Die morphologische Komplexität der schwachen Verben in den drei germanischen Sprachen Deutsch, Schwedisch und Färöisch


Bachelorarbeit, 2011

41 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Hauptteil.

1. Grundlagen
a. Die Komplexitätsfrage in der Linguistik
b. Der Ansatz von Dammel und Kürschner
i. Konzept und Vorgehensweise
ii. Die Theorie der morphologischen Natürlichkeit als Basis für die Bestimmung qualitativer Komplexität
iii. Kritische Vorüberlegungen zur Übertragung des Ansatzes auf die Verbalmorphologie

2. Untersuchung der Verbalmorphologie im Deutschen, Schwedischen und Färöischen
a. Quantitative Komplexität: Die Anzahl der Allomorphe
b. Qualitative Komplexität: Die Komplexität der formalen Techniken
i. Stamminvolvierung
ii. Redundanz
iii. Nicht-Ikonizität
iv. Allomorphie
v. Fusion
c. Komplexität der Zuordnungsprinzipien

3. Ergebnisse und Diskussion.

III. Schluss

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Ist es möglich, natürliche Sprachen hinsichtlich ihrer strukturellen Komplexität zu un- terscheiden? Stellt man einem Nichtlinguisten diese Frage, wird die spontane Antwort in den allermeisten Fällen ein klares ,Ja‘ sein: Es ist eine verbreitete Auffassung, dass Sprachen wie Englisch aufgrund ihrer geringen Komplexität leicht erlernbar sind, wäh- rend beispielsweise Chinesisch, Finnisch oder Arabisch als komplexe und nur schwierig zu meisternde Sprachsysteme gelten.

Interessanterweise steht diese Auffassung in einem deutlichen Gegensatz zur sprachwis- senschaftlichen Diskussion, in der lange Zeit entschieden die These vertreten wurde, dass alle natürlichen Sprachen grundsätzlich die gleiche Komplexität aufweisen: War eine Sprache morphologisch simpel strukturiert, war es selbstverständlich, dass diese relative Einfachheit durch Komplexität in einer anderen Domäne, beispielsweise der Syntax, ausgeglichen wurde.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Überzeugung hat in den letzten Jahren ein stetig wachsendes Interesse entfacht und zu der Entwicklung von unter- schiedlichen Methoden zur linguistischen Komplexitätsmessung geführt, deren Ergeb- nisse das Argument von der Invarianz sprachlicher Komplexität teilweise entkräften konnten.

Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit solch einer Messmethode: DAM- MEL/KÜRSCHNER (2008) haben einen Ansatz zur Untersuchung der Komplexität der Pluralmorphologie in den germanischen Sprachen entworfen. Meine Arbeit verfolgt das Ziel, diesen Ansatz auf den Bereich der Verbalmorphologie zu übertragen und damit seine generelle Übertragbarkeit auf andere morphologische Teilbereiche zu überprüfen. Darüber hinaus soll eine Komplexitätshierarchie der drei untersuchten Sprachen Deutsch, Schwedisch und Färöisch im Hinblick auf ihre Flexion der schwachen Verben aufgestellt werden. Zur Kontextualisierung meiner Arbeit werde ich zunächst einen all- gemeinen Überblick über die Auseinandersetzung mit der Komplexitätsfrage innerhalb der Linguistik geben und den bisherigen Forschungsstand skizzieren. Dabei spielen ins-besondere die Fragen nach der Definition linguistischer Komplexität und der Möglich- keit, diese überhaupt adäquat beschreiben und messen zu können, eine Rolle. Anschließend beschreibe ich den Ansatz von Dammel und Kürschner sowie die ihm zu- grundeliegende Theorie der morphologischen Natürlichkeit. Nach einigen kritischen Vorüberlegungen zur Übertragung des Ansatzes auf das Untersuchungsgebiet der Ver- balmorphologie werde ich ihn für meine eigene Komplexitätsanalyse anwenden. In der abschließenden Diskussion werde ich meine Ergebnisse und den zugrundegelegten An- satz kritisch hinterfragen und auf Probleme eingehen, die sich während der Untersu- chung ergeben haben.

