(Ent-)Äußerung des Subjekts

Eine Analyse der leiblichen Geräusche in dem Puppentheaterstück "Jerk" im Hinblick auf das fragmentierte Ich


Masterarbeit, 2016

77 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Tradition des Puppenspiels
2.1. Herkunft vom Jahrmarkt
2.2. Rituelle Puppen
2.3. Bruch mit der Tradition

3. Das dezentrierte Subjekt
3.1. Subjektgenese
3.2. Subjekt und Körper
3.3. Subjektivität auf Plot-Ebene in „Jerk“

4. Theater als Therapie oder Therapie als Theater
4.1. Theater als Therapie
4.2. Therapie als Theater

5. Stimme
5.1. Geräuschkulisse in „Jerk“
5.2. Funktionen der Stimme
5.2.1. Stimme und Sprache
5.2.2. Über die Sprache hinaus
5.2.3. Subjekt
5.2.4. Leiblichkeit der Laute

6. Leib-Körper
6.1. aktueller Körperkanon: autonomes In-Dividuum
6.2. der groteske Leib
6.2.1. Der Mund als Körperteil an der Grenze
6.2.2. Abjekte
6.3. Puppenspiel – der geteilte Körper
6.4. Sound der Körper

7. Schluss

8. Literatur

1. Einleitung

So wie die Fremdheit nur dann radikale Formen annimmt, wenn sie am eigenen Leib,am eigenen Ich erfahren wird, so gewinnt die Vielstimmigkeit erst dann ihre volle Bedeutung, wenn sie – wie Bachtin es vorsieht – als innere Vielstimmigkei t verstanden wird, die jede Stimmigkeit und Einförmigkeit der eigenen Stimme unterhöhlt. Die innere Vielstimmigkeit entspricht dem Zwang zu einer innersprachlichen Übersetzung […]. Entscheidend ist hierbei, dass Eigenes und Fremdes sich überlagern und durchdringen. Andere sprechen aus mir, noch bevor ich an ihre Stelle trete und für sie spreche. Umgekehrt begegnet uns Fremdes im Fremden, bevor der Andere sich zum Fürsprecher einer fremden Stimme macht. Stellvertretung, die mehr bedeutet als eine paternalistische Bemächtigung, setzt voraus, dass ich selbst niemals völlig an meinem Platz bin.[1]

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Puppentheaterstück „Jerk“, inszeniert von Gisèle Vienne, nach dem gleichnamigen Roman von Dennis Cooper, gespielt von und in künstlerischer Zusammenarbeit mit Jonathan Capdevielle.[2] Das Stück liegt meinen Analysen als Aufnahme vor.[3] Ich werde mich aber ebenso auf den Text Dennis Coopers beziehen. Im Fokus der Arbeit soll das Klangbild des Stückes stehen, das sich als eben jene Vielstimmigkeit offenbart, die in dem obenstehenden Zitat von Waldenfels beschrieben wird. Damit spiegelt die Geräuschkulisse wider, was zentral für die Erzählung ist: den vergeblichen Versuch, ein derangiertes Selbst aufzurichten. Viele Stimmen sprechen hier aus dem Inneren eines Subjekts, das versucht, an seinen Platz zu gelangen. Doch muss es bald sein Scheitern zu hören bekommen, da die Stimmen und leiblichen Lauten über die Einheit des Subjekts triumphieren.

