Historischer Materialismus und die Lehre von der Denkweise


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2019

193 Seiten


Leseprobe


Einleitung S.

Wie die Lebensweise, so die Denkweise S.

Zum Wechselverhältnis von Basis und Überbau S.

Was Mao angerichtet hat S.

Die Lehre der MLPD im historischen Kontext S.

Zur Frage der Dialektik S.

Der angebliche Fehler Stalins S.

Denken tötet S.

Die MLPD – eins mit den Massen S.

Neue Politiker braucht das Land S.

Anhang: Aufstieg und Fall der Sowjetunion S.

Anmerkungen S.

Literaturliste S.

Einleitung

Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) sieht die Ursache für die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion in einer sich allmählich herausgebildeten kleinbürgerlichen Denkweise der Verantwortungsträger in Partei, Staat und Wirtschaft. Die Ursachenforschung über den Zusammenbruch der aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Gesellschaftssysteme ist bis heute im marxistisch-selbstkritischen Kontext über das essayistische Stadium nicht hinausgekommen. Vorausgesetzt ist eine virtuose Handhabung der materialistischen Dialektik, vorausgesetzt ist ein Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Gehirn präsent zu haben, zwei Vermögen, die selten zusammenfinden. Von allen römischen Historikern verlor nur Appian nicht das Band zwischen den politischen Kämpfen und der ökonomischen Basis und sagte uns eindeutig, um was es letztendlich ging: nämlich um das Grundeigentum. In den Deutungs- und Erklärungsversuchen traten neben fruchtbaren Ansätzen, zum Beispiel von dem Inder Brar und dem Russen I. S. Lukjanow (‚Die theoretische Ignoranz – eine Form des Verrats der kommunistischen Bewegung) Verirrungen und Abarten auf; gerade angesichts der Komplexität, der Schwierigkeit der Problematik und der trotz Öffnung vieler Archive immer noch offenen schwierigen Fragen war es leicht, diffuse Erklärungsmodelle anzubieten, die unter dem Banner der Weiterentwicklung des Marxismus bis hin zur substanziellen Entstellung der marxistischen Theorie selbst gingen. In der Phase des rapiden Zerfalls der Sowjetunion, als sämtliche Konturen, die sich über Jahrzehnte schwerfällig in die Geschichte Osteuropas eingebrannt zu haben schienen, zu schwimmen anfingen, wimmelte es weltweit nur so von Sozialismusexperten, Freiheitsaposteln und Kremlastrologen, die sich in den Vordergrund spielten und heute weitgehend vergessen sind. Zwei Umstände spielten diesen demagogischen Machenschaften dieser Augenblicksgötzen zu: Dass heute trotz alledem nur eine marxistisch-dialektische Analyse des Zusammenbruchs den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann und dass die dialektische Methode bei unsachgemäßem Gebrauch sehr rasch die Untersuchung unmerklich ins Irrationale abgleiten lässt. Warum verwies uns Lenin im Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe zu seinem ökonomischen Hauptwerk vom 6. Juli 1920 auf die Tatsache „der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens“? 1. Wir stehen vor einer paradoxen Situation: Der Zusammenbruch von Lenins praktischem Werk kann nur mit seinem immer noch aktuellen theoretischen begriffen werden. Wenn das stimmt, so wird sich wohl eher auf lange Sicht denn auf kurze, genau kann man das aber gar nicht wissen, der Triumph der international verflochtenen Kapitalistenverbände als Pyrrhussieg erweisen. Die Gründe für die kaum merkliche Auflösung der sowjetischen Planwirtschaft darzulegen, deren Konturen sich im letzten Jahrhundert nur für das geschulte marxistische Auge abzeichneten, ist eine harte Nuss, die zu knacken nicht im Mittelpunkt der als Untertitel aufgeworfenen Frage steht; dennoch wird der eine oder andere Grund erörtert, die eine oder andere Frage beantwortet werden müssen. Zum Schluss meiner Ausführungen (ab Seite 93) hielt ich es für angebracht, einen kurzen Abriss der Geschichte der Sowjetunion zu schreiben, ohne überhaupt irgendeine Denkweise argumentativ zu bemühen, um die ganze Albernheit des Denkweisegeschwafels der MLPD herauszustreichen.

Bei der MLPD liegt ein unsachgemäßer Gebrauch der dialektischen Methode vor. Schon im Ansatz: Für Stefan Engel ist die dialektische Methode ein Handwerk, das jeder erlernen kann. Für Friedrich Engels war sie die „schärfste Waffe“ der Sozialisten, die nicht jeder sachgemäß handhaben kann. Auch Stalin handhabte sie als Waffe. 2. Die dialektische Methode kann nicht von Krethie und Plethi beherrscht werden, wenn das dialektische Denken die höchste Form des menschlichen Denkens ist. In den marxistischen Kaderparteien findet diesbezüglich strengste Auslese statt; von Franz-Josef Strauß ist der Seufzer überliefert, wenn Helmut Kohl doch wenigstens nur fünf Minuten wie Mao denken könnte. Gleichwohl war auch Strauß kein Dialektiker, man darf diese nicht in politischer Hinsicht in reaktionären, sich zurückbildenden Klassen erwarten. Marx und Engels haben im ‚Manifest‘ herausgestellt, dass Blockaden dialektischen Denkens eigentumsbedingt sind, was bürgerliche Ideologen für das feudale Eigentum begriffen, dürfen sie nicht mehr für das bürgerliche Eigentum begreifen. Stefan Engel tischt uns sozusagen die trade-unionistische bzw. populistische Variante der Dialektik auf, denn Hegel warnte bereits, Dialektik als eine äußere Kunst zu betrachten. In Gewerkschaftskreisen ist es üblich, dass alle sich duzen; die Dialektiker unter diesen Handwerkern kann man indes mit einer Hand abzählen. In den Gewerkschaften werden heute die Liebknechts gemobbt. Wenn die Parole von Engel ‚Dialektik für alle‘ zuträfe, dann wäre ja der faule Zauber mit der Lehre von der Denkweise bald von allen seinen Seminarteilnehmern durchschaut. Das bewusste dialektische Denken und das bewusste Operieren mit der dialektischen Methode sind kein Allgemeingut. Marxistische Dialektiker schwimmen in der faulenden, spätkapitalistischen Gesellschaft gegen die Strömung der bürgerlichen Massenmedien mit ihrer Massenverdummung an, die die objektiven Zusammenhänge zerreißen und diese aus Profit- und Sensationsgier chaotisieren, rationales Denken betäuben, dialektisches totschlagen. Die Marxisten-Leninisten bilden heute einen Tropfen im Ozean der Konterrevolution und deshalb präsentiert sie sich so offen und ungeschminkt, der konterrevolutionäre Gehalt ist mit Händen greifbar. Das ist eine Spannung, die marxistische Revolutionäre schon immer zu ertragen hatten, heute besonders. Für den Dialektiker ist das Negative Moment des Positiven, er nimmt es nicht wie das Werkzeug vom fertigen Gefäß weg, es ist „im Wahren als solchem selbst noch unmittelbar vorhanden“. 3. Dialektisches Denken transzendiert sich stets selbst als unzulängliches. Heute wissen wir aus bitterer Erfahrung nach 1956, dass auch der Weg der Menschheit zum Kommunismus, zu ihrer Identität mit sich selbst, ein Weg nicht des Zweifels, sondern der Verzweiflung ist. Konterrevolutionäre Ideologen waren zur Stelle, das historische Weltbild einer durch die Produktionsmittel bestimmten Phasenentwicklung, der Arbeitsorganisation durch diese Mittel, zu zerstören. Dieser verhängnisvollen Destruktivität ist entgegenzutreten, zugleich gilt es anzugehen gegen die naive Auffassung einer historischen Entwicklung, in der sich Phasen automatisch übereinander anschmiegen. Der Weg der Verzweiflung hat nicht zu einer Krise des Marxismus geführt, diese liegt nicht vor, denn der Zusammenbruch des zweiten Arbeiterstaates der Welt, der der erste Arbeiter- und Bauerstaat war, der Aufstand von 1871 blieb leider auf Paris begrenzt, bestätigt vielmehr der Arbeiterbewegung die Notwendigkeit, in ihrem historischen Begehren von einer marxistischen Grundposition, also primär von einer aus der ökonomischer Basis begründeten Klassenanalyse auszugehen. Das gilt auch für die Analyse der Gründe des Zerfalls des ersten Arbeiter- und Bauernstaates. Aber wehe, wenn ich auf die Begründungen für diesen Zusammenbruch schaue, die die MLPD-Ideologie uns in Büchern und Broschüren, in Reden und im spitzzüngigen Überreden auf der Straße darbietet! Äußerst kritisch muss man gegenüber einer Lehre sein, die den Zusammenbruch der Sowjetunion zurückführt auf eine Niederlage der proletarischen Denkweise gegenüber der kleinbürgerlichen im Apparat der Parteifunktionäre, zumal a) diese Denkweiselehre ihren Ursprung haben soll in der veränderten sozialen Zusammensetzung der westdeutschen Studentenschaft nach 1945 4., b) theoriegeschichtlich die Denkweiselehre einen Rückfallin linkshegelianische Positionen vor der 48er Revolution darstellt. Die MLPD ist die konservativste Partei Deutschlands. Diese Aussage mag überraschend daherkommen, aber eine wissenschaftliche Untersuchung hat nicht das Raster des Verfassungsschutzes zugrunde zu legen, in dem die MLPD als linksextrem fungiert. Eine wissenschaftliche Untersuchung hat den modernen Klassenkampf objektiv zu begreifen und die mit ihm verwobene Dialektik von Revolution und Konterrevolution zugrunde zu legen, wie Marx und Engels es taten: „Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich ‚welterschütternden‘ Phrasen die größten Konservativen“. 5. Die Dialektik von Basis und Überbau wird im Mittelpunkt meiner Auseinandersetzung mit den Phrasen der MLPD stehen, aus dieser leite ich zwei Nebenkampfschauplätze ab: Das fehlerhafte Verhalten dieser Splitterpartei zu den Massen und ihr kleinbürgerliches Politikverständnis, das sie zu betrogenen Betrügern stempelt. Lenin lehrte uns, dass die Menschen in der Politik stets Opfer von Betrug und Selbstbetrug sind. 6. Indem ich der volksbetrügerischen MLPD ideologisch den Arsch aufreiße, öffne ich der Arbeiterklasse damit zugleich politisch die Augen.