II. Hauptteil

1. Grundlagen

a. Die Komplexitätsfrage in der Linguistik

Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch herrschte die Meinung vor, dass die Spra- chen der Welt sich im Hinblick auf ihre Komplexität nicht grundsätzlich unterschieden, sondern geringe Komplexität in einer Domäne (z.B. der Phonologie) durch mehr Kom- plexität in einem anderen Bereich (z.B. der Morphologie) ausgeglichen wurde. Diese Auffassung, die sogenannte ,trade-off‘-Hypothese, wurde von Vertretern der verschie- densten theoretischen Überzeugungen, Deskriptivisten wie Generativisten, vertreten (vgl. SAMPSON 2009:2). Für Charles HOCKETT (1958:180-181) ist sie nicht überra- schend: „all languages have about equally complex jobs to do, and what is not done morphologically has to be done syntactically.“ Auch David CRYSTAL (1987:6) nimmt die Hypothese als selbstverständlich an, wenn er schreibt:

[a]ll languages have a complex grammar: there may be relative simplicity in one respect (e.g., no word-endings), but there seems always to be relative complexity in another (e.g., word-position).

Doch ist das wirklich so selbstverständlich? Wäre es nicht in der Tat eher überraschend, wenn für alle auf der Welt existierenden Sprachen nach der Berechnung ihrer gesamten grammatischen Komplexität jeweils exakt das gleiche Ergebnis herauskäme?

Interessanterweise bleiben die meisten Autoren einen stichhaltigen Beweis für die von ihnen verteidigte und aufrechterhaltene These von der Invarianz linguistischer Komple- xität schuldig. Sie scheint nicht hinterfragt, sondern vielmehr unkritisch übernommen zu werden: „they appeared to believe it because they wanted to believe it, much more than because they had reason for believing it“ (SAMPSON 2009:1). Dabei scheint die Überzeugung vieler Sprachwissenschaftler, linguistische Komplexität sei in allen Spra- chen der Welt gleich, nicht wissenschaftlich fundiert, sondern vielmehr einem ideologi- schen Hintergrund geschuldet zu sein. Laut Sampson ist die Vorstellung von der Gleichheit aller Sprachen vor allem für die Deskriptivisten ein Mittel gewesen, um die Gleichstellung aller Menschen zu demonstrieren (vgl. SAMPSON 2009:4). Für sie gab es keine simplen Sprachen, die auf eine ebenso simple, ,unterentwickelte‘ Kultur ihrer Sprecher hinweisen könnten. Alle Sprachen, seien es die historisch bedingt als beson- ders kultiviert und anspruchsvoll angesehenen europäischen Sprachen, die Indianerspra- chen, oder die Sprachen der dritten Welt: Sie alle wurden als gleichermaßen komplex angesehen; Die sich für die entsprechenden Autoren aus der Unterscheidung komplexer und simpler Sprachen ergebende Unterscheidung zwischen zivilisierten und primitiven Kulturen lehnte man entschieden ab.

Die kritische Auseinandersetzung mit der skizzierten, bis dahin vorherrschenden Mei- nung gewinnt in den letzten Jahren stetig an Interesse. Für SAMPSON (2009:1) ist die Klärung der Frage nach der Invarianz sprachlicher Komplexität sogar so bedeutend, dass er ihr größte Wichtigkeit zuschreibt: „There cannot be many current topics of aca- demic debate which have greater general human importance than this one.“

Viele Autoren haben eine Vielzahl unterschiedlicher Argumente in die Diskussion ein- gebracht und mit ihren Untersuchungen gezeigt, dass die These von der Gleichheit aller Sprachen in Bezug auf ihre Komplexität durchaus als Gemeinplatz enttarnt werden kann (vgl. MCWORTHER 2001:127). Dabei unterscheiden sich die durchgeführten Analysen sehr im Hinblick auf ihre theoretischen Grundlagen und die Durchführung. Beispiels- weise sei die Untersuchung von SINNEMÄKI (2008) genannt, welche verschiedene Stra- tegien im Bereich der morphologischen Kodierung von ,core arguments‘ untersucht und zu dem Schluss kommt, dass die oben skizzierte ,trade-off‘-Hypothese nicht zutreffend ist:

[...] the functional use of word order has a statistically significant inverse dependency with the presence of morphological marking, especially with dependent marking. Most other dependencies were far from statistical signi- ficance and in fact provide evidence against the trade-off claim, leading to its rejection as a general all-encompassing principle (SINNEMÄKI 2008:67).