Wissenschaftliche Arbeiten zu „Jerk“ sind (noch) begrenzt vorhanden. Natürlich existieren verschiedene Kritiken in unterschiedlichen Zeitungen, darunter die TaZ, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, zur Euroscene 2011 mit dem passenden Motto „Tonstörung“ einige Artikel in der LVZ und Leipzig Almanach. Daneben wurden an der Uni Leipzig eine Bachelorarbeit von Alexandra Stoll, die auch in meinen Ausführungen Erwähnung findet, und eine Masterarbeit von Victoria Fischer zu dem Puppentheaterstück verfasst. Beide Arbeiten fokussieren sich aber wie auch der Aufsatz „Erotik und Todessehnsucht“ von Chantal Hurault auf den Aspekt der Erotik und verbinden „Jerk“ mit den Werken Batailles. Einzig Veronika Darians Aufsätze „BodySoundScapes des Selbst“, auf den ich mich speziell in Kapitel 6.4. beziehe, und „Laute(r) Abgründe“, auf den ich im fünften Kapitel zu sprechen komme, befassen sich wie ich mit der Geräuschkulisse „Jerk“s. Ich habe es mir also zur Aufgabe gemacht, den spannenden Gesichtspunkt der beeindruckenden Akustik der Inszenierung zu untersuchen. Dabei kommen mir aber einige Interviews mit Gisèle Vienne zugute. Außerdem wende ich Theorien zur Stimme wie die von Bernhard Waldenfels, Doris Kolesch und Claudia Benthien an. Im Zusammenhang mit der Stimme ist auch der sprachliche Aspekt von Bedeutung, weshalb ich einen kurzen Exkurs in die Sprachphilosophie mache und mir Wittgensteins Arbeiten zu Hilfe nehme, sowie Schriften zur Sprachlosigkeit im Zusammenhang mit Gewalt und Schmerz von Elaine Scarry, Wolfgang Sofsky und Georges Bataille. Besonders die Leiblichkeit der vom Körper des Puppenspielers und Bauchredners erzeugten Geräusche ist von Bedeutung für meine Ausführungen, sodass ich auch auf die Thesen von Michail Bachtin nicht verzichten möchte. Da meine Analyse der Geräusche eng mit dem Thema des dezentrierten Subjektes, den Bemühungen um Aufrechterhaltung eines geschlossenen Individuums und der Therapieform des Puppenspiels, wie es eben in „Jerk“ zum Tragen kommt, zusammen hängt, behandle ich diese Themenblöcke in den ersten Kapiteln und verbinde sie schließlich mit der akustischen Umsetzung in „Jerk“. In den Dimensionen einer Masterarbeit ist es mir möglich, so weit in die Tiefe zu gehen, aber auch in die Breite, eben auf Themen des Subjektes und der Therapie übergreifend, wie es der bisherige Stand deutschsprachiger wissenschaftlicher Arbeiten zu „Jerk“ noch nicht vorgenommen hat. Ich werde nun kurz den Aufbau der Arbeit erläutern, bevor ich mich dem Inhalt „Jerk“s und dem Vorstellen der künstlerischen Mittel widme, auf die im Laufe der Arbeit immer wieder Bezug genommen wird und deren Nutzen in den folgenden Kapiteln durchleuchtet werden soll.

Für einen Versuch, die Wahl der Theatermittel zu erklären, werde ich ein wenig ausholen und die Tradition des Puppentheaters der Jahrmärkte mit seiner Verwandtschaft zur Commedia vorstellen. Daraus resultierend werden auch andere Verwendungsweisen des Puppenspiels, besonders die Vorteile für „Jerk“ deutlich. Dabei vergleiche ich die traditionellen Puppenspielelemente mit „Jerk“.

Das darauf folgende Kapitel setzt sich mit der Subjektkonstitution auseinander, die sowohl für den Puppenführer Brooks und sein angeklagtes Scheitern als auch für die Figur des Dean Corll von Bedeutung ist. Besonderen Wert lege ich dabei auf das Verhältnis zwischen Spieler und Puppe. Bei der Annäherung an das Phänomen „Subjekt“ werde ich speziell auf die Dezentrierung dieses Subjektes eingehen. Dabei berufe ich mich auf Theorien Schwabs, bzw. Lacans und Freuds. Zu Recht möchte man einwenden, dass Freud inzwischen mehrfach widerlegt wurde, doch da es sich bei der in „Jerk“ erwähnten Psychologie-Klasse um den Kurs „Freuds Psychologie im Spiegel der Postmoderne“[4] handelt, wird auch er in die Analyse mit einbezogen. Innerhalb der Erläuterungen des Subjektes werde ich auch schon auf den Zusammenhang von Körper und seelischer Verfassung eingehen, sowie auf den Plot des Stückes.

Daran anschließend werden Ansätze des Theaters als Therapie untersucht und geprüft, inwiefern sie auf „Jerk“ anwendbar sind. Dabei stehen einige Aufsätze von Hilarion Petzold im Vordergrund, der verschiedene Formen dramatischer Therapie untersucht hat. Außerdem beschäftige ich mich auch mit der umgekehrten Variante, der Therapie als Theater, die bei „Jerk“ Anwendung findet.