„wie die Lebensweise der Menschen, so ist ihre Denkweise.“

Seit mehreren Jahrzehnten tritt in der Theoriegeschichte, die sich auf Karl Marx beruft, eine merkwürdige Erscheinung auf: ‚Die Lehre von der Denkweise‘, vertreten von der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands). 1995 erschien ein intern maßgebendes Buch von Stefan Engel: ‚Der Kampf um die Lehre von der Denkweise in der Arbeiterbewegung‘, wie denn Engel nach Selbstauskunft der Partei „maßgeblich an der Ausarbeitung der Lehre von der Denkweise beteiligt“ 8. war. Eine ‚ML-Partei‘ lässt die Grundlagen des Marxismus bestehen, es habe aber eine „Verschiebung“ in der Gesellschaft stattgefunden, die nur sie bemerkt habe: Die Marxisten-Leninisten hätten bisher nicht die Bedeutung der Denkweise im Klassenkampf erkannt. Die Bedeutung der Denkweise sei in die Theorie und Praxis der Befreiung des Weltproletariats einzuführen, weil sich die soziale Zusammensetzung der westdeutschen Studentenschaft nach 1945 verändert habe 9., ja zu einer ganzen Lehre von der Denkweise, zu einer neuen Theorie ist dies alles ausgearbeitet worden, und es versteht sich fast von selbst, dass zum Beispiel der Zusammenbruch der aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Gesellschaftssysteme zurückzuführen sei auf eine kleinbürgerliche Denkweise von Revisionisten. Ob die kleinbürgerliche Denkweise in der Sowjetunion aus dem kapitalistischen Umfeld von einer kleinbürgerlichen ausländischen Denkweise unterstützt wurde, muss natürlich unerörtert bleiben. Diese weltgeschichtliche Bedeutung soll also die westdeutsche Studentenschaft nach 1945 gehabt haben. 10.

In der Tat ist aber die Lehre von der Denkweise keine Weiterentwicklung der marxistischen Theorie, sondern eine ziemlich lokal-bornierte Angelegenheit, die sich wohl nur im theorielastigen, zurückgebliebenen Deutschland, dem Land der denkenden Dichter, wortreich nachvollziehend, was fortschrittlichere Völker getan haben, bilden konnte, dem träumerischen und duseligen deutschen Volk sagte schon immer mehr u. a. durch den ‚Doktor Lügner‘ 11. die Flucht in die Innerlichkeit und in das Denken zu, statt die harte Wirklichkeit konkret zu analysieren 12. Eine rühmliche Ausnahme bildeten Marx und Engels, die in der ‚Deutschen Ideologie‘ diesen Sachverhalt genau beschrieben. Ändere ich meine Denkweise, so ändert das an der Wirklichkeit nichts - ich sehe diese nur anders. Die ganze Geschichte der Philosophie ist ein fortlaufender Beweis, dass die Denker die Wirklichkeit stets anders dachten und auf Grund sich wandelnder objektiver Prozesse anders widerspiegelten, einschließlich der Linkshegelianer, an deren Kritik Marx und Engels den historischen Materialismus entwickelten. „Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer anderen Interpretation anzuerkennen“. 13. Bevor das menschliche Bewusstsein essenziell wurde in der Geschichte der Menschheit, gab es Essentielleres: elementare menschliche Bedürfnisse 14.und die daraus entspringendenneuen Bedürfnisse, Familie und Zusammenwirken mehrerer Produzenten. „Jetzt erst, nachdem wir bereits vier Momente, vier Seiten der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse betrachtet haben, finden wir, daß der Mensch auch ‚Bewußtsein‘ hat.“ 15. Als völlig falsch bezeichnete Josef Stalin im September 1952 die Meinung der Genossen Volkswirtschaftler Sanina und Wensher, dass durch bewusstes Handeln der mit der materiellen Produktion beschäftigten Sowjetmenschen die ökonomischen Gesetze des Sozialismus entstehen, übertragen für unser Thema: Dass durch bewusstes Handeln im Sinne einer proletarische Denkweise die ökonomischen Gesetze des Sozialismus entstehen. Sanina und Wensher gingen für Stalin den Weg des subjektiven Idealismus und den gleichen Weg geht für mich auch die MLPD. Auch praktiziert die MLPD ihre Denkweiselehre schon heute, vor dem Sozialismus, wartet Revolution und Aufbau des Sozialismus nicht ab, um dann im entscheidenden Augenblick ihr Handwerk der proletarischen Denkweisedialektik gegen die deutschen Crutschowianer mit einer kleinbürgerlichen Denkweise zu praktizieren. Der idealistische Subjektivist Fichte vertrat, dass die Wahl einer Philosophie davon abhänge, was für ein Mensch man ist. Hängt die Wahl der Denkweise, proletarische? oder kleinbürgerliche?, auch davon ab, was für ein Mensch man ist? Der Kreis schließt sich. Die subjektiven Idealisten der MLPD legen schon vor dem Ausbruch der proletarischen Revolution ihr Armutszeugnis dar und diese Partei lässt uns alle erkennen, dass ihre Mitglieder ganz unfähig sind, eine proletarische Revolution zu leiten. Von allen Organisationen wird diese konservative als erste in den Massen untergehen. Nur wenn das revolutionäre Bewusstsein die in revolutionären Prozessen waltenden objektiven Gesetze anerkennt, keine aus subjektivem Denken ausweist, kann es eine Wissenschaft von der Revolution geben, ohne die eine Revolution scheitert. Vernehmen wir das Urteil von Stalin über die Anhänger der Lehre vom bewussten Handeln: „Letzten Endes würden wir der Willkür ‚ökonomischer‘ Abenteurer ausgeliefert sein, die bereit sind, die Gesetze der ökonomischen Entwicklung ‚umzustoßen‘ und neue Gesetze zu ‚schaffen‘, ohne die objektiven Gesetzmäßigkeiten zu begreifen und zu berücksichtigen“. 16. Wenn die proletarische Revolution in Deutschland ausbricht, wollen wir nicht der Willkür ‚proletarischer Denkweiseaktivisten‘ ausgeliefert sein.

