Bedeutungsanalyse des Romans "Zvezdnij bilet" von V.P. Aksenov


Seminararbeit, 1998

35 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Die Entstehung des neuen Modells der russischen Prosa der vierten Generation

2. Das literarische System Jeansprosa unter Berücksich- tigung des Romans von Aksënov

3. Bedeutungsanalyse des Romans Звёздный билет
3.1 Systemideologie
3.1.1 Basis-Opposition Jugendliche vs. Erwachsene
3.2 Systempoetik
3.2.1. Konfiguration
3.2.2 Handlung
3.2.3 Initiation und Initiationsreise
3.2.4 Erzählsituation

4. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Die vorliegende Arbeit behandelt den Kurzroman Звёздный билет von Vasilij Pavlovič Aksënov aus dem Jahre 1961. Als Textgrundlage dienen mir eine russischsprachige Ausgabe, 1970 erschienen in Aarhus, sowie eine deutsche Übersetzung von 1962.

Bevor ich zum Schwerpunkt der Arbeit, der Bedeutungsanalyse, übergehe, möchte ich einige wenige Informationen über den Autor und sein Schaffen liefern. Im Anschluss daran folgt ein Überblick über die Entwicklung der Literatur im Russland der frühen sechziger Jahre.

Звёздный билет wurde im Seminar im Rahmen des Themas „Jeansprosa - молодая проза“ analysiert, weshalb ich unter Zuhilfenahme der Abhandlung von A. Flaker „Modelle der Jeansprosa“ eine kurze Einführung in dieses literarische System geben werde.

Im weiteren Verlauf der Arbeit soll schließlich die Bedeutungsanalyse durchgeführt werden. Dabei richte ich meine Ausführungen nach einem im Seminar erhaltenen Schema. Somit entsteht bereits eine grobe Gliederung in die Untersuchungsaspekte Systemideologie und Systempoetik, die wiederum weitere Komponenten umfassen. Es gilt zu überprüfen, welche Punkte auf Звёздный билет zutreffen und in welchem inhaltlichen Zusammenhang sie stehen. Die Systemevolution wird bereits in den ersten zwei Kapiteln behandelt.

Vasilij Pavlovič Aksënov wurde 1932 in Kazan' geboren. Im Jahre 1956 schloss er sein Medizinstudium an der Leningrader Universität ab und arbeitete als Arzt im Leningrader Handelshafen. Später praktizierte er in einem Landkrankenhaus am Onegasee. Literarisch machte Aksënov erstmals 1959 in der damals vorherrschenden Jugendzeitschrift Junost', in der von nun an seine Kurzgeschichten gedruckt wurden, auf sich aufmerksam. Im Sommer 1960 veröffentlichte Aksënov sein erstes Werk Коллеги. Diese Erzählung brachte ihm als literarisches Nachwuchstalent sehr großen Erfolg ein. 1961 erschien der Kurzroman Звёздный билет, gefolgt von der Erzählung Апельсины из Марокко (1962), sowie dem Roman Пора , мой друг , пора… aus dem Jahre 1963.[1]

1. Die Entstehung des neuen Modells der russischen Prosa der vierten Generation

Nach dem XX. Parteitag im Jahre 1956 vollzog sich in der russischen Prosa ein Wandel, der von der „Ablösung vom sozialistischen Realismus“[2] geprägt war. Das bislang bestehende Programm des sozialistischen Realismus und das damit verbundene Prosamodell, das sowohl inhaltlich als auch formell der Ideologie dieses Programms entsprach, sollte den Massen Vorbilder schaffen, sie erziehen und von der Richtigkeit der Entscheidungen in der Politik überzeugen. In dieser Zeit kündigten sich in der russischen Prosa neue Strömungen an. Es folgte eine Literatur, die durch ihr kritisches Wesen gekennzeichnet war. Diese Kritik richtete sich gegen den sozialistischen Realismus, ebenso wie gegen die gesellschaftlichen und moralischen Werte, die weit über Stalins Tod bis in die Mitte der fünfziger Jahre unreflektiert aufrechterhalten wurden. Zu den ersten Schriftstellern, die „mit der öffentlichen Verurteilung Stalins und des «Personenkultes»“ begannen und somit „die direkte und polemische Auseinandersetzung um die moralischen und ästhetischen Probleme“[3] auslösten, zählten Aleksandr Solženicyn, Vladimir Dudincev, Daniil Granin, Jurij Nagibin und Aleksandr Jašin.

