderzimmer. 35 (1999), S. 38.

35 Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (1999), S. 38.

36 Vgl. Gieseke, Ludwig: Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts. Göttingen: Otto Schwartz (1957), S. 15-17.

37 Vgl. Gieseke, Ludwig: Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts. Göttingen: Otto Schwartz (1957), S. 18.

38 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 35f.

39 Kapp, Friedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das siebzehnte Jahrhundert. Leipzig: Verlag des Börsenvereins der deutschen Buchhändler (1886), S. 777.

40 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 46, Fußnote 142.

41 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 129.

42 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 129.

43 Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 182.

44 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 313.

45 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 182.

46 Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 318.

47 Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Leipzig, Halle: Zedler (1740), Sp. 61.

48 „Der Autor war und blieb der Inhaber des Werks“. Vgl. Höffner, Eckhard: Geschichte und Wesen des Urheberrechts. Band 1. München: Verlag Europäische Wirtschaft (2011), S. 319.

49 Schneider, Helmut J.: „Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist“, S. 21. In: Kleist-Jahrbuch 2002. Stuttgart, Weimar: Metzler (2002), S. 21-41.

50 Diese Seminararbeit findet sich im Anhang dieser Masterarbeit. - Mandelartz, Johanna: Kaleidoskopische Spiegelungen in Kleists 'Der Findling'. Seminararbeit im Rahmen des Hauptseminars „Orientierung in der methodischen Vielfalt der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft“ unter der Leitung von Frau Dr. Helga Thalhofer im Sommersemester 2013; abgegeben am 6. Oktober 2013.

51 Weineck, Silke-Maria: Kleist and the Resurrection of the Father. In: Eighteenth- - Century Studies, Vol. 37, No. 1, Exploring Sentiment. Baltimore (2003): John Hopkins University Press, S. 71.

52 „Philippo Parquet, ihr Vater, ein bemittelter Tuchfärber in Genua [...]“ - Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982), S. 202.

53 Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982), S. 214.

54 Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982), S. 203.

55 „[…] als Elvire hinter ihm, mit Flaschen und Gläsern, die sie in der Hand hielt, wie durch einen unsichtbaren Blitz getroffen, bei seinem Anblick von dem Schemel, auf welchem sie stand, auf das Getäfel des Bodens niederfiel“ -- Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982),S. 204. „[…] kaum hatte Elvire […] den seidnen Vorhang […] eröffnet und ihn erblickt: als sie schon: Colino! Mein Geliebter! rief und ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens niedersank.“ -- Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982), S. 212.

56 Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982), S. 211.

57 „[…] hitziges Fieber […]“ - Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982),S. 214. „[…] an einem heftigen Fieber […]“ - Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982),S. 204. „[…] aus einem hitzigen Fieber […]“ - Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Heinrich von Kleist. S ä mtliche Werke und Briefe in vier B ä nden. Dritter Band. München, Wien: Carl Hanser Verlag (1982),

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Schöpfer und Schöpfung. Zum Verhältnis von Elternschaft und Autorschaft in Mary Shelleys "Frankenstein" und Heinrich von Kleists "Der Findling"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
83
Katalognummer
V455788
ISBN (eBook)
9783668865549
ISBN (Buch)
9783668865556
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Adoption Eltern Pflege Kindsmord Vatermord Ödipus Adoptiv Zeugung Fruchtbarkeit
Arbeit zitieren
Johanna Mandelartz (Autor:in), 2015, Schöpfer und Schöpfung. Zum Verhältnis von Elternschaft und Autorschaft in Mary Shelleys "Frankenstein" und Heinrich von Kleists "Der Findling", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455788

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