Mehrsprachige Erziehung in der Kita? Eine Analyse des Konzepts "One Person - One Language"


Masterarbeit, 2017

104 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 SPRACHERWERB UND MEHRSPRACHIGKEIT
2.1 PHASEN DER MONOLINGUALEN KINDLICHEN SPRACHENTWICKLUNG
2.2 BEDEUTUNG VON MEHRSPRACHIGKEIT
2.3 TYPEN UND FORMEN DER MEHRSPRACHIGKEIT
2.3.1 Zweitspracherwerb
2.3.2 Doppelspracherwerb oder Bilingualismus
2.3.3 Sprachtrennungsregeln
2.3.4 Bedeutung der Erstsprache

3 BEDEUTUNG UND FUNKTION VON SPRACHE FÜR KINDER
3.1 SPRACHE UND IDENTITÄT
3.2 KULTUR, SPRACHE UND IDENTITÄT
3.2.1 Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund

4 MEHRSPRACHIGKEIT IN INSTITUTIONELLEN BILDUNGSEINRICHTUNGEN
4.1 STATISTIKEN
4.2 MEHRSPRACHIGKEIT AUS SICHT DES PÄDAGOGISCHEN FACHPERSONALS IN KITAS UND DER
KINDER
4.3 SPRACHFÖRDERKONZEPTE UND -MASSNAHMEN IN DER KITA
4.4 FRÜHKINDLICHE BILDUNG, ERZIEHUNG UND BETREUUNG: DER PÄDAGOGISCHE AUFTRAG DER
KITA
4.5 BIKULTURELLE BILDUNG ALS KONZEPT

5 DAS KONZEPT „ONE PERSON – ONE LANGUAGE“ IN DER KITA: MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER UMSETZUNG
5.1 BESCHREIBUNG DES KONZEPTS
5.2 EINSATZ VON AUSLÄNDISCHEN FACHKRÄFTEN
5.3 INTERKULTURELLE ERZIEHUNG: VORAUSSETZUNGEN, ZIELE UND GRENZEN
5.3.1 Elternarbeit
5.4 QUALITATIVE INTERVIEWS MIT KITA-PERSONAL
5.4.1 Qualitative Befragung - Das Leitfadeninterview
5.4.2 Auswertungsmethode
5.4.3 Ergebnisse

6 AUSBLICK

7 LITERATURVERZEICHNIS

8 ABBILDUNGSVERZEICHNIS

9 ANHANG

Anhang

A – Transkription der Leitfadeninterviews

B – Einwilligungserklärung für das Leitfadeninterview

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

(Ludwig Wittgenstein, 1918)

1 Einleitung

Lange Zeit wurde bestritten, was heute nicht mehr von der Hand zu weisen ist: Deutschland gilt als Einwanderungsland. Im Jahr 2016 hatten rund 18,6 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Seit Beginn der Messung im Jahr 2005 ist dies der stärkste Zuwachs. Das bedeutet, dass jeder fünfte Mensch in Deutschland einen Migrationshintergrund hat. Dazu zählt das Statis- tische Bundesamt Personen, die selbst oder mindestens ein Elternteil der betroffe- nen Personen nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden. Diese De- finition umfasst im Einzelnen zugewanderte und nicht zugewanderte AusländerIn- nen, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-)AussiedlerIn- nen, sowie die als Deutsche geborenen Kinder dieser Gruppen (Statistisches Bundesamt, 2017).

Eine gleichberechtigte Teilhabe dieser Menschen am gesellschaftlichen Leben ist unabdingbar. Allerdings sieht die Realität meist anders aus, denn die PISA-Studie zeigt, dass Kinder aus zugewanderten Familien deutlich geringere Bildungserfol- ge aufweisen, als Kinder ohne Migrationshintergrund, was wiederum Auswirkun- gen auf höhere Arbeitslosigkeit und geringere Einkommen hat. Die soziale und kulturelle Herkunft bestimmt also weitgehend den Bildungserfolg. Ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund verfügt aufgrund der historischen Ent- wicklung der Migrationsbewegung in Deutschland, sowie durch migrationsspezi- fische Entwertungsprozesse, über ein geringes ökonomisches, kulturelles und so- ziales Kapital. Aus diesem Grund zählen diese Kinder zur Gruppe mit erhöhtem Entwicklungsrisiko (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 15).

Bildung wird immer wieder als Schlüssel zur Integration bezeichnet, daher be- einflusst dieser Umstand das gesellschaftliche Zusammenleben entscheidend mit. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist im deutschen Bildungssystem Grund- lage zur Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation. Da Menschen mit Mi- grationshintergrund, insbesondere Kinder, diese Fähigkeit oft nur unzureichend besitzen, wird dies häufig als Ursache für den Bildungsmisserfolg gesehen.

Die meisten der in Deutschland lebenden Kinder mit Migrationshintergrund wachsen mindestens zweisprachig auf, da sie zum einen ihre Muttersprache(n) Zuhause erlernen und zum anderen die deutsche Sprache mit Eintritt in eine (vor)schulische institutionelle Bildungseinrichtung sukzessiv erwerben. Es wurde bereits vielfach in Frage gestellt, ob sich die Erst- und Zweitsprache und deren Er- werb gegenseitig behindern oder fördern. Darüber hinaus wurde ebenfalls kontro- vers diskutiert, wie der Mensch beziehungsweise das Kind zur Sprache kommt, welche Unterstützung es benötigt und was sprachliche Bildung und Förderung leisten sollte. In einigen Fachgebieten wird die kommunikative Funktion von Sprache in den Mittelpunkt gestellt, in anderen wiederum die grammatikalische Struktur der Sprache. Somit spielen die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern be- reits im Vorschulalter eine grundlegende Rolle, was sich insbesondere in der aktu- ell geführten bildungspolitischen Diskussion über Sprachauffälligkeiten von Kin- dern mit Migrationshintergrund zeigt (Jampert et. al., 2005, S. 17).

Allerdings wird auch hier unterschieden zwischen Kindern, deren Eltern wenig Deutsch im familiären Rahmen ihr Herkunftssprache(n) sprechen und die deut- sche Sprache erst mit Eintritt in den Kindergarten erwerben und Kindern, die von Geburt an Zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, da die Eltern beide unterschiedli- che Sprachen sprechen und ihr(e) Kinde(er) bilingual erziehen möchten. Die ver- schiedenen Formen der Mehrsprachigkeit werden zu Beginn der Arbeit erläutert. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass es sich im Kontext dieser Arbeit vorder- gründig um Kinder handelt, deren Eltern über geringe Deutschkenntnisse verfü - gen und die Kinder erst mit Eintritt in die Kita Deutsch lernen, es sich also um Migrationsbilingualismus handelt.

Aufgrund der bereits dargelegten Tatsachen, werden wir in unserer heutigen Ge- sellschaft an vielen unterschiedlichen Stellen mit einer multikulturellen Wirklich- keit konfrontiert. Dies führt dazu, dass viele Kinder mit Migrationshintergrund eine Kindertagesstätte besuchen und somit in einer zwei- oder mehrsprachigen Si- tuation leben, was mittlerweile Normalität in unserer Gesellschaft darstellt. Aus diesem Grund sollte die Mehrsprachigkeit als ein wesentlicher Aspekt des Auf- wachsens verstanden werden, welcher unbedingt in die alltägliche Arbeit in insti- tutionellen vorschulischen Bildungseinrichtungen eingebunden werden und Be- rücksichtigung finden sollte. Allerdings wird Mehrsprachigkeit in Kitas grund- sätzlich eher als Belastung und weniger als Bereicherung angesehen und empfun- den. Dies ist besonders dann der Fall, wenn es sich nicht um Bildungssprachen, wie zum Beispiel Englisch oder Französisch handelt, sondern um Minderheiten- sprachen, wie Türkisch oder Arabisch. Grund dafür ist meistens die Sorge um die oft geringen Deutschkenntnisse der Kinder und die damit verbundene, oftmals als zusätzlich empfundene Arbeit der pädagogischen Fachkräfte, nämlich den Kin- dern die Deutsche Sprache näher zu bringen sowie zwischen den Kindern unter- einander zu vermitteln und mit den Eltern zu kommunizieren. Die These, dass die Haltung und Einstellung des pädagogischen Fachpersonals in Kitas gegenüber der Migrationsthematik zum Erfolg des Deutschspracherwerbs bei Kindern nichtdeut- scher Herkunft beiträgt, oder gar verhindert, wenn die Kinder die Einstellung die- ser übernehmen, wird im Laufe der Arbeit aufgegriffen und diskutiert.