Die sowjetrussische Prosa der sechziger Jahre brachte neue dynamische Tendenzen zum Vorschein, die durch „eine Evolution der Erzählformen und eine Evolution des literatursprachlichen Standards in allen Ausdrucksbereichen“[4] charakterisiert war. Prosaautoren wie Vasilij Šuškin, insbesondere Anatolij Gladilin und Vasilij Aksënov versuchten die streng schematisierten Erzählformen des sozialistischen Realismus sowohl durch Einsatz von Kurzmonologen der Protagonisten als auch durch abwechselnden Bericht verschiedener Ich-Erzähler zu sprengen. Aksënov erreichte dies in seinem Kurzroman Звёздный билет mittels Konfiguration zweier Figuren, deren Schicksale gelegentlich in der anderen Person reflektiert werden. Diese Erzähltechnik ermöglichte die Einsicht in unterschiedliche Wertmaßstäbe, was wiederum eine Individualisierung der Moralvorstellung zur Folge hatte und letztlich mit dem totalitären Prinzip des sozialistischen Realismus vollends opponierte.[5]

Bis zum Jahre 1963 beschäftigte sich die sowjetische Presse nahezu ausschließlich mit „der Frage nach der Bestimmung, nach dem Weg der jungen Generation in der kommunistischen Gegenwartsgesellschaft.“[6] Ein Kritiker der „Literaturzeitschrift“, Felix Kusnezow, prägte den Begriff der „vierten Generation“ - einer Generation, die er folgendermaßen definierte: „Der junge Sowjetmensch, der geboren wurde, als der Sozialismus bereits reale Tatsache war. Er entwickelte sich…geistig und moralisch im Klima neuer gesellschaftlicher Beziehungen, indem er organisch die Wärme, die Luft und das Licht der neuen sozialen Atmosphäre aufnahm.“[7] Der Literaturkritiker und Verteidiger des reformistischen Lagers, Lew Annenskij, sah die Zugehörigkeit zur vierten Generation in zwei Daten verankert; zum einen im XX. Parteitag der Sowjetunion und zum anderen im Kriegsausbruch 1941: „Das Jahr 1941 hat die Nachkriegsgeneration von ihren älteren Brüdern geschieden. […] Wir haben es mit einer Generation zu tun, die in den dreißiger Jahren geboren wurde. Sie hat ihre eigene Physiognomie und ihr eigenes Schicksal.“[8] Obgleich der literarische Nachwuchs dieser Zeit aufgrund seiner klaren Sprache und moralischen Vorbildlichkeit allseits Lob einholen konnte, wurden dennoch Vorwürfe von fehlender geistiger und gesellschaftlicher Reife der fiktiven Figuren laut. Diese stehen in großem Widerspruch zu dem zuoberst angeführten Zitat. Eine Begründung für diese Vorwürfe suchte man im kommunistischen System, das dem Jugendlichen von jeher zwei Leitbilder aufdiktierte: das sentimental-emotionale, das an den Idealismus des jungen Menschen appellierte neben dem doktrinär-weltanschaulichen Leitbild, das den Menschen an eine Ideologie band. Die kommunistische Autoritätserziehung galt als Ergebnis einer Anpassung beider Komponenten aneinander. Die Autoren der vierten Generation vereinten dieses Weltbild in den Gestalten ihrer Werke, und entwickelten darüber hinaus Eigenschaften, die zur „Suche nach der Wahrheit“ führten.[9] Diese Suche nach der Wahrheit manifestierte sich als Sinnbild jener „Elite der Hochbegabten“, die „aus dem Kollektiv der Nachwuchsschriftsteller ausgebrochen“ waren.[10]

Zum Abschluss dieses Kapitels führe ich zwei Zitate an, die einem Streitgespräch zweier Kritiker entnommen sind, um den Bogen zur Erscheinung der Jeansprosa, die sich in Anlehnung an westliche Vorbilder in vielen osteuropäischen Ländern entwickelte, zu schlagen.