Auch in den anderen linguistischen Domänen, der Morphologie und allen voran in der Phonologie, wurde versucht, die Komplexität verschiedener Sprachen messbar und ver- gleichbar zu machen. Als exemplarisch für die Phonologie seien die Arbeiten von MADDIESON (2006) und SHOSTED (2006) genannt. All diese Arbeiten haben die wissen- schaftlich fundierte und begründete Ablehnung der lange Zeit propagierten Vorstellung von der Gleichheit aller Sprachen im Hinblick auf ihre Komplexität gemein, die Unter- schiede in der jeweils zugrundegelegten Theorie und Methodik sind jedoch teilweise immens:

There is no conventionally agreed-upon metric for measuring complexity in grammars. This is partly because [...] the construction of a comprehensive diagnostic for precisely ranking any human language upon a scale of com- plexity is a daunting task (MCWORTHER 2001:133).

Bereits eine gemeinsame, prinzipielle Definition von linguistischer Komplexität erweist sich als schwierig. Eine grundlegende Frage scheint dabei zu sein, von welchem Stand- punkt aus Komplexität untersucht werden soll: Während sich beispielsweise KUSTERS (2003) dem Phänomen aus einem relativen Ansatz heraus nähert und damit solche Merkmale einer Sprache als komplex definiert, die einem Sprachbenutzer Probleme be- reiten, favorisiert MCWORTHER (2001) den absoluten Ansatz, welcher solche nicht- grammatischen Betrachtungsweisen aus der Analyse ausschließt und, vereinfacht aus- gedrückt, dasjenige Sprachsystem als komplexer ansieht, welches aus mehr Teilen bes- teht (vgl. MIESTAMO 2008:24). Der absolute Ansatz scheint dabei objektivierbarer zu sein und wird von MIESTAMO (2008) präferiert, weil er im Gegensatz zum relativen An- satz nicht von psycholinguistischen Studien und deren Ergebnissen abhängig ist.

Neben der Frage nach dem Ansatz, auf den sich berufen wird, ist auch die Beschäftigung mit der Bewertung hoher linguistischer Komplexität ein interessantes und diskutiertes Thema. Hierbei ist davon abzusehen, von dem irgendwie gemessenen Komplexitätsgrad einer Sprache Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Kultur der jeweiligen Sprachgemeinschaft ziehen zu wollen. Tatsächlich ist es, auch davon abgesehen, problematisch, hohe linguistische Komplexität als in irgendeiner Weise positiv zu bewerten. SAMPSON (2009:5) weist in diesem Zusammenhang auf das Akronym KISS (,Keep it simple, stupid‘) hin, welches verdeutlichen soll, dass komplexe Systeme nicht automatisch als die besseren gelten dürfen. Vielmehr kann auch das Gegenteil als zutreffend angesehen werden: „Both simplicity and complexity can be taken as an ideal, depending on what is thought to be the ideal purpose and context of language“ (KUSTERS 2003:5). Es zeigt sich hier, dass die Bewertung von Komplexität, sei sie nun positiv oder negativ, stark von der jeweiligen Fragestellung und dem theoretischen Hintergrund abhängt. Wichtig für die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit linguistischer Komplexität und deren adäquate Messung ist in jedem Fall eine genaue Definition, die der jeweiligen Untersuchung zugrunde liegt.

b. Der Ansatz von Dammel und Kürschner

i. Konzept und Vorgehensweise

Antje Dammel und Sebastian Kürschner entwerfen in ihrer Arbeit einen Ansatz zur kontrastiven Messung von Komplexität im Bereich der Pluralallomorphie beim Substantiv, der laut ihnen auch für andere morphologische Domänen zu nutzen ist (vgl. DAMMEL/ KÜRSCHNER 2008:245). Mein Vorhaben ist es, mich in meiner folgenden Analyse eng an ihre Untersuchungsschritte zu halten und die Übertragung des Ansatzes auf den Bereich der Verbalmorphologie zu erproben, um als Resultat eine Komplexitätshierarchie der Sprachen Deutsch, Schwedisch und Färöisch zu erhalten. Daher soll zunächst das grundlegende Konzept sowie die Vorgehensweise der Untersuchung von Dammel und Kürschner aufgezeigt werden.

Die Autoren untersuchen in ihrer Arbeit die Pluralallomorphie in zehn Sprachen, die alle den germanischen Sprachen angehören. Das Vorgehen der Autoren unterteilt sich dabei in drei grundlegende Untersuchungsschritte:

Zunächst wird in einem ersten Schritt die quantitative Komplexität bestimmt. Dies bedeutet am Beispiel der Pluralallomorphie, dass die Anzahl der in den jeweiligen Sprachen vorhandenen, regulären sowie frequent auftretenden Pluralallomorphe gezählt werden, die indigen und produktiv sind. Dabei gilt, dass eine Sprache desto komplexer ist, je mehr Allomorphe sie bereithält.