Im Fokus der Arbeit stehen die Kapitel fünf und sechs. Der fünfte Gliederungspunkt wird die Geräuschkulisse in „Jerk“ zum Gegenstand haben. Es werden dabei Theorien von Waldenfels, Kolesch und Benthien zu Hilfe genommen. Dabei beschreibe ich zunächst die theatralen Klangmittel, die in „Jerk“ zur Anwendung kommen, nämlich die Art des Schauspiels, das Puppenspiel, die Fanzines, die wiederum mit Musik unterlegt sind, die Bauchrednerei und zuletzt das Lesen des Aufsatzes aus dem Off. In den folgenden Kapiteln werde ich schließlich die Theorien auf „Jerk“ zu übertragen versuchen.

Diese beinhalten die Bedeutung der Stimme als Sprache, bzw. der Sprache als Stimme, gehen aber auch über den rein sprachlichen Gehalt der Stimmlichkeit hinaus. Besonders Waldenfels wird in Zusammenhang mit der Schriftlichkeit der Sprache zum Einsatz kommen. Daneben werde ich einen kurzen Blick in die Sprachphilosophie werfen und Wittgensteins „Tractatus“ und die „Logischen Untersuchungen“ zu Hilfe nehmen. Außerdem wird die Kommunizierbarkeit von Schmerz, zu der Werke von Scarry und Sofsky zu Rate gezogen werden, betrachtet. Darüber hinaus ist die zeitliche und räumliche Ausdehnung von Interesse, die je nach Selbst- oder Fremdwahrnehmung unterschiedliche Formen annehmen kann. Auch das Sehen ist ein Merkmal, das eng mit dem Klang zusammenhängt und auf das in diesem Kapitel Bezug genommen wird. Genauso ist es unumgänglich, das Phänomen des Schweigens bei der Betrachtung der Stimme heranzuziehen. Damit verbunden werde ich auch auf das Thema der Totenstimmen eingehen. Im Anschluss daran werde ich mir die Frage nach der Stimme als Ausdruck einer Ich-Identität stellen. Unter Einbeziehung psychoanalytischer Thesen werde ich so auf die Dezentrierung des Subjektes zu sprechen kommen, die sich im Klangbild „Jerk“s niederschlägt und so auch akustisch das Scheitern Brooks’ zum Ausdruck bringt.

Im Übergang zum nächsten Kapitel werde ich dann die Leiblichkeit der Klänge betrachten, um dann die speziellen Leiber in „Jerk“ zu untersuchen. Dabei werden die Thesen Bachtins eine große Rolle spielen. Ich erläutere die verschiedenen Körperbilder, die in „Jerk“ anklingen, den heutigen Körperkanon des geschlossenen Subjekts, das Körperkonzept des grotesken Realismus und die Körper der Puppen, denen eine Fragmentierung inhärent ist. Ein besonderes Augenmerk lege ich auf die Bedeutungsebenen des Mundes, der als Träger der Körpergeräusche für meine Analyse im Fokus steht. Das Auseinandertreten von Körper und Stimme ist essentiell für die Entwicklung innerhalb des Puppenstückes und drückt aus, was auch inhaltlich relevant ist: den Verlust der Einheit des Subjektes, das Auflösen von Grenzen, das Scheitern an der Illusion.

Im Folgenden werde ich, den Inhalt erfassend, vor allem aus der Textvorlage Coopers zitieren, die weitestgehend mit der Bühnenfassung übereinstimmt. Das Stück wie der Roman greifen die wahre Geschichte des Serienmörders Dean Corll auf, der „Candy Man“ genannt, der mit Hilfe von David Brooks und Wayne Henley in den 70er Jahren eine Reihe von Jungen erotisch motiviert tötete. Brooks und Henley waren an der Beschaffung der Opfer beteiligt und lockten sie zu Corll. Bei der künstlerischen Interpretation des wahren Falles wurden einige Fakten verändert. Ein wesentliches Merkmal der Opfer ist eine Todessehnsucht, die sie zu Dean treibt. Es handelt sich im Stück außerdem ausschließlich um junge Männer, während in der Realität eines der letzten geplanten Opfer Corlls ein Mädchen werden sollte. Dieses war die Freundin Wayne Henleys, der den Mord und die Vergewaltigung an ihr zu verhindern wusste, indem er Dean erschoss. Um in einem rein homosexuellen Männeruniversum bleiben zu können, wurde das letzte Opfer, der Geliebte Waynes, zu einem jungen Mann gemacht und um die Lage zuzuspitzen tatsächlich getötet. Außerdem war Brooks in die Morde weniger involviert, bei der Ermordung Deans noch nicht einmal zugegen. Da er aber, als einzig Überlebender des Stückes, die Geschichte erzählt, wurde er auf der Bühne zum Teilnehmer der letzten Tötung und nahm selbst die allerletzte, nämlich an Wayne, vor. Tatsächlich wurde Wayne wegen sechsfachen Mordes verurteilt, Brooks wegen einfachen Mordes.