Die entscheidende Aussage betreffs der Bedeutung der Denkweise im historischen Materialismus stammt von Karl Marx im achtzehnten Brumaire. „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum … kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.“ 17. Schon auf den ersten Blick wird klar, dass für Marx die materialistisch abgeleitete Denkweise von Individuen und Klassen lediglich Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung ist; er wehrt sich ja gerade ganz entschieden dagegen, Denkweisen als eigentlichen Bestimmungsgrund und Ausgangspunkt des politisch-historischen Handelns zu nehmen, als habe er das Aufkommen pseudowissenschaftlicher Denkweisetheoretiker erahnt. Die Denkweise wird von Marx im Reich der Einbildung verortet, eine Theorie, die die Denkweise zur „…. entscheidenden Triebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts“ 18. hochstilisiert, steht von vornherein dem Marxschen Wissenschaftsbegriff diametral entgegen. Um wissenschaftlichen Marxismus und Einbildung dennoch irgendwie zusammen zu biegen, wird von Annette Roth (MLPD) gegen Marx ein Zitat von Engels 19. bemüht 20.: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens. Mehr haben weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das darin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus … üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente …“. 21. Was leitet Frau Roth daraus ab? „Diese Wechselwirkung gilt auch im Sozialismus. Es hängt entscheidend von der vorherrschenden Denkweise ab, ob die Entwicklung im Sozialismus vorwärts schreitet zur klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus oder ob sie zurückfällt zur Restauration des Kapitalismus.“ 22. Es steht natürlich jedem frei, sich mit dem Marxismus zu befassen, nur zu den Schlussfolgerungen aus dieser Beschäftigung, zu den Früchten sozusagen, möchten wir doch noch ein Wörtchen mitreden. Engels legt die Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau in der Tat so dar, dass man sie wissenschaftlich-materialistisch und argumentativ verwenden kann, Basis und Überbau sind nicht gleichwertige Elemente 23., schon gar nicht hat der Überbau das Übergewicht, so dass es entscheidend von der Denkweise abhinge, welchen Inhalt, welche Richtung eine gesellschaftliche Bewegung nimmt, sondern letztinstanzlich setzt sich durch die Wechselwirkung als Notwendiges die ökonomische Bewegung durch. 24. Engels äußert sich ganz deutlich, nach materialistischer Anschauung der Geschichte sind „…. die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen…“ 25., sondern immer in der Ökonomie. Bricht die Achse in der Ökonomie, dann bricht der ganze politische Überbau in sich rascher oder langsamer zusammen, Partei, Volkspolizei, Rote Armee, Geheimdienst … usw. Man kann dann tausendmal wiederholen und predigen, was Stalin auf den Parteitagen betonte, dass die Partei im Zustand der Kampfbereitschaft gehalten werden müsse. Und so stehen die Mitglieder der MLPD bei der Erforschung der Ursachen der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion vor einer echten Alternative: Sie können zu diesem Thema zu Willi Dickhuts Buch ‚Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion‘ greifen, der nur scheinbar von der Ökonomie ausgeht, oder zu Stalins Buch ‚Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR‘, das 1951 erstveröffentlicht wurde und das unstrittig durch die Warnung vor der Intensivierung der Ware-Geld-Beziehungen, für die sich damals eine Anzahl führender Ökonomen ausgesprochen hatte, die Folie enthält, an der sich ökonomische Fehlentwicklungen in der sozialistischen Planwirtschaft nach seinem Tod ablesen lassen. Nach Stalins Tod wurde zunächst noch im Rahmen der eingespielten Planwirtschaft genau das ausgeführt, wovor er gewarnt hatte. Deshalb ist noch heute seine Schrift über die ökonomischen Probleme eine Primärquelle ersten Ranges für die Fehlentwicklung, die zum Kollaps der Sowjetunion führte.

Zum Wechselverhältnis von Basis und Überbau

Es gehört zu den Grundaussagen des Marxismus, dass der Überbau eindeutig von der Basis her bestimmt wird, der Kommunismus ist ja gerade eine Gesellschaft ganz ohne Überbau, eine der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Wäre nun die Denkweise im Überbau ausschlaggebend, so wäre die kommunistische Revolution ganz zwecklos, weil sich der Überbau ja wechselseitig mit der Basis entwickelte, es gibt immer Basis, aber – und etwas anderes hat die Konterrevolution nie behauptet – es gibt auch immer (!) Überbau. Das dialektische Paar ‚Basis-Überbau‘ wälzt sich nicht fort in eine schlechte Unendlichkeit, sondern ist endlich, sterblich, im Kommunismus versinkend. Zur Täuschung der Arbeiter wird natürlich der Überbau, dessen Träger die unproduktive Klasse darstellt, als ausschlaggebend, als für die Existenz der ganzen Gesellschaft lebensnotwendig suggeriert; aber schon die Oktoberrevolution hat gezeigt, dass es ein Vorurteil ist, zu behaupten, die Ausgebeuteten können nicht ohne Ausbeuter leben. Wie sehr der Überbau etwas von der Basis Abgeleitetes ist, wird deutlich im Kommunistischen Manifest, wo es heißt, dass sich das Proletariat nicht aufrichten kann, „…ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird“. 26. Man kann doch im Manifest nachlesen, was das Proletariat alles aufhebt, zeitlich versetzt, letztendlich auch sich selbst, es endet selbst mit seiner Vernichtung der Bourgeoisie, nicht zeitgleich mit der Bourgeoisie, wie die Anarchisten behaupten. Das gewöhnliche, nur gelegentlich prozessual denkende Bewusstsein weiß nur etwas vom Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie, weiß nicht, dass sein Sieg sein positiver Untergang ist. Die kommunistische Gesellschaft ist keine proletarische, es gibt in ihr keine Handwerker, sondern Menschen, die unter anderem auch Handwerker sind.

Also eins von beiden: entweder: Die ökonomischen Bedingungen sind schließlich die entscheidenden (Engels), oder: Die Entwicklung zum Kommunismus hängt entscheidend von der Denkweise ab (Annette Roth, Willi Dickhut, Stefan Engel) – und so zeigt sich die Lehre von der Denkweise genau auf der Schnittstelle zwischen Revolution und Konterrevolution liegend, zur letzteren abfallend. Nach Engels bestimmen die verschiedenen Momente des Überbaus die Form der geschichtlichen Kämpfe, also im Mittelalter alles zum Beispiel im religiösen Gewand – Thomas Müntzer wollte einen Bauernsozialismus, mit dem Schwert in der einen, mit der Bibel in der anderen Hand, bis zum Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise hat es keine Klasse und keine Partei gegeben, die nicht die Bibel zur Hand nahm und ihr politisch verwertbare Argumente und Zitate entzog, im Vormärz war die intellektuelle Atmosphäre in Deutschland so stark philosophisch geprägt, dass sich die 48er Revolution in philosophischen Formen ankündigte - aber wenn die komplizierte Entwicklung vom Sozialismus zum Kommunismus nun ebenfalls entscheidend von der Denkweise abhängig gemacht wird, handelt es sich bei der Konstellation Sozialismus – Kommunismus um eine Frage der Form oder des Inhalts? Oder bei der Rückverwandlung des sowjetischen Sozialismus in einen inkommensurablen Kapitalismus?