Im Rahmen der vorliegenden Masterthesis stellt sich also die Frage, ob eine mehr- sprachige Erziehung in Kitas überhaupt möglich ist und ob vorschulische Institu- tionen die Vielfalt der Kulturen und Sprachen aktiv unterstützen sollten, oder ob der Fokus ausschließlich auf die Förderung der Deutschen Sprache zu richten ist. In diesem Zusammenhang gilt es zu klären, welche Faktoren eine Rolle spielen und welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssten, um Kindern eine bestmögliche (Sprach)Entwicklung ermöglichen zu können.

Im ersten Teil dieser Arbeit geht es um den allgemeinen Spracherwerb bei Kin - dern und die Definition sowie Bedeutung der verschiedenen Typen und Formen der Mehrsprachigkeit. Ferner wird im Anschluss das Verhältnis von Sprache und Identität thematisiert, da die Sprache eines Menschen einen der stärksten identi- tätsstiftenden Faktoren überhaupt darstellt und sich in diesem Zusammenhang die Frage stellt, „wie unter den Bedingungen sich ändernder demografischer Verhält- nisse einerseits europäische Mehrsprachigkeit, andererseits Zuwanderung und In- tegration – individuell und kollektiv- erfolgreich organisiert werden können“ (Ple- wina, 2011, S. 8).

Weiterhin wird in Kapitel 4 dargestellt, inwieweit Bilingualismus oder Mehrspra- chigkeit in institutionellen Bildungseinrichtungen einen Stellenwert findet und wie diese dort organisiert wird. Darüber hinaus werden ebenfalls Möglichkeiten aufgezeigt, den Spracherwerb bei Kindern, die zwei- oder mehrsprachig auf - wachsen sind, zu fördern sowie das Konzept der bikulturellen Bildung vorgestellt, welches das Ziel anstrebt, die in der Familie entstandenen Werte und Ausdrucks- formen im emotionalen und kognitiven Bereich im Rahmen der Kindergartenpra - xis und Schule weiter zu entwickeln. Hierauf baut das im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Konzept „One Person – One Language“ auf, welches in Kapitel 5 er- läutert wird. Hierbei geht es um den Einsatz von ausländischem pädagogischem Fachpersonal, welches in Kindertagesstätten eingesetzt werden könnte und mit den Migrationskindern in deren Sprache spricht, um die Erst- sowie Zweitsprache gleichmäßig zu fördern. Hierzu wurden zwei qualitative Leitfadeninterviews mit Kita-Leitungen geführt, welche sich im Anhang der Arbeit befinden. Die Ergeb- nisse werden in Kapitel 5.4.3 vorgestellt. In einem Ausblick erfolgt abschließend eine Zusammenfassung zentraler Schlussfolgerungen und Ergebnisse dieser Ar- beit.1

2 Spracherwerb und Mehrsprachigkeit

Die Sprachentwicklung eines Kindes ist ein erlernter und kein automatischer Pro- zess. Von Geburt an lernen wir in der Interaktion mit anderen Menschen sprechen (Reichert-Garschhammer & Kieferle, 2011, S. 28).

Zwar ist die Fähigkeit zum Spracherwerb im Menschen biologisch angelegt und jede Sprache wird auf der Basis angeborener modularer Strukturen erlernt, jedoch kann sich diese nur im sozialen Kontext über die Interaktion mit der Umwelt voll entfalten (Nauwerck, 2005, S. 38 & Jeuk, 2003, S. 18).

Daraus lässt sich schließen, dass sich Kinder eine Sprache im handelnden Um- gang mit ihrer Umwelt aneignen.

Dieser handelnde Umgang findet in den meisten Fällen in der Familie statt, in welche das Kind hineingeboren wird. Im Laufe der Entwicklung nutzt das Kind zudem die Lebenswelt außerhalb der Familie und baut somit seine Sprach - kompetenzen aus. Während der Prozess des Spracherwerbs bei einsprachig auf- wachsenden Kindern in einer eher homogenen Situation erfolgt, können mehr- sprachig aufwachsende Kinder meist weniger auf diese Situation zurückgreifen und müssen bereits relativ früh aus häufig wechselnden Situationen den Sprachin- put, welchen sie für den Erwerb weiterer Sprachen brauchen, herausfiltern.

Des Weiteren sollte die Entwicklung der Sprache nicht nur aus dem linguistischen Blickwinkel betrachtet werden. Vielmehr muss auch die körperlich sowie die geis- tige Entwicklung mit in einen Zusammenhang gesetzt werden. Das bedeutet, dass die Beurteilung der sprachlichen Entwicklung eines Kindes unbedingt mit der all- gemeinen Entwicklung in Verbindung gebracht werden muss (Ringler, 2004, S.24f).

Der kognitive sowie sprachliche Entwicklungsstand eines Kindes sollte immer in einen Zusammenhang gebracht und berücksichtigt werden, denn Sprache und Ko- gnition bedingen sich gegenseitig. Lernen und Gedächtnis sind erforderliche Vor- aussetzungen des Spracherwerbs und werden durch die immer weiter voranschrei- tende Sprachkompetenzen gefördert.

Die allgemeine Sprachentwicklung lässt sich, was die kindliche Aktivität betrifft, in zwei Phasen einteilen, nämlich in die Rezeption und in die Produktion. Dies si- gnifiziert, dass das Kind bereits in der vorsprachlichen Phase aktiv ist. Es nimmt die Sprache seiner Umwelt auf und versteht diese, auch wenn es selbst nicht aktiv spricht (Nauwerck, 2005, S. 38).

Die Begriffe Muttersprache, Erstsprache und Zweitsprache, Bilingualismus sowie Mehrsprachigkeit werden nicht immer einheitlich verwendet, somit mischen sich alltagssprachliche als auch fachsprachliche Begriffe aus unterschiedlichen For- schungsrichtungen.

In der Spracherwerbsforschung wird bei den Begrifflichkeiten die Erwerbsreihen- folge und das Alter des Kindes hervorgehoben. Man spricht vom Erstspracher- werb, Zweitspracherwerb, Drittspracherwerb etc. Anders ist der Gebrauch in der Fremdsprachendidaktik, hier steht der Kontext, in welchem die Sprache erworben wird im Fokus. In diesem fremdsprachdidaktischen Zusammenhang verwendet man den Begriff "DaF" für Deutsch als Fremdsprache. "DaZ" hingegen steht für Deutsch als Zweitsprache und bezieht sich auf den ungesteuerten Spracherwerb (Fehlings de Acurio, 2016, S. 10f). In Kapitel 2.3 wird kurz auf die Definitionen näher eingegangen.

Zuerst werden im folgenden Kapitel die allgemeinen Aspekte der Sprachentwick - lung, das heißt ihre Grundlagen und Phasen erläutert, um anschließend auf die Wesensmerkmale und die Bedeutung der Mehrsprachigkeit von Kindern einzu- gehen sowie die Frage zu klären, ab wann eine Person als zweisprachig bzw. mehrsprachig gilt und welche Typen und Formen der Mehrsprachigkeit vorhanden sind.