Trotz weitgehender Übereinstimmung der Texte gibt es zwischen Roman und Theaterfassung kleine Unterschiede. Der auffallendste Unterschied ist wohl der Ort des Geschehens. Während Cooper für seinen Roman als Setting ein Gefängnis wählt, lässt Vienne die Geschichte in einem fast leeren Raum, einer Art Ausstellungsraum spielen (1. Abbildung). Dadurch wird der Kriminelle zu einem Performer.[5] Wichtig daran ist, dass sich die Ebenen von realem Straftäter und Künstler vermischen und so wird beispielsweise am Ende des Stückes das Scheitern des Performers an seiner psychologischen Gesundung und so auch am Puppenspiel behauptet. Um dies zu verstehen und eine Grundlage der Analyse zu bekommen, soll deshalb zunächst der Inhalt des Stückes dargelegt werden.

Im Puppenstück der einzige Überlebende des Trios, David Brooks, spielt zur therapeutischen Verarbeitung seiner Erlebnisse der Zeit der Serienmorde vor einer Psychologie-Klasse seine Geschichte mit Handpuppen. Somit wird „Jerk“ zum Spiel im Spiel. Doch nicht nur das, es werden auch die unterschiedlichsten Theatermittel zur Umsetzung genutzt. Beginnend mit der Vorstellung David Brooks durch den Schauspieler Capdevielle, der hinter seiner Rolle als Brooks gänzlich zurücktritt, weshalb ich im Folgenden häufiger von „David Brooks“ als dem Puppenführer sprechen werde, wird auf den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte aufmerksam gemacht.[6] Irritierend an der Ansage der Realität der Geschichte über einen Serienmörder ist Brooks’ erheiterter Gesichtsausdruck, den er in den ersten Passagen nie verliert.[7] Im Hörspiel wirkt die Einleitungsrede eher abgeklärt, da eben dieser Ausdruck fehlt.[8] Dafür ist die Erklärung vor der Jamie-Szene noch emotional aufgewühlter vorgetragen als im Stück.[9] Im Anschluss daran wird auf die „Fanzines“ hingewiesen, die jeder Zuschauer ausgehändigt bekommen hat und die zu gegebener Zeit selbstständig gelesen werden müssen, während Capdevielle seine Puppen ablegt und eindringliche Sounds aus einem Kassettengerät erklingen.[10] Die Fanzines werden mit dem Hinweis darauf ausgeteilt, dass die darin beschriebenen Szenen nicht darstellbar sind.[11] Der Titel „Fanzines“ gibt schon Aufschluss darauf, dass der Zuschauer mit dem Lesen unfreiwillig zum „Fan“ der Geschichte wird. Und in der Tat ist es schwer, keine Sympathie für den schüchternen Puppenspieler zu empfinden. Die erste im Fanzine abgedruckte Geschichte wird noch vor dem eigentlichen Beginn des Puppenspiels vom Publikum gelesen. Sie beinhaltet ein Gespräch zwischen Dean und den beiden Gehilfen. Er rekapituliert die Morde und denkt speziell über die Inbesitznahme der Identität der Getöteten nach. Diese, so meint er, sei gescheitert, er kenne keinen der toten Jungs, sodass sie ihm auch nicht wirklich gehören.[12] Daraufhin tritt Buddy ein, der nächste Junge, der getötet werden soll. Man erfährt von der Todessehnsucht der Opfer, davon, dass sie im Stück freiwillig zu Dean kommen. Außerdem wird klar, dass Dean von nun an erst einmal mit seinen Opfern zu leben versucht, um sie kennen zu lernen, bevor er sie tötet.[13] Die folgende Szene findet vier Tage nach dem im Fanzine beschriebenen Szenario statt. Als Übergang vom Lesen der Fanzines zum Puppenspiel skizziert Brooks die Szene mit Worten:

We begin the theatrical part of our story in the basement of Dean`s house. Buddy`s lying face down on a bed that`s basically just a large piece of very thick plywood on four legs. Dean and Wayne have smashed the back of his head in with baseball bats. Once screaming pitifully, he`s been silent for several minutes. Dean`s fistfucking what`s left of him. Wayne´s watching that go on, mesmerized. As usual, I´ve been running around with Dean´s Super 8 movie camera recording the murder for posterity.[14]