Was Mao angerichtet hat

Wer sich mit der obskuren und absurden ‚Lehre von der Denkweise‘ auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, auf eine Schrift Mao Tse-tungs aus dem Jahr 1937 zurückzugreifen, die, zwei Jahre nach dem ‚Langen Marsch‘ veröffentlicht, als seine philosophische Hauptschrift einzureihen ist und die die Überschrift ‚Über den Widerspruch‘ trägt. In dieser Schrift wird der Widerspruch, der der Welt innewohnt und der sie nach Hegel bewegt, extrem und bizarr ausgestaltet. Mao schreibt 1937: „Den Widerspruch in den Dingen verneinen, hieße alles verneinen. Das ist eine allgemeine Wahrheit, gültig für alle Zeiten und alle Länder ohne Ausnahme. Hieraus entsteht der Charakter des Gemeinsamen, des Absoluten“. 27. Das ist falsch. Aus den Haupt- und Nebenwidersprüchen der Prozesse in der Gesellschaft, in der Natur und im menschlichen Denken steigt natürlich kein Charakter des Absoluten auf und die sich wechselseitig durchdringenden, unendlichen sich dialektisch entfaltenden Prozesse machen sich nicht gemein, vereinigen sich nicht in einem sogenannten Absoluten. Das ist eine völlig neue postmarxistische Lesart von Dialektik. Engels kritisiert an der Philosophie Hegels ja gerade den absoluten Begriff. Vor der Dialektik besteht nichts Absolutes, wenn Dialektik einen Begriff destruiert, dann diesen. Es gibt nur ununterbrochene Prozesse des Werdens und Vergehens, ohne Schranke, die Ricardo noch hatte, da er die kapitalistische Warenwirtschaft nicht als einen Prozess des Werdens und Vergehens begriff, ohne Unterbrechung, ohne Stillstand, ohne Abschluss, alles mit Absolutheitsanspruch Auftretende negierend. Der Aufstieg vom Niederen zum Höheren, der mit Rückschritten versehen ist, ist ohne Abschluss. Die materialistische Dialektik beinhaltet die endgültige Befreiung der Menschheit von allem Absoluten, Metaphysischen, Sakrosankten, sie entweiht permanent. Sie hat kritisch Erkenntnisse der französischen Aufklärung weiterentwickelt. Schon Fontenelle, einem Frühaufklärer, war gewiss, dass der wissenschaftliche Fortschritt der Menschheit ins Unendliche geht, Helvétius, ein Spätaufklärer, verwarf die absolute Gerechtigkeit und die absolute Moral und war dadurch selbst einem Denker wie Diderot suspekt geworden. Der utopische Sozialist Fourier sprach später von der ‚der Vervollkommnung fähigen Fähigkeit der Vervollkommnung‘, womit der Fortschrittsglaube der Aufklärung auf die Spitze getrieben worden war.