2.1 Phasen der monolingualen kindlichen Sprachentwicklung

Betrachtet man die Stadien des kindlichen Spracherwerbs, so ist der Schrei als er - ste Lautproduktion von primärer Bedeutung. Er stellt ein Warnsystem zur Überle- benssicherung dar und informiert über den Zustand des Säuglings. Vokalartige Grundlaute stellen den Ausgangspunkt vokaler Kommunikation dar. Diese Vorstu- fe des Spracherwerbs wird die Lallphase genannt. In dieser Phase können bereits Unterschiede beim Schreien des Säuglings wahrgenommen werden (Ringler & Küpelikilinc, 2004, S. 41). Während dieses in den ersten Wochen Grund- und Gurrlaute von sich gibt, treten nach circa sechs Wochen die ersten melodischen Modulationen sowie Anklänge an Vokale und weiche Gaumenlaute auf (Klann- Delius, 2016, S. 21f). Die Lautäußerungen werden im Alter von zwei bis drei Mo- naten differenzierter (Ringler & Küpelikilinc, 2004, S. 41), die neuronalen Struk- turen entwickeln sich so weit, dass es mittlerweile erste Laute, meist Vokale und kurze Zeit später Silben produzieren kann (Stamm, 2010, S. 68). Diese Phase wird als stimmliche Expansion bezeichnet, denn hier wird das Potential des Stimmap - parates ausprobiert, das Kind wiederholt Laute und reagiert immer mehr auf Sprachanregungen. Gegen Ende der Phase kann das Kind bereits einzelne Wörter erkennen. Mit circa sechs Monaten beginnt die Phase des Babbelns, die ersten Konsonanten werden systematisch gebildet und mit Vokalen kombiniert (Klann- Delius, 2016, S. 22).

Mit circa einem Jahr stellt das Kleinkind eine Verbindung zwischen dem Laut und dem Inhalt her, was als Ein-Wort-Phase bezeichnet wird. Die Laute werden zielge- richtet eingesetzt, wobei sich die Ein-Wort-Äußerungen immer auf eine Gesamtsi- tuation beziehen (Ringler & Küpelikilinic, 2004, S. 41f). In diesem Zeitraum wird ein Wortschatz von etwa 50 Wörtern aufgebaut (Klann-Delius, 2016, S. 23). Das zweite Stadium der Syntaxentwicklung, die Zwei-Wort-Phase, setzt zwischen ein- einhalb und zwei Jahren ein, wenn das Kind immer häufiger Wörter miteinander verbindet. Einfache Aufforderungen mit Handlungsanweisungen, wie zum Bei- spiel: „Hol die Puppe und komm zu Mama“ werden verstanden und umgesetzt. Mit circa drei bis vier Jahren beginnt das Kind Sätze mit drei und mehr Wörtern zu bilden. Es entwickelt einen Bezug zu Orts- und Zeitbestimmungen, es benutzt meist Hauptsätze und nähert sich an Verhältniswörter wie „in“, „an“, „auf“ an. Des Weiteren baut es gelegentlich Nebensätze mit ein. Zudem beginnt es intensi- vere Nachfragen zu Zusammenhängen, vorhandenen Gegenständen sowie zu vor- gelesenen Geschichten zu stellen (Ringler & Küpelikilinc, 2004, S. 42).

Die grammatikalischen Grundstrukturen der Erstsprache, das heißt das Kongru- enzsystem und die Struktur des einfachen Hauptsatzes, sind in dieser Altersstufe bereits erworben (Reichert-Garschhammer & Kieferle, 2011, S. 3).

Etwa ab dem fünften bis sechsten Lebensjahr beherrscht das Kind weitgehend eine korrekte Aussprache, ein Verständnis von Pronomen und Verbindungswörtern sowie ein Passivverständnis (Ringler & Küpelikilinc, 2004, S. 42).

Das Kind verfügt ab jetzt über einen rezeptiven Wortschatz von rund 13000 Wör- tern (Reichert-Garschhammer & Kieferle, 2011, S. 34).

Es wird in der Wissenschaft grundsätzlich davon ausgegangen, dass etwa bis zum Alter von zwölf bis 14 Jahren der Spracherwerbsprozess weitestgehend abge - schlossen ist, unabhängig davon, ob die Prozesse ein- oder mehrsprachig verlau- fen. Ab diesem Zeitpunkt ändert sich der Lernprozess. Die für die Entwicklung von Sprachkompetenzen verantwortlichen Neuronenverknüpfungen im Gehirn er- folgen mit zunehmendem Alter weniger flexibel (Ringler & Küpelikilinc, 2004, S. 35).

Zu betonen ist, dass, wie schon erwähnt, Kinder eine Sprache im handelnden Um- gang mit ihrer Umgebung erlernen. Dabei spielen einerseits Fähigkeiten wie Se- hen und Hören eine Rolle, andererseits ist vor allem eine positive emotionale Zu- wendung der Bezugsperson sowie die Qualität und Quantität des sprachlichen In- puts von essentieller Bedeutung.

Ebenfalls zu betonen ist, dass jedes Kind eine eigene Entwicklungsgeschwindig- keit hat und sich nicht immer in allen sprachlichen Aspekten gleich schnell entwi- ckelt (Reichert-Garschhammer & Kieferle, 2011, S. 29f). Die beschriebenen An- gaben sollen lediglich als Richtwerte verstanden werden.

2.2 Bedeutung von Mehrsprachigkeit

Wie eingangs schon erwähnt, gibt es eine Vielzahl von Definitionen, wovon jede Definition andere Merkmale der Mehrsprachigkeit betont. Aktuell besteht in der Fachliteratur keine Übereinstimmung über eine allgemeingültige, disziplinüber- greifende Begriffsbestimmung (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 20).

Wiebke Scharff Rethfeldt (2013, S. 21) definiert es wie folgt:

Die unterschiedlichen Fragen zur Bestimmung der individuellen Mehr- sprachigkeit reflektieren erneut ihre Vielfältigkeit, ihre Komplexität und die damit verbundenen Grenzen, selbst auf individueller Ebene eine prä- gnante Definition zu formulieren. Aus sprachtherapeutischer Sicht ist da- her die Berücksichtigung konkreter Kriterien einer Zuordnung zu einer spezifischen Definition zur Bestimmung der individuellen Mehrsprachig- keit vorzuziehen.

Allgemein formuliert ist eine Person mehrsprachig, wenn sie fähig ist, sich ohne Schwierigkeiten in mindestens zwei Sprachen mündlich auszudrücken. Triar- chi-Herrmann (2012, S. 15) schreibt, dass die Person diese Fähigkeit „aufgrund ihrer eigenen psychischen, emotionalen und soziokulturellen Voraussetzung sowie durch den ständigen und intensiven Kontakt mit einer mehrsprachigen Umgebung entwickelt hat.“

Laut Heuchert (1989, S. 23) sind aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen, unter welchen das Kind zwei oder mehrere Sprachen parallel erwirbt, die Sprachen in den seltensten Fällen gleichmäßig verteilt. Die Konsequenz daraus ist, dass die Sprachen in den verschiedenen Bereichen, wie zum Beispiel im Wort - schatz oder Satzbau, unterschiedlich beherrscht werden.

Die sprachlichen Kompetenzen von Mehrsprachigen können auf drei Ebenen ein- geordnet werden. Auf der ersten Ebene verfügt eine Person über sprachliche Mit - tel und Strukturen. Hierzu zählt unter anderem ein angemessener Wortschatz, eine korrekte Artikulation und die Kenntnis von Wortformen und dem Satzaufbau. Eine weitere Ebene bezieht sich auf den kommunikativen Einsatz der Sprache, das heißt die Entscheidung darüber, wann in einer bestimmten Situation welche der beherrschten Sprachen eingesetzt wird, vor allem um die eigene Intention so gut wie möglich zur Geltung zu bringen.