Der zweite Schritt hat die Untersuchung qualitativer Komplexität zum Ziel: Hier wird die Komplexität der formalen Techniken untersucht, die in der jeweiligen Sprache zur Herstellung der Singular-Plural-Distinktion angewendet werden. Der Komplexitätsbegriff basiert dabei vor allem auf den Konzepten der morphologischen Natürlichkeitstheorie und dem Relevanzprinzip von BYBEE (1985). Da diese Konzepte auch für meine Untersuchung von großer Wichtigkeit sind, erörtere ich sie detailliert und gesondert im nächsten Kapitel.

Neben der Komplexität der formalen Techniken interessiert die Autoren auch die Komplexität der Allomorphzuordnungen, ihrer Konditionierung. Diese wird im dritten Untersuchungsschritt ermittelt, indem verschiedene Ebenen unterschieden werden, auf die zur Wahl des entsprechenden Allomorphs zugegriffen werden muss und die somit die Wahl desselben steuern. Grundlegend wird dabei zwischen formalen Zuordnungsprinzipien (z.B. Allomorphwahl auf Grundlage der lautlichen Umgebung), morphologischer Konditionierung und semantischen Zuordnungsprinzipien unterschieden.

Die Autoren schlagen darüber hinaus noch einen weiteren Untersuchungsschritt vor, den sie selbst allerdings nicht durchführen und den ich daher auch vernachlässigen werde. Es handelt sich dabei um einen Validierungsschritt, welcher die Untersuchungsergebnisse mit tatsächlichem Sprachgebrauch, also mithilfe psycholinguistischer Experimente, abgleichen soll und damit gänzlich dem relativen Ansatz zuzuordnen ist. Problematisch dabei ist, dass solche Experimente schwierig durchzuführen sind, bzw. insbesondere für kleinere Sprachen überhaupt nur selten geplant werden.

Linguistische Komplexität wird von Dammel und Kürschner allgemein als eine Systemeigenschaft definiert, die Auswirkungen auf Sprachbenutzer hat (vgl. DAMMEL/ KÜRSCHNER 2008:244). Sprachsysteme werden hier somit nicht als unabhängig von Performanzprinzipien verstanden: Die Schwierigkeiten, die das jeweilige sprachliche System für seine Benutzer bereithält, müssen, so die Autoren, berücksichtigt werden, um Komplexität adäquat erfassbar machen zu können (ebd.:245). Damit lässt sich der Ansatz von Dammel und Kürschner als eine Mischung aus dem absoluten und dem relativen Ansatz charakterisieren, die ich beide oben skizziert habe. Der erste, quantitative Schritt, also die einfache Zählung der Allomorphe, ist dabei eindeutig dem absoluten Ansatz zuzuordnen, da er Komplexität basierend auf der unterschiedlichen Anzahl formaler Merkmalsausprägungen untersucht (vgl. ebd.:245). Um nun die unterschiedlichen Techniken, die von Sprachen verwendet werden, um morphologische Distinktionen wie Singular-Plural zu kodieren (zu diesen Techniken gehören beispielsweise Stammmodulation oder Suffigierung), hinsichtlich ihrer Komplexität bewerten zu können, beziehen die Autoren den relativen Ansatz mit ein, der sich auf die Sprachbenutzer stützt:

The complexity of coding techniques can also be determined by means of the effects they cause on lexicon organization or the (de-)coding of information. These questions cannot be completely solved in absolute terms, but only in relation to the effect they have in speech-/perception processes (DAMMEL/ KÜRSCHNER 2008:245).