Aus der Tatsache, dass Widersprüche ihre Gegensatzpositionen vertauschen können, schlussfolgerte Mao nun, dass der Überbau in gewissen Phasen der Geschichte die Basis bestimmt, auch inhaltlich dominiert, während Engels lediglich von Einflüssen des Überbaus auf die Form der Basis ausgeht. Primär setzt sich immer die ökonomische Basis durch, und der Überbau bleibt von ihr abhängig, auch wie alles Abhängige Einfluss ausübend auf das Dominierende. Basis und Überbau sind niemals gleichgewichtig und gleichwertig, was sie aber beim Übergang ineinander, bei der spezifisch maoistischen Transformation wenigstens momentan sein müssten. Während des Prozesses der Rückwirkung des Überbaus auf die Basis findet nach dem historischen Materialismus niemals ein Dominanzwechsel statt, so dass die Basis ihre Basissubstanz verlöre. Würde sich der Überbau fundamental gegen seine Basis kehren, ginge er kaputt. Würde die Basis ihren Grundcharakter einbüßen, könnte man von einer durchgeknallten Dialektik reden, denn Basis und Überbau bilden keinen antagonistischen Widerspruch wie etwa Bourgeoisie und Proletariat. In dieser Herr-Knecht-Konstellation findet allerdings während der Revolution, sollte sie siegreich sein, eine inhaltliche Zerstörung der Hauptbeziehung statt: Das Knecht-Objekt, Marx und Engels sprechen im Manifest vom ‚Arbeitsinstrument‘, das verschiedene Kosten macht, wird herrisches Subjekt und umgekehrt: Letzteres wird Knecht-Objekt. Es kommt auf eine inhaltliche Umkehrung an: Dem seine Arbeitskraft ausgebeutet wurde, der soll jetzt seine Kreativität entfalten; der ehemalige Konsument seiner Arbeitskraft ist als bürgerlicher Gefährder unter Aufsicht zu stellen, da er im Konsumtionsprozess der Arbeitskraft die Asozialität der Ungleichheit unter den Menschen verinnerlicht haben muss. Die Form bleibt zunächst, wird von dem Neuen durchdrungen und in Anspruch genommen, so zum Beispiel das bürgerliche Recht, obwohl die Arbeit einen gesellschaftlichen Charakter annimmt, sobald das Privateigentum an Produktionsmitteln vergesellschaftet ist. Diese Vergesellschaftung ist auch deshalb so kardinal, weil das Aufblühen einer proletarischen Demokratie den revolutionär gedüngten Boden des gleichen Arbeitszwanges voraussetzt. Der bisher geschundene parteigebundene oder parteilose Arbeiter, im kapitalistischen Produktionsprozess ein bloßes Produktionsinstrument ohne Möglichkeit der Entfaltung der Totalität seiner Wesenskräfte , kann nur nach der Vergesellschaftung und dann in eine Phase der doppelten Selbstverwirklichung treten, politisch in der Rätedemokratie, ökonomisch, aber auch das ist jetzt politisch, durch aktive Mitbestimmung bei der Planerstellung. Ohne Planbeteiligung und ohne Planabsprache kann der Arbeiter zwar Mitglied in einer Räteorganisation sein, bleibt aber Knecht in der Produktion. Ohne rätepolitische Aktivität bleibt eine umfassende Kontrolle der Produktion durch die Produzenten aus. Die Räte und der Plan sind die Faustpfänder der proletarischen Emanzipation, das Ideal ist der Arbeiter, der Mitglied in der kommunistischen Partei, räte- und planaktiv ist – schon hier wird deutlich, wie überholt die heilige bürgerliche Familie ist, zumal jeder Kommunist auch noch in die Gewerkschaft gehört und Tschekist ist. Ein gleicher Arbeitszwang für alle ist wichtiger als eine proletarische Denkweise. Die Bourgeoisie hütet sich davor, die Frage der Demokratie mit der Frage des Parasitismus in Verbindung zu bringen. Wer sie mit ihm in Verbindung bringt, bringt sie auch mit der Arbeit in Verbindung. Die bürgerliche Demokratie ist ein Paradies für Parasiten, bzw. nur diese können in der bürgerlichen Gesellschaft politisch voll und uneingeschränkt aktiv sein, d.h. sich Schranken gegen die Freiheitsbestrebungen des Proletariats ausdenken. Das Wesen der bürgerlichen Demokratie besteht darin, die Diktatur über das werktätige Volk aufrecht zu erhalten und zu zementieren. Der proletarische Freiheitsbegriff ist im Gegensatz zum anarchistischen negativ gefasst, und ohne diese negative Fassung gäbe es keine erfolgreiche Revolution, die man daran ablesen kann, dass sich die Formen der fundamentalen Beziehungen unter den Menschen gewandelt haben müssen. Keineswegs treten sich kurz nach der proletarischen Revolution nur freie Subjekte gegenüber, obwohl dieses Ideal mit der Schleifung eines Gefängnisses in Paris als Versprechen gleich am Anfang mit auf den Weg gegeben wurde. Unsere Freiheitsbewegung als eine von gleichen Brüdern und Schwestern ist gehalten, diesen anarchistischen Impuls zu bewahren und zu vitalisieren, auch wenn die berühmte Parole der französischen Revolution, die Trinitatis, nur der Herausbildung der Warenproduktion diente. In der Pariser Commune kam ein weiteres Symbol hinzu: Die Guillotine wurde verbrannt, ein Akt, der uns gemahnt, eine sozialistische Revolution als die einer Mehrheit mit der Abschaffung der Todesstrafe zu beginnen, die die Mehrheit gegenüber Minderheiten nicht benötigt. Nur in einer Gesellschaft ohne Gefängnisse und anderen Zwangsanstalten leben alle als Subjekte, mehr noch, als Persönlichkeiten, die sich über ihre gesellschaftliche Arbeit orientieren. Für uns ist das noch heute eine andere Welt, weil der Spießer in seinem (bl)öden Alltagstrott nicht an gute Menschen glaubt. Hier muss der Blitz einschlagen, wie er 1749 in einen Baum auf dem Weg von Paris nach Vincennes einschlug. Im zweiten Brief an Malesherbes, den Präsidenten der Zensurbehörde, schildert Rousseau am 12. Januar 1762 das Inspirationserlebnis, das ihn im Wald von Vincennes plötzlich aus seiner Lebensbahn warf. Rousseau wurde Philosoph. „Ich besuchte Diderot, der damals in Vincennes gefangensaß. Ich hatte ein Heft des Mercure de France in der Tasche, in dem ich unterwegs zu blättern anfing. Ich stoße auf die Frage der Akademie zu Dijon, die Anlaß zu meiner ersten Schrift gegeben hat. Hat jemals etwas einer plötzlichen Eingebung geglichen, so war es die Bewegung, welche in mir vorging, als ich diese Frage las. Auf einmal fühle ich, wie mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, ganze Massen lebhafter Gedanken stellen sich ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung versetzt; meinen Kopf ergreift ein Schwindel, wie bei einem Rausch. Ein heftiges Herzklopfen macht mich beklommen, will mir die Brust sprengen; da ich gehend nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Wege hinsinken und bringe eine halbe Stunde dort in einer Erregung zu, daß ich beim Aufstehen den ganzen Vorderteil meiner Weste mit Tränen durchnäßt finde, ohne gefühlt zu haben, daß ich welche vergoß. Ach Monsieur, wenn ich je nur ein Viertel von all dem, was ich unter diesem Baume sah und empfand, niederschreiben könnte, wie deutlich hätte ich dann alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems aufgewiesen, wie kraftvoll hätte ich alle Mißbräuche unserer Institutionen dargelegt, wie einfach hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur aus gut ist und daß die Menschen allein durch die Institutionen böse werden“. 28. Diese Schilderung im zweiten Brief an den Präsidenten Malesherbes ist packender als die in den autobiografischen Bekenntnissen, ich habe deshalb aus einer Briefsammlung zitiert, die Henning Ritter mit der Überschrift versah: ‚Ich sah eine andere Welt‘. Der Buchtitel dieser Briefsammlung ist ungewöhnlich irreführend. Der Titel bezieht sich auf das Erweckungserlebnis von 1749. Nur dass seine Folge, als anderer Mensch ein anderes Universum zu sehen, in keinem Brief Rousseaus direkt Erwähnung findet. Hierzu muss man auf die Schilderung der Metanoia in den ‚Bekenntnissen‘ zurückgreifen: „… sah ich rings um mich eine andere Welt und ward ein anderer Mensch“. 29. Ritter hätte das im Nachwort zur Briefsammlung erläutern müssen, aber dieses liest sich in der Tat wiederum wie ein Nachwort zu den Bekenntnissen. Diese und nicht die Briefe stehen im Mittelpunkt des verunglückten Nachworts. Rousseau sah in dieser Metanoia ein anderes Universum und wurde durch sie ein anderer Mensch. Damit sind einige Weichen gestellt worden. Die Institutionen des ‚Ancien Regimes‘ sind bereits böse und müssen durch eine bürgerliche Revolution kritisiert und korrigiert werden. Für Marx waren bürgerliche Revolutionen in Feuerbrillanten gefasst (die tausend Lichter), und nach Lenins Rede über seine Aprilthesen waren die bolschewistischen Zuhörer wie benommen und sahen ein anderes Universum. Aus dem anderen Menschen wurde ein ‚Neuer Mensch‘ auf der einen, ein ‚Übermensch‘ auf der anderen Seite. Erinnern wir uns kurz an Abbé Sieyès am Vorabend der französischen Revolution, an dem der Abbé der Bourgeoisie bestätigte, gegenwärtig nichts zu sein, und der ihr in Aussicht stellte, durch eine Revolution alles werden zu können. Erinnern wir uns kurz an die Pariser Commune, in der die ‚Internationale‘ geboren wurde: „Ein Nichts zu sein trägt es (das Proletariat/H.A.) nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf! Völker hört die Signale …“. Aus Nichts wird Alles und aus Alles wird Nichts, billiger macht es eine Revolution nicht, und diese Grundlegung der Dialektik durch Hegel, dass das Sein das Nichts ist, dass beide ineinander umschlagen, das hat der Revisionismus zu überspielen versucht. Die Konstellation, in der der Prolet nichts ist, sollte im ewigen Strom der Geschichte mitschwimmen, die Bewegung sei alles, das Endziel sei nichts, kurz: Der Revisionismus verewigt die Knechtschaft des Proletariats. Für Bernstein war das Endziel nichts, das heißt der Umschlag vom proletarischen Knecht zum Herrn der Produktion, in der die Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder liegt, wurde durch eine Verstümmelung der Dialektik aus dem Prospekt der Emanzipation entfernt. Und hier hat Rosa Luxemburg richtig gekontert: Für uns ist das Endziel alles! Marx und Engels schrieben 1845 in der ‚Deutschen Ideologie‘, dass für sie der Kommunismus die wirkliche Bewegung sei, welche den jetzigen Zustand aufhebt. 30. Für die Revisionisten zählt nur die Bewegung, für die Revolutionäre bedeutet die Aufhebung des jetzigen Zustandes die völlige Vernichtung der Bourgeoisie. Man muss sich die Klassenwurzeln des Revisionismus, seine Herkunft aus der Ökonomie der Kleinproduktion, die das Kleinbürgertum hervorbringt, verdeutlichen. Der Revisionismus ist hausgemacht. Die Ideologen der MLPD kommen ihm auf die Spur durch einen Umweg über Shanghai, dem Ausgangspunkt der chinesischen Kulturrevolution, diese habe so stark geleuchtet, dass der Revisionismus im Osten und im Westen in unseren Breitengraden zum Vorschein kommen musste. Man „genieße“ folgendes Zitat: „Es war vor allem die Kulturrevolution 1966/67 in China, die den Genossen half, ihre persönlichen Erfahrungen mit revisionistischen Erscheinungen in der KPD/SED zu einer prinzipiellen Kritik am Revisionismus zu verdichten. Den Hauptstoß ihrer Kritik richteten sie gegen den kleinbürgerlichen Lebensstil der Funktionäre der SED, in dem sie die Hauptursache der revisionistischen Entartung sahen“. 31. Hier ist der Marxismus nun auf den Hund gekommen, statt die Wurzeln des Revisionismus in der Ökonomie, ihrer objektiven Bewegung, in der Kleinproduktion, in der kleinbürgerlichen Klasse zu eruieren, wie es sich gehört – etwas ganz Bizarres: Die Ursache einer gesellschaftlichen Strömung liege nicht in der ökonomischen Formation, sondern im Lebensstil von einigen Parteifunktionären begründet. Der Lebensstil ist der oberflächlichste Ausdruck von Klassenpositionen, man kann diese den verschiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft zuordnen, hat aber damit nicht die Genesis dieser Klassen aus der Ökonomie wissenschaftlich nachgewiesen. Das kommt heraus, wenn man die Basis vom Überbau ausdeutet und bestimmt.