Des Weiteren geht es auf der dritten Ebene um die Fähigkeit, die Bedeutung von Sprache zu erfassen und zwar einerseits auf der sprachstrukturellen und grammati- kalische Ebene und andererseits auf der Wort- und Begriffsebene. Hier wird von sprachkognitiven Kompetenzen gesprochen. Mehrsprachige Personen sind also fä- hig, einen korrekten Satz zu formulieren und zu beurteilen.

Die Ausprägung der Mehrsprachigkeit hängt von der Intensität und dem Zeitpunkt der erworbenen Sprache ab. In den ersten drei bis vier Jahren lassen sich unter- schiedliche Phasen beobachten. Diese variieren je nach der sprachlichen Lebenssi- tuation der Kinder (Küpelikilinc & Ringler, 2004, S. 30).

Die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit wird als eine Kombination aus Kennt- nissen in der nach der Geburt im Familienkreis zuerst erlernten Sprache (L1) und der in der Gesellschaft gesprochenen Sprache (L2) beschrieben (Dollmann & Kristen, 2010, S. 124).

2.3 Typen und Formen der Mehrsprachigkeit

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die mehrsprachige Kompetenz zu erwerben. Zum einen wird unterschieden zwischen simultaner und sukzessiver Mehrspra- chigkeit. Bei einem simultanen Spracherwerb werden zwei oder mehrere Sprachen gleichzeitig erlernt, während der sukzessive Spracherwerb ab ca. dem dritten Lebensjahr vorliegt, wenn die Erstsprache schon in ihren Grundzügen eta- bliert ist und die Zweitsprache nach der Erstsprache erworben wird. Hier ist anzu - merken, dass in der internationalen Literatur der Begriff „Erstsprache“ zum Be- griff „Muttersprache“ präferiert verwendet wird. Anlass dafür ist die wertfreie Terminologie. Dieser Begriff kann mehrdeutig verstanden werden, denn es ist nicht eindeutig, ob sich der Begriff auf die Sprache bezieht, welche als erste er- worben wurde, am häufigsten verwendet, am besten beherrscht oder sich mit einer Person identifiziert (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 29ff).

Weiterhin wird ebenfalls zwischen natürlicher und gesteuerter Mehrsprachigkeit differenziert. Die natürliche Mehrsprachigkeit liegt vor, wenn die Sprachen durch den alltäglichen Umgang mit muttersprachlichen Bezugspersonen, also in einer natürlichen Umgebung, erworben werden. Bei der kulturellen Mehrsprachigkeit hingegen, welche auch als „künstliche“ oder „gesteuerte“ Mehrsprachigkeit be-zeichnet wird, erfolgt der Erwerb der zweiten oder dritten Sprache durch systema- tischen Unterricht. Abbildung 1 dient zur Veranschaulichung der Spracherwerbs-kriterien.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Einteilung der Arten der Mehrsprachigkeit nach Alter und Art des Sprach - erwerbs (Triarchi-Herrmann, 2011, S. 20).

Im weiteren Verlauf des Kapitels geht es zum einen um die Definition des Zweit- sowie Doppelspracherwerbs. Zum anderen wird die oftmals im Rahmen der Ar- beit mit ausländischen Kindern in institutionellen Bildungseinrichtungen außer Acht gelassenen Bedeutung der Erstsprache thematisiert. Hierzu wird in Kapitel drei ein Transfer zum Thema Sprache und Identität erstellt.

2.3.1 Zweitspracherwerb

Dieser Begriff kann mehrdeutig aufgefasst werden. Grundsätzlich verläuft der Er- werb mehrerer Sprachen individuell unterschiedlich. Der Begriff findet Verwen- dung, wenn sich auf Individuen bezogen wird, welche zuerst eine erste, bereits in Grundzügen erworbene, Sprache erlernt haben und im Anschluss eine weitere Sprache erwerben (Chilla 2010 und Kracht 2001, o. S. in Scharff Rethfeldt, 2013, S. 31).

Von einem Zweitspracherwerb wird gesprochen, wenn das Kind im Verlauf des Spracherwerbsprozesses ab dem Alter von zwei oder drei Jahren intensiv mit einer zweiten Sprache in Kontakt tritt. Sprachwissenschaftler benutzen für den Begriff Zweitsprache die Abkürzung L2 (aus dem Englischen language two), welche stell- vertretend für die involvierten Einzelsprachen stehen. „L“ steht für Lingua und kennzeichnet den Sprachcode, während die Zahl dahinter ohne Bedeutung einer Rangfolge für den jeweiligen Sprachcode steht (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 32). Erfolgt der Erwerb der neuen Sprache so, dass die Erstsprache (L1) nicht ver- drängt wird und sich beide Sprachen weiterentwickeln, wird dies als additive Mehrsprachigkeit bezeichnet.

Wird jedoch die erste Sprache während des Erwerbs der zweiten Sprache nicht al - tersgemäß weiterentwickelt, wird dies als subtraktive Mehrsprachigkeit bezeich- net. Ist dieser Fall gegeben, so kann es zu Nachteilen für die gesamte sprachliche und kognitive Entwicklung des Kindes kommen. Es wird davon ausgegangen, dass sich dann wichtige sprachübergreifende Strukturen des Regelwissens und der Sprachlogik im ersten Sprachsystem auflösen. Dies führt dazu, dass diese dann nicht mehr für die Entwicklung ähnlicher Strukturen in der neuen Sprache ver - wendet werden können (Ringler & Küpelikilinc, 2004, S. 31).

Die meisten ausländischen Kinder, welche in den Kindergarten kommen, lernen Deutsch als zweite Sprache unter natürlichen Bedingungen, das heißt, wie beim Erstspracherwerb, durch die Kommunikation. Es liegt also ein natürlicher Zweit- spracherwerb vor. Grundsätzlich ähnelt sich der Prozess des Erst- und natürlichen Zweitspracherwerbs, jedoch durchläuft das Kind beim Erwerb der zweiten Sprache nicht nochmals die gleichen Phasen wie beim Erwerb der Erstsprache. Vielmehr wirkt sich das sprachliche Vorwissen sowie die Vorerfahrungen aus dem Erwerb der Erstsprache auf verschiedenste Weise innerhalb der einzelnen Berei- che, wie zum Beispiel dem Wortschatz, dem Satzbau oder der Lautproduktion, aus. Auch beim Zweitspracherwerb gibt es mehrere Entwicklungsstadien, wovon die ersten Phasen kurz erläutert werden sollen. Ein bestimmter Satztyp, nämlich der Kopulasatz (Ist-Satz), prägt diese Phasen, da die ersten Äußerungen nach die - sem Modell geformt werden. Kinder äußern sich in Satztypen, wie: „Ich sein a baby“, „die nicht böse“, oder „die ein Elefant und die ist eine Maus“. Diese Bei - spiele stammen von einer Langzeitstudie zum natürlichen Zweitspracherwerb bei Kindern von Sascha Felix (1978 und 1982) und wurden einige Monate nach dem Kontakt mit der zweiten Sprache gemacht.

Die Phasen des Kopulasatzes teilen sich in zwei Stufen auf und unterscheiden sich in Länge und Komplexität der Sätze. In der zweiten Sprache treten parallel noch weitere Formen auf, nämlich Ein-Wort- sowie Zwei-Wort-Sätze, welche von ei- nem anderen Charakter als die Ist-Sätze gekennzeichnet sind, wie beispielsweise die Äußerung: „In Bett“ oder „du nicht“.

Im nächsten Stadium äußert sich das Kind in Sätzen, welche Voll- und modale Hilfsverben, zum Beispiel „gehen“, „machen“, „wollen“, „können“, beinhaltet, wobei die einzelnen Lernschritte innerhalb der Erwerbsphase der komplexeren Sätze nicht ganz so eindeutig festzustellen sind, wie in dem Stadium der Kopula- sätze.