Danach stellt der Puppenspieler Brooks auch seine Puppen vor, die er alle selbst bedient, inklusive deren Stimme, die er technisch vorführt, und inklusive der „Puppe“ des David Brooks, die tatsächlich keine Puppe ist. Brooks spielt sich nämlich selbst. Wenn alle Hilfsmittel vorgestellt sind, beginnt das eigentliche Puppenspiel mit der eben beschriebenen Szene. Die Puppe des Dean, ein Pandabär, schiebt sein Händchen in die Hand-Öffnung einer anderen Handpuppe, die offenbar den sterbenden Buddy darstellt, während der Puppenspieler mit dem Mund glitschende Geräusche erzeugt.[15] Nachdem Buddy gestorben ist, resümiert Dean erneut über die Aneignung des Subjektes und muss feststellen, dass er trotz vorheriger Kennenlernphase nicht Herr über den toten Jungen geworden ist. Wayne bringt ihn auf die Idee, den Getöteten erfundene Identitäten aufzuerlegen und so verleiht Dean Buddy die geisterhafte Stimme eines Serienstars, die des Schauspielers Luke Halpin aus Flipper.[16] Es folgt eine skurrile Szene, in der die erotischen Auswirkungen des Mordes auch Wayne und Brooks ergreifen. Brooks fingiert Oralsex an seinem eigenen Arm, der der Unterleib der Wayne-Puppe ist, was gleichzeitig witzig anmutet, aber auch angesichts der Situation reichlich befremdlich ist. Interessanter Weise liegt der Fokus dabei ganz auf Brooks’ Mund, nicht auf der Reaktion der Puppe. Es sind ausschließlich lutschende Laute und leises Stöhnen zu hören, während die Panda-Puppe sich zu dem Szenario selbst befriedigt. Die Szene gipfelt in dem Ausspucken Brooks’, was ihm wiederum großen Spaß am spielerischen Unsinn zu bereiten scheint. Er versucht gar nicht erst, sich das Lachen über sein Spiel zu verkneifen.[17] Es folgt eine weitere belustigt vorgetragene, erzählerische Erklärung des Puppenführers über die Entsorgung der Leiche, die auf einige Distanz zur Erzählung schließen lässt. Doch die zunächst noch spaßhafte Erläuterung wird immer ernster.[18] Mit fast schon wissenschaftlichem Interesse reflektiert Brooks den Wunsch Deans nach der Bedeutung der Morde auf einer individualpsychologischen Ebene, die Relevanz der Nutzung der Serienstars, die Dean das Gefühl geben, genau zu wissen, wen er getötet hat. Anschließend leitet er die nächste Mord-Geschichte ein. Das neue Opfer heißt Jamie und ist schon dabei zu sterben, wenn die nächste Sequenz mit den Puppen beginnt.[19]

Hier ist das Videomaterial mit Musik unterlegt, die Spannung aufbaut und bedrohlich wirkt, im Laufe der Szene aber verklingt.[20] Beginnend mit animalischen Lauten der Panda-Puppe wird die Tötung gezeigt. In dieser Puppenszene hält Dean, wieder mit seiner eigenen Persönlichkeits-Version der Getöteten, ein Zwiegespräch mit sich selbst in Form der Geisterstimme des Jay North ab. Doch dieses Mal interveniert Wayne. Die Wegnahme der Identität Jamies belastet ihn. Es stellt sich heraus, dass Wayne Jamie geliebt hat. Dean provoziert ihn, unterhält sich mit der Geisterstimme über die Möglichkeit, Wayne zu lieben. Darauf hin dreht Wayne durch und ersticht Dean mit sehr vielen Messerstichen. Ein unerträglich langes, sterbendes Gurgeln ist zu hören. Dann beginnt die Reue Wayne zu übermannen.[21] Er versinkt in seiner Trauer um Jamie und bekundet dem Toten seine Liebe, während Brooks unbeachtet und eifersüchtig zusehen muss. Das Gesicht des Brooks verzieht sich in Weinen und es ist nicht klar auszumachen, ob es sein eigenes Gesicht ist oder ob die Gefühle in seinem Gesicht Waynes Emotionen widerspiegeln.[22] Nach dem Mord an Dean legt Wayne ihm den Panda-Kopf ab, darunter ist ein blutig geschlagenes Puppengesicht zu sehen. Die Puppen haben endgültig jegliche Niedlichkeit verloren. Diese Szene geht besonders geräuschvoll vonstatten.