„Sie sind hauptsächlich darüber beunruhigt, daß die Helden dieser Literatur noch auf der Suche nach sich selbst sind und qualvoll über ihre Bestimmung nachgrübeln“, sagt Lew Annenskij, „ich halte dieses Suchen für notwendig. Es ist Ausdruck der ganzen Generation…Der Geist des Suchens und der Unzufriedenheit mit sich selbst ist typisch für die junge Generation. Es ist die Folge ihres Schicksals. Ich glaube, daß jede Begabung unter unseren Schriftstellern, daß alles Frische und Markante mit diesem Suchen…untrennbar verbunden ist.“

„Und Larissa Krjatschko antwortet ihm: „Sie behaupten, Talent sei vom Suchen nach der eigenen Bestimmung und der Wahrheit des Lebens nicht zu trennen. Das Suchen und die Unzufriedenheit erheben Sie per se zu abstrakten psychologischen Kategorien, die ihres konkreten sozialen Inhalts beraubt sind…Dabei gibt es keine abstrakte Wahrheit und kann sie gar nicht geben…Wie und mit welchen konkreten Mitteln…beteiligt sich die ,suchende junge Literatur’ am Kampf des ganzen Volkes für den Sieg des objektiven Humanismus und der Gerechtigkeit, am Kampf für den Kommunismus?“[11]

2. Das literarische System Jeansprosa unter Berücksichtigung des Romans von Aksënov

Aleksandar Flaker wählte den Begriff Jeansprosa für eine literarische Gattung, unter der er „eine Prosa, in der ein junger Erzähler auftritt […], der seinen eigenen, besonderen Stil auf der Grundlage der gesprochenen Sprache der Stadtjugend aufbaut und die traditionellen, eingebürgerten gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen in Frage stellt“[12], verstand. Dabei bedeuten Jeans nicht etwa nur ein Kleidungsstück, sondern vielmehr die Weltanschauung der Helden dieses Romantypus.[13]

Die Jeansprosa bediente sich allerhand Vorbilder. Eine beachtliche Rolle spielten dabei der Roman „The Catcher in the Rye“ des amerikanischen Autors Jerome Salinger, der durch die literarische Arbeit Aksënovs und Plenzdorfs zum Paradigma dieses Prosatypus wurde sowie Bücher von Alan Sillitoe, Jack Kerouac, Françoise Sagan, Raymond Queneau und Gertrude Stein. Dennoch entwickelte sich dieser Prosatypus in den osteuropäischen Ländern unter besonderer Berücksichtigung der nationalen literarischen Traditionen und stand ebenso in einer polemischen Beziehung zu dem so genannten Produktionsroman. Die Negierung der traditionellen Strukturen und ihre horizontale Suche nach einer Kontinuität in der zeitgenössischen Literatur hält Flaker für die bedeutendsten Ausgangspunkte der Jeansprosa.[14]

Grundlegend für die Jeansprosa ist die Opposition Halbwüchsige versus Erwachsene, die bei Flaker im Vordergrund der Analyse steht. Die Entfremdung der jungen Generation, die Christine Engel zum zentralen Thema ihres Aufsatzes machte,[15] kann äquivalent zu dieser Opposition betrachtet werden. Das Problem der Entfremdung der jungen Generation kam in der sowjetischen Literatur erstmals 1956 zur Sprache und wird von Literaten wie Rozov, Aksënov und Gladilin aus der Perspektive der Jugendlichen ausgedrückt. Als Ausgangspunkt für ein neuartiges Prosasystem trat es in der Sowjetunion erst nach dem Tode Stalins ein und nicht wie in den westlichen Staaten nach Kriegsende. Engel legte ihrer Ausführung den Entfremdungsbegriff K. Marx’ zugrunde, der besagt, dass