Der die Köpfe beherrschende Geist Hegels zwang zur teilweise überzogenen einseitigen Radikalität in der ‚Deutschen Ideologie‘. Mit dem Feuerbachkapitel in ihr liegt ein Schnitt vor, denn jetzt liegt eine eindeutig materialistische Grundposition vor, deshalb ist ja das Schriftgut vor 1845 für die Revisionisten so interessant. Wie allerdings Marx und Engels in der ‚Deutschen Ideologie‘ die Dominanz der ökonomischen Struktur über den Überbau überbewerteten, was Engels in seinen Spätbriefen noch korrigieren konnte, so schlägt bei Mao das Pendel in die andere Richtung aus; nach Maos Meinung muss Engels ein mechanischer Materialist gewesen sein. Es ist kein Zufall, dass Mao in seiner Studie über den Widerspruch auf alte chinesische Mythen zurückgreift, in denen es immer um konkrete Transformationen der Gegensätze ineinander geht. So führt er aus dem Buch ‚Die Pilgerfahrt nach dem Westen‘ die 72 Verwandlungen des Affenkönigs Sun Wu-Kung an und die Verwandlungen von Geistern und Füchsen in Menschen aus den vielen Erzählungen des Buches Liaodschaidschiyi. Diese Sammlung enthält 431 Erzählungen, die größtenteils von Göttern, Feen, Gespenstern und Füchsen handeln. Also Geister, Götter, Feen und Füchse – hatte Lenin nicht Recht, als er im ‚Linken Radikalismus‘ schrieb, dass jede Wahrheit, wenn man sie ‚exorbitant‘ macht, wenn man sie übertreibt, wenn man sie über die Grenze ihrer wirklichen Anwendbarkeit hinaus ausdehnt, unvermeidlich absurd wird. 32. Die exorbitanten Schriften Mao Tse-tungs sind allerdings nach dem Westen gelangt, und aus einer unkritischen kosmopolitischen Lektüre Maos stolperten Menschen, die sich für Materialisten und Marxisten hielten und halten, in die Gespensterwelt der Lehre von der Denkweise hinein. Seitdem geht ein Gespenst um in Deutschland, das Gespenst der ‚Lehre von der Denkweise‘. Nur für dieses bizarre marxistisch-leninistisches Gespenst stellen die Maotsetungideen eine schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus dar, ist Mao ein Klassiker, sind seine Lehren unverzichtbar für die Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution … u.s.w. … und so fort … die übliche Serie von Lobhudeleien und Superlativen … Mao ist der Schönste, wie im Himmel also auch auf Erden. Die MLPD ist allerdings zu unbedeutend, als dass man trotz der Verwendung von Superlativen von einer gelben Gefahr für den Marxismus sprechen könnte. Zu den Errungenschaften des historischen Materialismus von Marx gehört die Erkenntnis der Notwendigkeit, bei der Analyse historischer Prozesse zu unterscheiden zwischen der naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den Produktionsbedingungen und den ideologischen Formen des Klassenkampfbewusstseins. „So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären“. 33. Das ist der Leitfaden für Untersuchungen, die das Prädikat ‚gesellschaftswissenschaftlich‘ verdienen. Die Lehre von der Denkweise schlägt dem Marxismus mitten ins Gesicht; mit ihrem ersten Auftreten erweist sie sich als ein Machwerk der Konterrevolution, als Werkzeug einer konterrevolutionären Agentur. Dieser Fremdkörper in der Arbeiterbewegung besitzt die Dreistigkeit, dem Marxismus mitten ins Gesicht zu schlagen und diesen Akt noch als seine Weiterentwicklung auszugeben. Und natürlich treibt die ‚Lehre von der Denkweise‘ seltsame Stilblüten. In der Roten Fahne vom 14. September 2018 ist ein Artikel mit der Überschrift versehen worden: „Der Kampf um die Denkweise steht im Zentrum des antifaschistischen Kampfes“. 34. Im Zentrum des antifaschistischen Kampfes steht nach traditioneller formaler Logik und nach dialektischer immer noch der Faschismus. Der Denkweisefetisch lässt diese Sekte aus der antifaschistischen Kampffront herausfallen.

Die Lehre der MLPD im historischen Kontext

Woran es in der kritischen Auseinandersetzung mit der obskuren Denkweiselehre mangelt, ist die kaum vorhandene historische Sichtweise und Darstellung. Wir hatten oben bereits festgestellt, dass Marx für die Phase des klassischen Konkurrenzkapitalismus die Entwicklung einer Denkweiselehre für einen Rückfall in idealistische Positionen hielt, in der höchsten Phase des Kapitalismus, dem monopolistischen Kapitalismus, hatte uns Lenin zwar eine glänzende ökonomische Analyse dieser neuen Erscheinung geliefert, aber keine Lehre von der Denkweise. Das für den Imperialismus ausschlaggebende Monopol und die mit ihm verbundene Konzentration der Produktion führten zirka siebzehn Jahre nach dem Beginn der imperialistischen Ära zum sowjetrussischen Sozialismus. Lenin lebte nach der Oktoberrevolution noch zirka sieben Jahre unter der Diktatur des Proletariats, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, gegen eine bereits vorhandene Tendenz zur Bürokratisierung der Apparate eine Lehre von der Denkweise zu entwickeln. 1917 fand in der Theorie und Praxis der proletarischen Weltrevolution ein qualitativer Sprung statt, und hiervon ausgehend muss man den Ideologen der MLPD ihr eigenes Problem verständlich machen, das ihnen im Grunde nicht bewusst ist. Sie sind angehalten, das Spezifische des qualitativen Sprunges herauszuarbeiten, das es nötig machte, entgegen der marxistischen Theorie vor 1917 nun eine Lehre von der Denkweise zu entwickeln. Denn kein Ideologe der MLPD wird bestreiten, dass die Ausarbeitung einer Lehre von der Denkweise vor 1917 nicht nötig war. 1845 schrieben Marx und Engels die ‚Deutsche Ideologie‘, aus der es unmöglich war, eine Lehre von der Denkweise abzuleiten, 1895 starb Engels. Also ein halbes Jahrhundert nichts zur Lehre von der Denkweise. Diese wird ja auch als die ureigenste Entwicklung eines Herrn Willi Dickhut ausgegeben, der es zu seinen Lebzeiten versäumt hatte, sich dafür in einer psychiatrischen Klinik ein Patent ausstellen zu lassen. Durch Dickhut wurde in der Tat angeblich Wissenschaftliches der Arbeiterklasse nicht von außen (bei)gebracht, sondern eine wissenschaftliche Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus von innen in den Raum gestellt, das ist dann auch Ware danach. Dickhut und Engel sind Musterbeispiele, was herauskommen kann, wenn der wissenschaftliche Sozialismus der Arbeiterklasse nicht von außen beigebracht wird, beide sind klassische Vertreten für die Richtigkeit von Kautskys Einsicht, dass der wissenschaftliche Sozialismus von außen der Klasse zu geben ist, die Lenin bestätigte. Nach Lesart der MLPD steht eine proletarische Denkweise für weltgeschichtlich revolutionäres Denken, die kleinbürgerliche für ein Versumpfen in einer kleinbürgerlichen Alltagswelt. Ureigen im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Klassiker beriefen sich auf die Klassiker, Engels auf Marx (und umgekehrt), Lenin auf Marx und Engels, und Stalin auf alle drei. Die Apostel der Denkweise berufen sich nicht auf die Klassiker , weil sie es nicht können, weil bei ihnen für eine idealistische Lehre nichts zu holen ist. Willi Dickhut ist für die MLPD ein ganz abgeschnittener, aparter Klassiker, der allein die richtigen Schlussfolgerungen aus dem 20. Parteitag in Moskau gezogen und eine neue Methode im innerparteilichen Linienkampf entwickelt habe. Nun beweist aber gerade das Jahr 1956 die Bedeutung der Ökonomie für die revisionistische Entartung, der 20. Parteitag kann nicht die Bedeutung für eine Denkweiselehre begründen, zumal es auch nicht wahr ist, dass das Problem ‚proletarischer Politkommissar versus kleinbürgerlichen besser bezahlten Spezialisten‘ etwas ganz Neues war. Ganz Neues bringt Dickhut allerdings nicht. Bereits 1904 versuchte Max Weber mit seiner ‚Protestantischen Ethik‘ dem marxistischen Materialismus in die Parade zu fahren mit der Angabe, dass sich eine puritanisch-protestantische Denkweise als Entstehungsursache des Kapitalismus verantwortlich zeichne. Das war wirklich nicht mehr als eine Angabe.

„Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden“, 35. hatten Marx und Engels in der ‚Heiligen Familie‘ geschrieben. Das war in der Oktoberrevolution unternommen worden, für die Menschheit menschliche Umstände zu bilden. Die Lehre von der Denkweise, die die Reziprozität zwischen den Menschen und den Natur-Umständen, also den praktischen Bildungsprozess aussetzt und den Prozess in den subjektiven Pol fixiert, brütet nur im Subjekt Subjektives aus, den kleinbürgerlichen Bildungsbürger, für den die Entwicklung der Welt objektiver Gegebenheiten die Entwicklung seines Denkens ist. Was die Philosophen uns vorbringen ist ihr wie immer subjektives Denken, dem es gilt, nicht zu verfallen, was die Ideologen der MLPD uns vorsetzen ist ihre als proletarische Denkweise ausgegebene kleinbürgerliche Marx-Lenin-Auslegung, was es gilt, auseinander zu halten. Somit ist die Lehre der MLPD doppelt wurzellos, ein paar Äderchen reichen bis China und saugen maoistisches, nicht gerade reines Grundwasser ein. Soviel haben wir also auch den Klassikern zu verdanken, dass durch sie schon allein formal sogenannte Weiterentwickler ihrer Lehre als Scharlatane entlarvt werden. Im Grunde ist die Lehre von der Denkweise eine Totgeburt. Die Wissenschaft ist immer kollektiv und kommunikativ, das galt für die Enzyklopädisten und Aufklärer, das Briefvolumen Voltaires ist enorm, das gilt noch mehr für unsere Klassiker, Marx und Engels beschränkten sich ja nicht nur auf einen Briefwechsel untereinander. Bis heute können uns die Ideologen der MLPD das Spezifische im qualitativen Sprung von 1917 nicht unterbreiten, dieses muss aber dargelegt werden, soll denn die Lehre von der Denkweise eine Weiterentwicklung des Marxismus sein. Bis heute tappen sie diesbezüglich wie Deppen im dichten Wald umher. Die Oktoberrevolution hatte Theorie und Praxis proletarischer Emanzipation auf eine höhere Stufe gestellt, zum Beispiel durch die Sowjets. Diese siegten ohne proletarische Denkweise über den bürgerlichen Parlamentarismus, denn die Mehrheit der Sowjets bestand aus Kleinbauern und Kleinbäuerinnen oder Kleinbauernsöhnen und Kleinbauerntöchtern, die keine proletarische Denkweise haben konnten. Nicht eine Denkweise, sei sie proletarisch, sei sie kleinbürgerlich, hat über den Sieg der Oktoberrevolution entschieden, sondern millionenfache Friedenssehnsüchte und millionenfacher Landhunger, die zu ignorieren zum Scheitern der bürgerlichen Kerenski-Regierung führen musste. Als die Matrosen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen 1917 die Lehren von Karl Marx und von Lenin mit Variationen in die Praxis umsetzten, einen reinen Prozess kann es hier gar nicht geben, konnten sie nicht ahnen, dass eines Tages in Deutschland ein Herr Dickhut mit einer Lehre von der Denkweise aufsteht, durch deren Umsetzung in die Praxis der vielgestaltige Weg zum Kommunismus sicherer zum Ziel führt als mit den Lehren von Marx und Lenin allein. Das versichern uns seine Jünger. Mit Verlaub, dem Lohgerber Joseph Dietzgen (dem Älteren), einem schlichten Handwerker, war es gelungen, unabhängig von Marx und Engels und selbst von Hegel eine materialistische Dialektik zu entwickeln. ‚Dietzgen, das ist unser Philosoph‘ pflegte Marx zu sagen. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Schaffens des Arbeiterphilosophen Joseph Dietzgen steht sein Werk: „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit und Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie“ aus dem Jahr 1869, ein Jahr zuvor hatte er eine Rezension über den ersten Band des Kapitals geschrieben. Willi Dickhut, Sohn eines Fuhrunternehmers, kann für Marxisten-Leninisten im Gegensatz zu Dietzgen nur ein Name sein, der für die Verballhornung des Marxismus steht. Hätte Dickhut Dietzgens Buch studiert, seine Gedanken, dass das Bedürfnis, die Arbeit ergiebiger zu machen, zur Wissenschaft treibe und dann in zweiter Linie diese auf die produktive Arbeit zurückwirke, wäre er vielleicht nicht auf krumme Denkweisen gekommen, heute seiner verbiesterten Sekte Dietzgens Buch ans Herz bzw. unter das Kopfkissen ihres Denkweisekopfes zu legen, wäre nur der Wurf einer Perle vor Säue. Und eine Verballhornung muss herauskommen, wenn man Marxisterei mit einem simplen Geschichtsbild betreibt. Für die Denkweiseideologen gibt es im Grunde nur zwei entscheidende Ereignisse in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, den Oktober 1917 und den 20. Parteitag 1956, das erste ein Sprung vorwärts, das zweite einer rückwärts. 1917 gab es zwei Revolutionen und eine Doppelherrschaft, 1956 einen Parteitag und eine Geheimrede. Nun kann man zwar in den Naturwissenschaften elektrisches Licht ein- und ausschalten, in den Gesellschaftswissenschaften geht das nicht. 36. Ich hatte bereits auf die wichtige Aussage Lenins hingewiesen, dass der Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften, die Gesellschaft und ihre Erscheinungen, äußerst kompliziert ist. Man darf nicht mit einer Schablone ‚Proletarische oder kleinbürgerliche Denkweise‘, die dialektisch unbeweglich und Ausdruck einer Verdinglichung ist, an sie herantreten. Wir müssen dialektische Materialisten sein und keine mechanischen, in deren Repertoire gehört, Schablonen zu handhaben und anzuwenden. Eine Schablone ist ein Sargdeckel, der auf jede dialektische Theorie passt. Wir müssen die schwierige materialistische Dialektik meistern und dürfen uns diese nicht von den Denkweiseaposteln der MLPD mechanisieren lassen. Wir wollen für den Klassenkrieg verwertbare Resultate, die wir nur bekommen, wenn wir davon ausgehen, dass die gesellschaftliche Entwicklung nach fundamental marxistischer Lesart von objektiven Gesetzen und nicht von der Denkweise der Menschen bestimmt wird. Am 16. Dezember 1949 hatte Stalin in einem Gespräch mit dem chinesischen Parteiführer Mao die richtige und wichtige Überlegung mitgeteilt, dass der Sozialismus eine Wissenschaft sei, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten hat und dass ein Abweichen von ihnen bedeutet, dass der Aufbau des Sozialismus zum Scheitern verurteilt ist. Wir müssen die wirklichen Wurzeln des Revisionismus in der Ökonomie aufdecken und können uns nicht mit einer kleinbürgerlichen Denkweise abfüttern lassen. Lenin wies darauf hin, dass die Kraft des Kapitalismus in der Kleinproduktion liegt, die ständig, täglich, stündlich, spontan und im Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie hervorbringt. Eine ökonomische Gesellschaftsformation kann nicht durch eine Geheim rede (Geheim rede) in eine frühere zurückverwandelt werden, wohl aber durch eine Zersetzung der von Lenin geforderten größtmöglichen Zentralisierung der Großproduktion. Ihre Aufweichung ist eine Abweichung. Ein Umschlag von Gesellschaftsformationen hängt nach marxistischer Lesart von der Entwicklung der Produktivkräfte ab 37. und im Schoß des sowjetischen Sozialismus müssen oben angesprochene materielle Existenzbedingungen einer kapitalistischen Restauration ausgebrütet worden sein. Der Revisionismus ist primär immer eine Folge ökonomischer Entwicklungen und wirkt dann ideologisch auf diese reaktionären Tendenzen als politische Bewegung - die Reaktion verschärfend - zurück, die Hefe zum Aufblähen des reaktionären Teigs wird aus dem Überbau eingebröselt. Ökonomische Gesellschaftsformationen stellen in der Geschichte einmalig enorme Schwergewichte dar, so dass eine Putschtheorie aus dem politischen Sektor zwischen ihnen nichts zu suchen hat. Noch heute geistert in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft der Spuk rum, dass die Oktoberrevolution doch lediglich ein Putsch Lenins, noch lieber ein Putsch Trotzkis gewesen sei, dass also durch ihn der Kapitalismus vom Sozialismus abgelöst worden sei. Ein leninistisch-trotzkistischer Putsch wird gern in Anspruch genommen, unter den Historiker/innen in den USA besonders von der Schule der Totalitaristen, oder alternativ dazu eine hinterwäldlerische Agrarrevolte. Zu diesem Kreis zählt auch Max Weber; er deutete die Oktoberrevolution als eine „sozialistisch drapierte Militärrevolte“. Die Kehrseite dieser stumpfen Medaille wird durch das Lehrpersonal von der Denkweise geprägt, die Ablösung des Sozialismus durch einen neuen Kapitalismus sei klandestin-monokausal durch den Putschisten Crutschow erfolgt. Beide Auffassungen sind vor allem Ausdruck einer Schmalspurdenkweise gegenüber den äußerst komplizierten Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens. „Dampf, Elektrizität und Spinnmaschine waren Revolutionäre von viel gefährlicherem Charakter als selbst die Bürger Barbès, Raspail und Blanqui“. 38. Und wiederum sind es das gewöhnliche Bewusstsein und das Denkweisebewusstsein, der ungebildete Prolet und das Mitglied der MLPD mit seinem Denkweiseschnuller im Mund, die in ihren Stammtischanalysen bei Barbès, Raspail und Blanqui Halt machen, hier enden und Arm in Arm nicht weiter in die Tiefe gehen.