Die Bezugnahme auf die Theorie der morphologischen Natürlichkeit mag dabei zunächst unverständlich anmuten, da es sich hier hauptsächlich um eine Theorie handelt, die darauf abzielt, ganz objektive Modelle anzubieten. Trotzdem basiert sie aber auf relativen Konzepten, da sie Modelle kognitiver Sprachverarbeitung nutzt (vgl. DAMMEL/ KÜRSCHNER 2008:246).1

Ihre Ergebnisse stellen Dammel und Kürschner mithilfe von Tabellen dar, in denen nach jedem Untersuchungsschritt die analysierten Sprachen im Hinblick auf ihre Komplexität im jeweiligen Bereich angeordnet werden. Die Erkenntnisse aus den einzelnen Untersu-chungsschritten werden schließlich gesammelt, um alle Sprachen anhand ihrer festgestellten Komplexität ordnen und vergleichen zu können.

ii. Die Theorie der morphologischen Natürlichkeit als Basis für die Bestimmung qualitativer Komplexität

Ein Ziel der morphologischen Natürlichkeitstheorie, das von DRESSLER ET AL. (1987:27) formuliert wird und welches die Theorie für die Anwendung im Rahmen einer Komplexitätsmessung besonders fruchtbar macht, ist es, das intuitive Gefühl größerer oder geringerer sprachlicher Leichtigkeit zu erforschen. Dabei geht die Theorie von der grundlegenden Annahme aus, dass Wortformen die ihnen zugrundeliegenden Bedeutungen teilweise oder ganz versinnbildlichen und somit ,ikonisch‘ sein sollten: „Was semantisch komplexer ist, [...] sollte auch formal komplexer sein – parallel zum inhaltlichen sollte auch ein formales Mehr hinzutreten“ (NÜBLING ET AL. 2008:50). Zudem wird die klare Segmentierbarkeit der entsprechenden Wortformen favorisiert. Diese Ideale lassen sich anhand der von Dammel und Kürschner analysierten Pluralformen gut verdeutlichen: Es leuchtet schnell ein, dass die Pluralform im Vergleich mit der Singularform eines Substantivs ein Mehr an semantischer Information trägt. Ein Beispiel dafür, dass dieses Mehr auch zu zusätzlichem formalen Ausdruck führt, der sich darüber hinaus klar segmentieren lässt, sind im Englischen die Formen car (Sg.) und car-s (Pl.). Wird dagegen das semantische Mehr nicht durch ein formales Mehr ausgedrückt, wie im deutschen Beispiel Mädchen (gleiche Form im Sg. und Pl.), sind die Formen nicht ikonisch. Von kontraikonisch spricht man bei Fällen wie Elternteil (Sg.) / Eltern (Pl.): Hier wird die semantisch weniger gehaltvolle Form durch ein Mehr im formalen Ausdruck kodiert, was dem Ikonizitätsideal stark zuwiderläuft.

Neben der Ikonizität sind für die morphologische Natürlichkeitstheorie die Prinzipien der Uniformität und der Transparenz entscheidend: Eine Funktion (z.B. Plural) soll durch genau eine, uniforme Form realisiert werden, während eine Form nur eine Funktion haben, also transparent sein sollte.

Das von BYBEE (1985) ausgearbeitete Prinzip der Relevanz stellt die weitere theoretische Grundlage für den Ansatz von Dammel und Kürschner dar. Es erlaubt Aussagen über den möglichen Grad der Verschmelzung formaler Elemente. Mit Relevanz ist dabei der semantische Einfluss gemeint, den eine grammatische Kategorie (z.B. Numerus) auf ihre Basis (z.B. das Substantiv) hat: Wenn die Semantik solch einer Kategorie das semantische Konzept, das der Basis zugrunde liegt, stark modifiziert, dann ist diese Kategorie hochrelevant für die Basis (vgl. BYBEE 1985:13). Nach Bybee wirkt sich dieser Relevanzgrad schließlich auf die formale Realisierung einer Kategorie aus: „Je relevanter eine Kategorie ist, desto näher steht sie an der Basis und desto eher fusioniert sie mit dieser“ (NÜBLING ET AL. 2008:48). Das bedeutet, dass es für eine für das Substantiv sehr relevante Kategorie wie Numerus wahrscheinlich ist, dass ihr Ausdruck direkt am Stamm oder, als hochrelevante Kategorie, sogar im Stamm erfolgt. Für Dammel und Kürschners Untersuchung der Pluralallomorphie bedeutet dies, dass die relevante Numerus- Information näher am Wort bzw. Stamm ausgedrückt werden sollte als beispielsweise Kasus (vgl. DAMMEL/KÜRSCHNER 2008:248).