Diese Beispiele geben eine grobe Vorstellung von der Natur und Gesetzesmäßig - keit des Zweitspracherwerbs bei Kindern. Hinzuzufügen ist, dass laut Forschungs- ergebnissen die Kinder über ein Konzept „syntaktischer Strukturen“, das bedeutet ein Konzept zum Satzstrukturbau, aufweisen. Daraus lässt sich schließen, dass die Kinder, die eine zweite Sprache sukzessiv erlernen, also später als die Erstsprache, bereits Kenntnisse darüber besitzen (Heuchert, 1989, S. 24f.), „dass sprachliche Mitteilungen nicht durch wahlloses Aneinanderreihen von Wörtern gebildet wer- den können, sondern nach bestimmten formalen Ordnungsprinzipien und Regeln ausgerichtet sein müssen … .“ (Felix, 1978, S. 72). Diese Erkenntnis zieht das Kind aus dem Erstspracherwerb.

Dies setzt voraus, dass das Kind beim Lernen der Erstsprache gewisse Erfahrun - gen macht und diese Erkenntnisse verinnerlicht hat, um die Strukturen beim Kontakt mit der zweiten Sprache anwenden zu können.

Laut Felix (1978 und 1982) überspringt das Kind beim Erwerb der zweiten Sprache die ersten semantisch-kognitiven Lernstadien des Satzstrukturerwerbs und beginnt direkt mit der satzbildenden, der syntaktischen Phase, denn dies ist ihm durch seine Erfahrungen aus dem Erlernen der ersten Sprache heraus mög- lich. Das Kind geht also mit bestimmten Erwartungen und Annahmen über die Struktur der zweiten Sprache an diese heran und zieht womöglich Vergleiche zwi - schen der Erstsprache und der Zweitsprache. Werden jedoch strukturelle Unter- schiede festgestellt, müssen, genauso wie bei einem Erstspracherwerber, erst die kognitiven und semantischen Entwicklungsstadien durchlaufen werden. Das be- deutet, dass zuerst das kognitive Konzept erworben werden muss, welches einer bestimmten grammatikalischen Form zugrunde liegt.

Daraus lässt sich schließen, dass die einzelnen Strukturbereiche der Zielsprache, wie Satzbau, Fragesätze, Verneinung etc., nicht auf einmal gemeistert werden. Vielmehr werden aus den angebotenen sprachlichen Informationen einzelne Strukturmerkmale herausgefiltert, welche die Kinder dann nach eigenständigen Regeln zu Konstruktionen verbinden (Heuchert, 1989, S. 26ff).

2.3.2 Doppelspracherwerb oder Bilingualismus

Hier ist anzumerken, dass die Termini Doppelsprachigkeit und Bilingualismus bzw. zweisprachig und bilingual synonym gebraucht werden.

Von einem Doppelspracherwerb ist die Rede, wenn ein Kind bereits sehr früh, meist von Geburt an, mit einer weiteren Sprache konfrontiert wird (Ringler & Kü- pelicinik, 2004, S. 30). Es ist also eine simultane (gleichzeitige) Mehrsprachigkeit vorhanden, da die weitere Sprache bis zum dritten Lebensjahr hinzukommt. Die Sprachen sind in den seltensten Fällen gleichmäßig verteilt, was Konsequenzen für den Grad der Beherrschung in den verschiedenen Bereichen beider Sprachen hat. Es lassen sich in den ersten drei bis vier Jahren mehrere Entwicklungsphasen beobachten. Die erste Entwicklungsstufe umfasst den Zeitpunkt des Sprachbe- ginns, das heißt das Einwort- und teilweise Zweiwortstadium. Diese Phase weist ein lexikalisches System mit Wörtern aus beiden Sprachen auf. Benennt ein Kind einen Gegenstand in einer Sprache, ist es im Regelfall nicht in der Lage, das glei- che auch in der anderen Sprache zu benennen, auch wenn es eigentlich die Bedeu- tung kennt. Gegen Ende dieser Phase fängt das Kind an, die Wörter aus beiden Sprachen parallel zu gebrauchen.

Die zweite Entwicklungsstufe beginnt circa ab dem zweiten Lebensjahr und das Kind besitzt einen größeren Wortschatz zur Benennung von Gegenständen, Hand- lungen und Funktionen in beiden Sprachen. Hier kann es zur „Doppelung“ kom- men, die Ausdrücke aus beiden Sprachen treten hintereinander auf, auch dann, wenn das Kind die Zuordnung von der Sprache zur Person kennt. Hauptsächlich lässt sich die zeitliche Verschiebung beim Erwerb einzelner sprachlicher Strukturen in den Sprachen auf die Komplexität der jeweiligen Sprachstrukturen sowie auf die Intensität der Sprachbenutzung zurückführen. Die Kinder sprechen und hören beide Sprachen selten gleich viel und mit dem gleichen Stellenwert in der Kommunikation mit den Gesprächspartnern der jeweiligen Sprachen.

In der dritten Entwicklungsstufe kann das Kind beide Sprachen voneinander tren- nen. In dieser Phase machen sich die verschiedenen Einflussfaktoren, wie die Art und Intensität der Förderung der jeweiligen Sprachen, die Art des Kontakts zu den Sprechern, die Funktion der beiden Sprachen und die Einstellung der Umgebung zur Zweisprachigkeit und den jeweiligen Sprachen bemerkbar (Heuchert, 1989, S. 23f).

2.3.2.1 Exkurs: Sprachmischung

Das Phänomen des Sprachmischens (mixed speech) tritt im ersten Entwicklungs- stadium des Doppelspracherwerbs auf. Laut Afshar ist das unbewusste Sprachmi- schen eine „Folgeerscheinung von Unbalanciertheit des Bilingualisums“ (Afshar, 1998, S. 28 in Hullmann 2010, S. 35). Heimann-Bernoussi hingegen ist der Auf- fassung, dass ein Mischen von Sprachen bei mehrsprachigen Kindern der norma- len Sprachentwicklung entspricht. Sie nennt es „frühes Sprachmischen“ (Hei- mann-Bernoussi, 2011, S. 150).

Vor allem vor dem Erreichen des dritten Lebensjahres wird beobachtet, dass mehrsprachige Kinder ihre Sprache mischen. In aufregenden oder besonders emo- tionalen Situationen kann ein Kind noch schlechter zwischen den Sprachen um- schalten (Kielhöfer & Jonekeit, 1983, S. 28). Sprachmischen passiert also vor al - lem in der frühen Spracherwerbsphase. In dieser Phase beherrschen Kinder noch nicht ausreichend beide Sprachen. Es passiert unkontrolliert und verfolgt keine Strategie (Heimann-Bernoussi, 2011, S. 151). Umstritten ist hierbei, ob es als Fehlleistungen gesehen wird, da mit dem Mischen der Sprachen Defizite in der einen oder anderen Sprache einhergehen können (Hullmann, 2010, S. 36). Mittler- weile wird das Mischen der Sprachen jedoch als besondere Fähigkeit von Zwei- oder Mehrsprachigen angesehen. Die Kinder verhalten sich dabei sehr heterogen, während einige viel und oft mischen, passiert dies bei anderen weniger bis gar nicht (Scharff Rethfeldt, 2016, S. 57).

Ein weiterer Erklärungsversuch des Phänomens ist, dass sich das Kind in einem Entwicklungsstadium befindet, in welchem es beide Sprachen als ein linguis- tisches System mit unterschiedlichen Bezeichnungen für einen Gegenstand auf- fasst. Zum Ende des Stadiums fängt das Kind an, die Begriffe aus beiden Sprachen parallel zu verwenden (Heuchert, 1989, S. 23).

2.3.3 Sprachtrennungsregeln

Eine bis heute umstrittene Frage zur mehrsprachigen Erziehung lautet, welche Methode bzw. welche Sprachtrennungsregeln am effektivsten ist. Gewisse Strate- gien und Regeln geben den Kindern Orientierung und Struktur.