„in der bürgerlichen Gesellschaft der Mensch sowohl dem Produkt seiner Arbeit durch Ausbeutung, Lohnarbeitsverhältnis und mangelnde Verfügung über dieses Produkt als auch der Arbeit selbst entfremdet“ ist, „in der er nicht seine Selbstverwirklichung, sondern das Verdienen des Lebensunterhaltes sieht. Diese Entfremdung an der Basis findet ihren Niederschlag in sozialer Entfremdung […], in politischer Entfremdung […] und in einer Entfremdung von rechtlichen, philosophischen und religiösen Systemen.“[16]

Zentrale immer wiederkehrende Themen der Jeansprosa sind Sinnlosigkeit (Zweifel am überkommenen Wertangebot), Hilflosigkeit (Erkenntnis der Grenzen persönlichen Handelns), Kontaktlosigkeit (Auflösung bestehender und problematische Aufnahme neuer Beziehungen) sowie Sprachlosigkeit (Schwierigkeit, Erfahrungen auszudrücken und sich anderen mitzuteilen). Im Mittelpunkt der Jeansprosa befinden sich jugendliche Protagonisten, die sich mit den Moral- und Wertvorstellungen der Erwachsenen nicht identifizieren wollen.[17]

Ihre Welt besteht aus einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl, ihrer Kultur, Sprache und Idealismus, und wird der Welt der Erwachsenen, mit ihren Traditionen, Werten, Tabus und Institutionen gegenübergestellt. Die Beziehung zwischen den Gliedern dieser Opposition kann entweder konflikthaft oder evasiv sein. Bei Aksënov liegt eine evasive Beziehung vor, die sich an der Reise der Helden an die Ostsee ausmachen lässt. Die Initiationsreise stellt ein häufiges Motiv der Jeansprosa dar.

[...]


[1] In: Aksenow, Wassili: Fahrkarte zu den Sternen. Mit einem Vorwort von Wilhelm Löser. Köln: Wissenschaft und Politik 1962, S.6.

[2] Holthusen, Johannes: Russische Literatur im 20. Jahrhundert. München: Fink 1978, S.248.

[3] ebd., 1978, S.248.

[4] ebd., 1978, S.270.

[5] ebd., 1978, S.271-272.

[6] Ssachno, Helen von: Der Aufstand der Person. Sowjetliteratur seit Stalins Tod. Berlin: Argon 1965, S.221.

[7] ebd., 1965, S.222.

[8] ebd., 1965, S.226.

[9] ebd., 1965, S.223-224.

[10] ebd., 1965, S.224.

[11] ebd., 1965, S.225.

[12] Flaker, Aleksandar: Modelle der Jeans Prosa. Zur literarischen Opposition bei Plenzdorf im osteuropäischen Romankontext. Kronberg/Ts.: Scriptor Verlag, 1975, S.22.

[13] ebd., 1975, S.19.

[14] ebd., 1975, S.25-35.

[15] Engel, Christine: Das Problem der Entfremdung in der sowjetischen Prosa der ¸entfremdeten jungen Generation’ (1955-67). In: Wiener Slawistischer Almanach. 10. (1982), S.399-426.

[16] ebd., 1982, S.402.

[17] ebd., 1982, S.399-404.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Bedeutungsanalyse des Romans "Zvezdnij bilet" von V.P. Aksenov
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
2.0
Autor
Jahr
1998
Seiten
35
Katalognummer
V45302
ISBN (eBook)
9783638427258
Dateigröße
676 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Viele russische Textbeispiele in kyrillischer Sprache.
Schlagworte
Bedeutungsanalyse, Romans, Zvezdnij, Aksenov
Arbeit zitieren
Daniela Weingartz (Autor:in), 1998, Bedeutungsanalyse des Romans "Zvezdnij bilet" von V.P. Aksenov, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45302

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