Der Unterschied zum Ikonizitätskonzept der oben beschriebenen morphologischen Natürlichkeitstheorie besteht darin, dass Bybee keine 1:1-Beziehung zwischen Form und Inhalt proklamiert, sondern eine Hierarchisierung der Inhalte impliziert (vgl. SCHMUCK 2010:524). Das Relevanzprinzip kann damit häufige Abweichungen von den Prinzipien der natürlichen Morphologie erklären: Pluralbildungen durch Umlaut wie Vater – Väter sind zwar nicht ikonisch, gehorchen aber dem Relevanzprinzip, da die hochrelevante Numeruskategorie direkt im Stamm realisiert wird.

Um nun mithilfe der vorgestellten morphologischen Theorien Komplexität messen zu können, werten Dammel und Kürschner Verstöße gegen diese Prinzipien, also Allomorphien, Synkretismen, Redundanz und fusionierende oder stammmodulierende Verfahren, die der klaren Segmentierbarkeit von Wortformen entgegenwirken, als komplex.

iii. Kritische Vorüberlegungen zur Übertragung des Ansatzes auf die Verbalmorphologie

Der Ansatz von Dammel und Kürschner lässt sich nicht ohne Anpassungen auf den in dieser Arbeit betrachteten Bereich der Verbalmorphologie übertragen. Grundlegende Fragen, die zu Anfang meiner Analyse geklärt werden müssen, sind daher, welche Verben und welche Kategorien ich meiner Untersuchung zugrunde legen werde und wie sich die Prinzipien der natürlichen Morphologie und der Relevanz auf den Verbalbereich übertragen lassen. Darüber hinaus sind auch im Hinblick auf den Umfang dieser Bachelorarbeit die Rahmenbedingungen der Untersuchung anzupassen. Dazu gehört zunächst die Beschränkung auf eine geringere Anzahl von Sprachen. Während Dammel und Kürschner ihrer Untersuchung zehn germanische Sprachen zugrunde legen, werde ich mich auf die drei Sprachen Deutsch, Schwedisch und Färöisch konzentrieren. Damit untersuche ich mit dem Färöischen die Sprache, die bei Dammel und Kürschner die höchste Komplexität im Bereich der Pluralallomorphie erzielt hat. Schwedisch ist ebenfalls eine nordgermanische Sprache, unterscheidet sich allerdings sehr vom Färöischen, da sich die festlandskandinavischen Sprachen seit dem Mittelalter grundlegend anders entwickelt haben als die inselskandinavischen Sprachen Färöisch und Isländisch. Das Deutsche geht schließlich als ein Vertreter der westgermanischen Sprachen in meine Untersuchung ein.

Wie oben dargestellt, untersuchen Dammel und Kürschner in ihrem ersten Untersuchungsschritt die quantitative Komplexität und bestimmen dazu die Anzahl der regulären, indigenen, typenfrequenten und/oder produktiven Pluralallomorphe (vgl. DAMMEL/ KÜRSCHNER 2008:245-247). Dieses Vorgehen scheint auf den ersten Blick problematisch zu sein, da es im Rahmen einer Komplexitätsmessung angemessener erscheinen würde, die irregulären Formen zu zählen. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass reguläre Pluralbildungen sich in Bildungsklassen einteilen lassen, die gezählt werden können.2 Demgegenüber lassen sich irreguläre Bildungsweisen als idiosynkratisch charakterisieren, da das jeweilige Wort sich nicht einer Klasse zuordnen lässt, sondern

[...]


1 Vgl. hierzu auch DRESSLER ET AL. (1987:49): „Like the principle of constructional iconicity it [the principle of uniform encoding] is based upon biologically given preferences of the human brain [...]. Note, finally, that all principles [of natural morphology] are based upon human perception.“

2 Noch deutlicher als bei DAMMEL/KÜRSCHNER 2008 wird die Zählung der Pluralklassen in den verschiedenen Sprachen bei DAMMEL/KÜRSCHNER/NÜBLING 2010. Auf die Problematik, die durch die Klassifizierung regulärer Verbklassen aufgeworfen wird, gehe ich in Teil 2.a. näher ein.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Die morphologische Komplexität der schwachen Verben in den drei germanischen Sprachen Deutsch, Schwedisch und Färöisch
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
41
Katalognummer
V455103
ISBN (eBook)
9783668875227
ISBN (Buch)
9783668875234
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Linguistik, Verben, Skandinavistik, Morphologie, Komplexität
Arbeit zitieren
Rieke Petter (Autor:in), 2011, Die morphologische Komplexität der schwachen Verben in den drei germanischen Sprachen Deutsch, Schwedisch und Färöisch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455103

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