Ei ne Person – Eine Sprache

1913 stellte der Schweizer Ronjat in seiner Thèse „Le développpement du langage observé chez un enfant bilingue“ das Prinzip der „une personne, une langue“ vor. Bei dieser Methode spricht jeder Elternteil seine Muttersprache. Hierzu ein Bei- spiel: In einer Familie ist die Mutter Französin und spricht Französisch mit ihrem Kind, der Vater ist deutscher Herkunft und spricht dementsprechend Deutsch mit seinem Kind. So ist es dem Kind möglich, die jeweiligen Sprachen den jeweiligen Personen zuzuordnen und es versteht, wo eine Sprache aufhört bzw. wo sie an - fängt.

Diese Strategie ist bislang die in der Forschung einzig empirisch untersuchte Me - thode.

Allerdings nimmt die Sprache, welche nicht die Mehrheitssprache ist, einen schwächeren Stellenwert ein. Verbringt beispielsweise der deutsche Vater mehr Zeit mit seinem Kind, als die französische Mutter, so hat die französische Sprache einen schwächeren Wert. Hinzukommt, dass Deutsch die Umgebungssprache und somit die Mehrheitssprache ist und das Kind somit generell vermehrt mit dieser Sprache konfrontiert ist und in Kontakt tritt, als mit der französischen, welche in diesem Fall als Minderheitensprache bezeichnet wird. Das kann ebenso dazu füh- ren, dass das Kind die Minderheitensprache zwar versteht und auf sie reagiert, diese jedoch nicht spricht.

Das Konzept „Eine Person – eine Sprache“ passt dann, wenn die Eltern binational sind und es ihnen ein Anliegen ist, die Kinder zweisprachig zu erziehen (Monta - nari, 2002, S. 42; Fehlings de Acurio, 2016, S. 42f).

Diese Strategie wird besonders von Fachleuten begrüßt, welche Sprachmischun- gen als ungünstig in Bezug auf die mehrsprachige Entwicklung bewerten. Grund dafür ist, dass sie davon ausgehen, dass es dem Kind somit erleichtert wird, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Sprachen zu entwickeln und sie Sprachen anhand der Personen eher trennen können. Allerdings wird die Strategie auch kontrovers diskutiert. Zum einen können Eltern die konsequente Sprachtrennung im alltäglichen Sprachgebrauch nicht immer einhalten. Zum anderen fällt diese Strategie Einkindfamilien leichter, als Familien mit Geschwisterkindern. Somit stellt diese strikte Sprachtrennung in der Theorie eher ein Ideal dar, als die Reali - tät abbildet. Hinzukommt, wie schon erwähnt, dass die Annahme, dass sich Sprachmischen negativ auf die Sprachentwicklung auswirkt, nicht bestätigt wer- den kann (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 77).

U m ge bungssprache – Familiensprache

Ist die Familie nach Deutschland zugewandert und sprechen beide Elternteile die - selbe Sprache und ist diese nicht die Umgebungssprache, so kann die Ortsstrategie als Methode der zwei- oder mehrsprachigen Erziehung genutzt werden. In diesem Fall wenden hier beide Elternteile Zuhause die gleiche Sprache, ihre Herkunftss - prache und nicht die Landessprache an. Das Kind wird dann mit der Umgebungs - sprache konfrontiert, indem es mit anderen Bezugspersonen, wie zum Beispiel in einer Spielgruppe, im Kindergarten oder in der Schule in Kontakt tritt. Ist eine Fa- milie beispielsweise aus der Türkei nach Deutschland zugewandert, so sprechen beide Elternteile Türkisch mit ihrem Kind, im Idealfall ist der Ort der Familien - sprache nicht nur das Zuhause, sondern auch das Netzwerk mit anderen türkisch sprechenden Personen (Fehlings de Acurio, 2016, S. 43f).

2.3.4 Bedeutung der Erstsprache

Der Erstsprache bzw. der Muttersprache kommt sowohl für einsprachige als auch für mehrsprachige Kinder eine bedeutende Rolle zu, denn abgesehen von der kommunikativen Funktion hat sie ebenfalls eine kognitiv-repräsentative Funktion. Dem Individuum werden durch die Erstsprache Zugang zu Annahmen, Erkenntnissen, Gedanken, Gefühlen und inneren Haltungen und Einstellungen der Kultur, in welcher es lebt, ermöglicht (Nelson, 1996, S. 34 in Scharff Rethfeldt, 2013, S. 34). Mittels der Erstsprache werden also kindliche Konstruktionen über die Welt und die damit verbundenen begrifflichen Konzepte erschaffen und geprägt, um anschließend abgerufen, hinterfragt und zum Teil verändert zu werden.

Die sprachspezifischen Regeln werden implizit gelernt und dann zur weiteren Ver- arbeitung im struktursuchenden und strukturbildenden Prozess genutzt. „Das so erworbene sprachspezifische Wissen wird linguistisch repräsentiert“ (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 34).

Darüber hinaus spielt die Erstsprache eine Rolle hinsichtlich der Erhaltung der „kulturellen Identität“, dem emotionalen Bezug zum Herkunftsland sowie als Lerngrundlage für den Erwerb weiterer Sprachen. All diese Faktoren wirken sich mehr oder weniger auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus (Heuchert, 1989, S. 29).

Allgemein formuliert prägt die Erstsprache eines Kindes sein sprachliches sowie sein Weltwissen, einschließlich seiner Gedanken, Äußerungen und Annahmen. Da bei mehrsprachigen Kindern mehr als eine Sprache und Kultur vorhanden ist, ist die kognitiv-repräsentative Funktion erweitert (Scharff Rethfeldt, 2013, S. 34).

Wird die Erstsprache nicht beachtet, kann das für viele Migrantenkinder Konse- quenzen hinsichtlich deren sprachlichen Selbstkonzept haben (Jeuk, 2003, S. 53). Die Bedeutung der Erstsprache bzw. von Sprache allgemein für das Selbstkonzept sowie für die Identitätsentwicklung wird in Kapitel 3.1 aufgegriffen.

3 Bedeutung und Funktion von Sprache für Kinder

In der Literatur wird immer wieder ein Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen bzw. zwischen der Entwicklung des Denkens, der Persönlichkeitsent- wicklung sowie der Entwicklung der Erst- bzw. Muttersprache hergestellt. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget stellt in seinen Werken immer wieder einen Bezug zur Förderung der Erstsprache her. Er postuliert, dass eine wechselseitige Wirkung zwischen Denk- und der Sprachentwicklung besteht. Und dies in gene- tischer sowie in funktionaler Hinsicht. Grund für diese Annahme ist die aktive Adaption des Menschen an seine Umwelt. Dies wiederum verlangt die Ausbil- dung geistiger Strukturen. „Auf der Strukturierungsleistung der sensomotorischen Schemata bauen später die höheren geistigen Operationen auf, wie sie für die Be- griffsbildung erforderlich sind. Diese geistigen Strukturen bedürfen der symboli- schen Darstellung, um stabil und situationsunabhängig zu werden“ (Auernheimer, 1990, S. 207).

Zwar ist also die Sprache einerseits wichtig für die Denkentwicklung, jedoch wird sie nicht in erster Linie von ihr bestimmt. Vielmehr kommt es hier auf die han- delnde Auseinandersetzung mit Dingen und Menschen an. Laut Auernheimer er- klärt Piaget, dass die Intelligenz sich mit dem Handeln entwickelt und behindert wird durch das Fehlen sprachlicher Mittel zur Organisation der Erfahrungen. Handeln, Denken und Sprechen stehen also immer in einem Zusammenhang zu- einander (Auernheimer, 1990, S. 207f).