Zur Frage der Dialektik

Der Grundtenor der MLPD-Darstellung lautet: Im Gegensatz zur chinesischen Kulturrevolution habe unter Stalin die Kontrolle der Administration mit ihrer Tendenz zur kleinbürgerlichen Denkweise nicht durch die Mobilisierung der Massen, sondern zunehmend durch die politische, selbst verbürokratisierte Geheimpolizei administrativ stattgefunden. Ohne umfassende ideologisch-politische Massenerziehung, ohne Einsatz der Massen gegen die Bürokratie sei die kleinbürgerliche Denkweise gegenüber der proletarischen dominant geworden und hier liege der Schlüssel für die Restauration, für das Aufblähen der Bürokratie, der Zunahme der Bespitzelungen und des Überhandnehmens der materiellen Anreize. Höchst fragwürdig die Behauptung, aus der Bürokratie, aus diesem Tod des Volkes, habe sich eine revisionistisch ausgerichtete kapitalistische Klasse herausgebildet. Ist denn nicht klar, dass, selbst wenn die Lehre von der Denkweise ein Körnchen wissenschaftlicher Wahrheit enthalten würde, es für den historischen Materialisten völlig unmöglich ist, die Ursache für einen ökonomischen Formationswechsel im Überbau zu suchen, und dass es zweitens für den dialektischen Materialisten darauf ankommt, in einem Transformationsprozess die dialektischen Grundgesetze herauszukristallisieren, also: Einheit und Kampf der Gegensätze, hier zwischen Marxisten und Revisionisten, die beide unter dem Banner der proletarischen Revolution kämpfen, wobei aber letztere im Kapitalismus gegen die proletarische Revolution, im Sozialismus für den Kapitalismus kämpfen, zweitens Umschlag von Quantität in Qualität, hier: Wie und wann war der Restaurationsprozess quantitativ so stark, dass ein Umschlag gegen den Sozialismus erfolgen konnte und schließlich das dritte Grundgesetz der Dialektik, Negation der Negation, hier: Die Oktoberrevolution 1917 liquidierte den Kapitalismus (über den Umweg der NEP(= allseitige Entfaltung des Warenumlaufs, um aber doch ein gegenteiliges Resultat zu erhalten, nämlich die sozialistischen Wirtschaftsformen zum vollen Sieg zu verhelfen)), die Konterrevolution liquidierte den Leninschen Sozialismus, war der aus dieser zweiten Negation entstandene Kapitalismus der klassische oder welche spezifischen Eigentümlichkeiten trug er gegenüber dem westlichen etc.? War er ein ‚Kapitalismus neuen Typs‘? Zudem muss man beachten, dass alle drei dialektischen Grundgesetze sich prozessual wechselseitig durchdringen, was natürlich die Darstellung ungemein schwieriger macht. Der Gedankenpolizist Willi Dickhut hat ein dickes Buch über die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion geschrieben, aber die drei dialektischen Grundgesetze findet man darin nicht. Es stellt sich also die Frage: Sieht er die Welt als Komplex von Prozessen oder als Komplex fertiger Dinge? Das war die Gretchenfrage im Prozess der Ablösung der metaphysisch-mathematischen Methode durch die dialektische in der Geschichte der Philosophie und es ist bezeichnend, dass in Frankreich die Geschichtswissenschaft erst aufblühte, nachdem der schwerfällige Cartesianismus mit seiner ‚more geometrico‘ von der Frühaufklärung abgeworfen worden war. Die Lehre von der Denkweise ist gerade so ein fertiges Ding, ein Deus ex machina, eine Bürokratie wird aus einem auf einem Denkweiseschädel sitzenden Hut gezaubert. Estauchen zwangsläufig die Fragen auf: War zuerst die Bürokratie oder war zuerst die kleinbürgerliche Denkweise da? 39. Entstand die neue Kleinbourgeoisie aus der ideologischen Entartung kommunistischer Kader, die anfingen, eine kleinbürgerliche Denkweise zu pflegen, oder verlassen wir uns lieber auf Karl Marx, für den sich der Charakter von Klassen aus ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln ergab? Waren zuerst die Revisionisten oder waren zuerst die objektiven Tendenzen zum Kapitalismus da? Fragen dieser Art ergeben sich zwangsläufig in der metaphysischen Denkweise, die aus der Arbeitsteilung von Hand- und Kopfarbeit resultiert. Die marxistisch


Ende der Leseprobe aus 193 Seiten

Details

Titel
Historischer Materialismus und die Lehre von der Denkweise
Autor
Jahr
2019
Seiten
193
Katalognummer
V455246
ISBN (eBook)
9783668871793
ISBN (Buch)
9783668871809
Sprache
Deutsch
Schlagworte
historischer, materialismus, lehre, denkweise
Arbeit zitieren
Heinz Ahlreip (Autor:in), 2019, Historischer Materialismus und die Lehre von der Denkweise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455246

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