Der sowjetische Psychologe und Sozialkonstruktivist Lew Semjonowitsch Wygot- ski, welcher größtenteils ähnlicher Auffassung wie Piaget ist, schreibt 1977 in sei- nem Werk „Denken und Sprechen“: „Der Gedanke drückt sich nicht im Wort aus, sondern erfolgt im Wort“ (Wygotski, 1977, S. 301). Hiermit ist folgendes gemeint: Die Beziehung des Gedankens zum Wort ist ein Prozess, sie ist eine „Bewegung vom Gedanken zum Wort und umgekehrt – vom Wort zum Gedanken“ (vgl. ebd.). Damit ist also ein Entwicklungsprozess gemeint, welcher mehrere Phasen durch- läuft.

Mit seinem oben zitierten Schlüsselsatz kommt der Sprache eine wesentliche Be- deutung zu. Auernheimer, welcher sich hier auf Wygotski bezieht, erklärt, dass das Denken durch die sprachlichen Mittel ausgeformt wird (Auernheimer, 1990, S. 208). Wygotski meint also, dass eine Beziehung zwischen dem Denken und dem Sprechen vorhanden ist, also eine Wechselwirkung beider Konstrukte, und dass sich jeder Gedanke mit einem Wort charakterisiert.

Für die Mitteilung von Emotionen hat die Sprache ebenfalls einen zentralen Stel- lenwert und hieraus lässt sich die Bedeutung der Persönlichkeitsentwicklung er- kennen. Auernheimer schreibt (1990, S. 208f), dass mehrsprachige Kinder zum einen in allen erlernten Sprachen kommunizieren können und zum anderen in al - len Sprachen „über die sprachlichen Mittel zur Organisation und Repräsentation ihrer Erfahrungen verfügen“ (in allen Lebensbereichen), um gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.

Die funktionelle Seite von Sprache scheint deutlich und selbstverständlich. Sprache wird als Schlüssel zur Welt bezeichnet. Sie ist allgegenwärtig und beglei- tet uns unser gesamtes Leben. Durch Sprache ist es uns möglich, uns mit anderen Menschen auszutauschen, uns ihnen mitzuteilen und deren sowie unsere eigene Wirklichkeit zu verstehen. Außerdem sind wir in der Lage unsere Eindrücke und Wahrnehmungen mithilfe von Begriffen in Worte zu fassen und uns sowohl verbal als auch nonverbal auszudrücken, denn Sprache äußert sich auch durch Blicke, Tonlage oder offene und verdeckte Botschaften des Körpers und ist nicht nur ein komplexes System, welches aus Zeichen, Symbolen und Regeln besteht (Jampert et. al., 2005, S. 17).

An diesen aufgeführten Aspekten lässt sich deutlich erkennen, wie wichtig die vollständige Entwicklung und das kompetente Beherrschen der erworbenen Sprachen bei zwei- oder mehrsprachigen Individuen ist, um eine gesunde und sta- bile Persönlichkeitsentwicklung durchlaufen zu können, wovon unter anderem der Bildungserfolg von Bedeutung ist.

Die wissenschaftlich und sprachpädagogisch begründete Position zur Förderung der Erstsprache konnte im bisherigen Verlauf der Arbeit erkannt werden. Aller- dings gibt es auch eine andere Position zu dem Thema der sprachlichen Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund, welche überwiegend mit ökonomischen und pragmatischen Argumenten gestützt wird und hauptsächlich von Verwaltungs- beamten und Bildungspolitikern vertreten wird. Diese sind der Ansicht, dass die meisten Zuwanderersprachen ökonomisch sowie gesellschaftlich irrelevant sind und aus diesem Grund vernachlässigt werden sollten. Es ginge ausschließlich um Adaption und dazu steht die Beherrschung der deutschen Sprache an erster Stelle.

Die Zweitsprache soll innerhalb kürzester Zeit erlernt werden. Ein Grund dieser Position ist die sogenannte „time-on-task“- Hypothese: Der Gebrauch der Erst- sprache verzögere die Aneignung der Zweitsprache. Würde nun also ausschließ- lich die Zweitsprache im Fokus stehen und gefördert werden, spricht man von Submersionsprogrammen. Hier können jedoch Mängel erkannt werden. Es konnte festgestellt werden, dass Kinder dadurch Überforderung und Minderwertigkeits- gefühle erlebten, welche ihnen das Lernen erschwerte (Apeltauer, 2007, S. 11f). Hierauf wird in Kapitel 4.5 detaillierter eingegangen.

Bei dem Stellenwert der Herkunftssprachen- und Kulturen der Migranten, vor al- lem in der Bildungspraxis, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es um die philosophische bzw. ethische Frage der Gleichwertigkeit sowie der institutionellen Gleichstellung von Kulturen und Sprachen sowie Religionen und Ethnien geht. Weiterhin spielt dies alles auch mit in die psychische, soziale und sprachliche Ent - wicklung ein, das heißt im näheren Sinne für die Adaption der bikulturellen Kin- der (Allemann-Ghionda et. al., 2010, S. 7).

Die Bedeutung der Erstsprache wird vor allem in der Pädagogik für die Identitäts- bildung eines Menschen hervorgehoben. Daher beschäftigt sich der weitere Ver- lauf des Kapitels mit dem Zusammenhang von Sprache und Identität sowie dem Zusammenspiel von Sprache, Kultur und Identität.

3.1 Sprache und Identität

Sprache ist mitunter ein Aspekt, welcher an der Identitätsentwicklung eines Men- schen beteiligt ist. Wir erwerben mit ihr eine bestimmte Sicht und Wahrnehmung auf die Welt, haben also einen bestimmten Zugang zu ihr, mit welchem wir uns identifizieren. Bereits in der Einleitung dieser Arbeit wurde die zentrale Bedeu - tung des Verhältnisses von Sprache und Identitäten erwähnt. Sprache stellt den entscheidenden Zugang zu einem Individuum dar, denn sie ist einer der wichtigs- ten Identitätsträger.

Menschen mit Migrationshintergrund besitzen selbstverständlich - alleine durch ihre Erstsprache - spezifische Kompetenzen. Diese werden jedoch in Deutschland gegenwärtig eher weniger systematisch genutzt und zwar weder in gezielten Programmen zum Spracherwerb, noch in professionellen Zusammenhängen zur Ver- besserung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt (Plewina, 2011, S. 8).

Betrachtet man den Zusammenhang von Zwei- oder Mehrsprachigkeit und Identi- tät, so beeinflusst auch die Mehrsprachigkeit die Identität. Beispielsweise kann die Grammatik einer Sprache eine bestimmte Sicht auf die Welt vermitteln. Wenn bei- spielsweise deutschsprachige Menschen ein Bild betrachten, auf welchem ein Auto eine Straße entlangfährt, an deren Ende sich ein Haus befindet, achten diese auf das Ziel und schauen auf das Haus, da die deutsche Sprache keine Verlaufs- form hat. Menschen mit Sprachen hingegen, die eine Verlaufsform haben, wie bei- spielsweise im Englischen der Satz: „The car is driving“, richten ihren Blick eher auf das Auto. Die Blickrichtung und der Fokus der Aktivität ist also unterschied - lich. Zwei- oder mehrsprachige Personen können sich in beide Perspektiven hin- einversetzen und auch zwischen ihnen vermitteln (Fehlings de Acuro, 2016, S. 120).2

Des Weiteren ist Zweisprachigkeit im Zusammenhang mit Identität ein Thema, welches häufig Fragen aufwirft: Können bilinguale Kinder eine Identität entwi- ckeln, obwohl sie höchstwahrscheinlich, bedingt durch die zweisprachige Erzie- hung, auch mit zwei Kulturen aufwachsen? Fühlen sich diese Kinder einem Land zugehörig oder eher heimatlos? Humboldt, Weisberger oder auch Trier vertreten das Bild der idealistischen-romantischen Sprachauffassung. „Dabei handelt es sich um muttersprachlich fixierte Wirklichkeitsbilder“ (Kielhöfer & Jonekeit, 1983, S. 84). Das bedeutet, dass die Sprache die Wahrnehmung und das Denken der Men - schen prägt. Die Muttersprache vermittelt also ein Weltbild, und dieses zu lernen heißt automatisch auch, deren Weltbild zu übernehmen. Ausgehend von dieser Auffassung hätte ein zweisprachig erzogener Mensch also zwei Weltbilder. Die ra- tionalistische Sprachauffassung, wie sie Leibniz oder Descartes vertreten, kann folgendermaßen beschrieben werden: „Die Sprache ist ein Instrument des Den- kens und Wahrnehmens. Wir meistern die Sprache – die Sprache meistert nicht uns“ (vgl. ebd., S. 87). Anhand einer Studie zeigten Kielhöfer und Jonekeit auf, wie sich an dem Beispiel des Wortes „Brot“ zwei verschiedene Wirklichkeiten in den beiden Sprachen auftun können. Brot heißt übersetzt auf Französisch „pain“.

Allerdings ist das Brot in Deutschland ganz anders als das „pain“ in Frankreich. Das deutsche Brot wird eher mit einem kompakteren Laib in Verbindung ge- bracht, welches mit Butter und Aufstrich gegessen wird, während das französische „pain“ eher mit einer langen hellen Stange (auch „Baguette“) in Verbindung ge - bracht wird, welches gebrochen und zu den Mahlzeiten dazu gegessen wird. Am Anfang setzten die in Deutschland zweisprachig aufwachsenden Kinder „pain“ mit „Brot“ gleich und gaben diesen Wörtern so die gleiche Wirklichkeit. Nachdem die Kinder jedoch mehrmals nach Frankreich gereist waren, stellten sie fest, dass die beiden Wörter nicht äquivalent sind und je nach Sprache und Land etwas un - terschiedliches bedeuten. Laut Kielhöfer und Jonekeit macht diese Erfahrung „ ... nicht orientierungslos, doppelzüngig oder gar schizophren; im Gegenteil: eine sol- che Erfahrung emanzipiert von der Sprache, sie vermittelt die wichtige Einsicht, daß Wörter und Dinge in der Wirklichkeit nicht identisch sind“ (Kielhöfer & Jo - nekeit, 1983, S. 84f). Vergleicht man dies nun mit der rationalistischen Sprachauf- fassung, kann man sagen, dass Zweisprachige im übertragenen Sinne über zwei Instrumente verfügen und nicht über „ … zwei Weltanschauungen, zwei Persön- lichkeiten und zwei Denkweisen“ (Kielhöfer & Jonekeit, 1983, S. 87). Kinder, die mit zwei Sprachen aufwachsen, wachsen fast immer auch mit zwei Kulturen auf. Die Autorin Gabrielle Varro beschreibt es auch als „Wurzel“ in zwei Ländern. Im Gegensatz zu Kinder aus ausländischen Familien haben sie aber auch eine enge Verbindung zu dem Land, in welchem sie leben, da ein Elternteil aus diesem Land stammt. Wie sich das Bikulturelle auf die Kinder auswirkt, hängt davon ab, wie die Eltern, die Familie und dann auch das Umfeld damit umgehen. Anhand einer Umfrage erkannte Varro (1997, S. 126f), dass es zwei Extreme gibt: Das eine Ex- trem war die Konzentration auf das Land und dementsprechend auf dessen Kultur und Bräuche des ausländischen Partners. Das lässt sich zum Beispiel damit erklä- ren, dass der ausländische Partner Heimweh hat und so viel Kultur wie möglich aus seinem Land mit in das andere Land nehmen möchte. Das andere Extrem war, dass die Familien das andere Land kaum oder gar nicht thematisierten. Zwischen diesen beiden Extremen waren auch weitere Formen sichtbar, die ausgeglichener schienen. „Das Amalgam von „Kultur“ und „Nationalität“ wird zementiert durch die Affektbesetzung, die den verpflanzten Elternteil an das Land seiner Herkunft bindet … . In diesen Familien bleibt das Bewußtsein für das Land, aus dem der verpflanzte Ehepartner kommt, in unterschiedlichem Grade lebendig, und sie halten mit diesem Land Kontakt“ (Varro, 1997, S. 133). So beschreibt Varro die enge Verbindung der jeweiligen „verpflanzten“ Ehepartner mit ihrem Herkunftsland. Nun kann man davon ausgehen, dass sie etwas von der „Herkunftskultur“ an ihre Kinder weitergeben möchten. Dies kann, wie schon beschrieben, in unterschiedli- chen Graden erfolgen. Kinder sind sich der Wichtigkeit, die die Herkunftskultur aus dem Land des ausländischen Elternteils einnimmt, bewusst. Dadurch ist es affektiv besetzt. Der Grad der Affektivität, den ein Kind im Hinblick auf sein „zweites Land“ verspürt, hängt eng mit der Beziehung und Bindungsqualität des jeweiligen Elternteils zusammen (Varro, 1997, S. 132ff). „Noch ehe sie wissen, ob die Zweisprachigkeit einen Wert für sie selber hat, wissen sie, daß sie einen Wert für ihre Eltern hat“ (vgl. ebd., S. 134). In einer anderen Umfrage, die Mahlstedt durchführte, äußerte ein Vater eines bilingualen Kindes die Bedenken, dass die Zweisprachigkeit seines Kindes mit einer großen Belastung einhergehen könnte. Er befürchtete, dass seine Kinder durch das Sprechen einer zweiten Sprache als Ausländer gesehen werden und sich dementsprechend teilweise fremd in ihrer Umgebung fühlen könnten. Mahlstedt weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass sich nicht einmal Kinder aus ausländischen Familien in den ersten Lebensjahren fremd in ihrer Umgebung fühlen. Vielmehr kann sich ein Fremd- heitsgefühl erst entwickeln, wenn die Reflexionsmöglichkeiten zunehmen (Mahls- tedt, 1996, S. 129f). Laut ihm wird die Umgebungssprache im Normalfall die star- ke Sprache. Das Kind identifiziert sich durch Freunde und Verwandte in der Um- gebung mit der Sprache des Landes in dem es lebt, da es dieser Sprache deutlich mehr ausgesetzt ist (Varro, 1997, S. 126).

Zusammenfassend lässt sich vor diesem Hintergrund schlussfolgern, dass die Ent- wicklung einer Identität bei Zweisprachigen immer mit dem Kontext, in dem sie leben, zusammenhängt. Je nachdem, wie viel Bedeutung den beiden Ländern ge- geben wird, wie viel Kultur des anderen Landes weitergelebt wird und wie die El- tern und die Familie mit dem Thema umgehen und nicht zuletzt auch die pädago - gischen Bezugspersonen in institutionellen Bildungseinrichtungen, kann sich ein zwei- oder mehrsprachiges Kind mehr oder weniger einem Land zugehörig fühlen und seine individuelle Identität entwickeln.

[...]


1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf zwischen der weiblichen und der männlichen Sprachform variiert. Diese beziehen sich selbstverständlich auf beide Geschlechter

2 Im folgenden Abschnitt wird hauptsächlich der Begriff der Zweisprachigkeit bzw. des Bilingualismus verwendet, wobei natürlich auch die drei- bzw. Mehrsprachigkeit gemeint werden kann.

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Mehrsprachige Erziehung in der Kita? Eine Analyse des Konzepts "One Person - One Language"
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
104
Katalognummer
V452502
ISBN (eBook)
9783668930759
ISBN (Buch)
9783668930766
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mehrsprachige, erziehung, kita, eine, analyse, konzepts, person, language
Arbeit zitieren
Florence Lara (Autor:in), 2017, Mehrsprachige Erziehung in der Kita? Eine Analyse des Konzepts "One Person - One Language", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/452502

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