In einem erneuten erzählerischen Part erfährt der Zuschauer von der Leichenentsorgung und dem Gespräch zwischen Wayne und Brooks über den Betrug, die Orgien, an denen auch Jamie teilgenommen hat. Brooks ist fassungslos, damals wie heute, erlebt die Stimmung noch einmal, obwohl er sich große Mühe gibt, das Geschehene als Erzählung stehen zu lassen, Distanz zu wahren. Es gelingt ihm nicht. Die Tränen werden ganz klar zu seinen eigenen. Der Brooks der Geschichte hoffte noch auf Beendigung der Morde und der Affären Waynes, doch der Erzähler Brooks ist bereits eines besseren belehrt.[23] Der letzte Ausweg ist das gänzliche Austreten aus der Geschichte und das erneute Öffnen des Fanzines. Brooks verlässt währenddessen die Szenerie, trinkt ein Bier und wirkt gänzlich privat.[24]

In der anschließenden Geschichte, die das Publikum wiederum eben diesem Fanzine entnimmt, treffen Wayne und David vor Deans Tür auf Brad, ein weiteres Opfer. Dieses ahnt noch nichts von Deans Tod und so bietet Wayne sich als Richter über Leben und Tod an. Brad ist zwar unsicher, da er sich vor den Schmerzen fürchtet, aber auch fasziniert. Brooks nimmt sich immer mehr zurück, versucht, das Bevorstehende mit schwachen Worten abzuwenden. Doch Wayne und Brad beachten ihn kaum. Sie schauen sich zusammen eines der Videos an, das Brooks von den Morden gemacht hat. Das lässt die jungen Männer in einen Rausch verfallen, der Brad schließlich zur endgültigen Einwilligung bewegt.[25]

Nicht nur in der Erinnerung zieht Brooks sich immer mehr zurück, auch auf der Bühne wird der Rückzug nach einer weiteren kurzen Erklärung und nach dem Lesen des Fanzines dargestellt. Brooks sitzt unbeweglich auf der Bühne und beginnt zu bauchreden. Die nächste Sequenz wird ausschließlich akustisch dargestellt, der Körper sitzt wie versteinert, die Puppen werden nicht verwendet. Wäre da nicht der Speichelfaden, der aus dem Mund des Spielers tropft, könnte man die Szenerie zunächst für ein Standbild halten, nur manchmal bewegt Brooks leicht den Kopf. Ausschließlich Geräusche, sterbende Gurgel-Laute, Jammern und Stimmen klingen von weit her, irgendwo aus dem Inneren von Brooks’ Körper. Dort spielen sie weiter.[26] Auch seine eigene Stimme kommt aus seinem Leib, nur ein einziges Mal dringt sie mit bewegten Lippen aus dem Mund, ein letztes Aufbegehren, ein „Fuck you“ dringt an die Oberfläche, vermag jedoch nicht, Brooks aus der Situation zu befreien und so versinkt er wieder in den Tiefen seines eigenen Körpers.[27] Es ist zu hören, wie Wayne seinem Opfer Brad wie vorher Dean eine andere Identität verleiht: Jimmy Page. Gleichzeitig ergeht er sich in Allmachtsphantasien, da er ein Genie getötet habe – wenn auch nur in seiner Fiktion. Seine Stimme ist härter geworden, hat sich der Stimme Deans angenähert. Er versucht die Souveränität Deans zu kopieren und ist dabei noch respektloser und abgeklärter als dieser. Gemeinsam mit seiner neu erschaffenen Geisterpuppe verspottet Wayne den leidenden David und preist sich selbst mit der Stimme des Toten.[28] Ein letzter Versuch, David zum Mitmachen zu überreden scheitert und so verspottet ihn die Geisterstimme als „Loser“, woraufhin David Wayne mit der Kamera erschlägt, die er bei diesem letzten Mord nie eingeschaltet hatte. Die Reue folgt, die Angst, es ist das Geräusch eines Telefonats zu hören. David meldet den Mord. Danach ist nur noch der Ton des aufgelegten Telefons zu hören.[29]

Gegen Ende des Stücks tritt der Puppenführer immer weiter in den Hintergrund, wenn die reine Bauchrednerei beginnt. Hier sind die Spielebenen besonders schwer auszumachen, da nicht ganz klar ist, ob der Bauchredner noch immer David Brooks spielt. Das ganze Stück wird immer wieder von unheimlich anmutenden Sounds von Peter Rehberg unterlegt. Diese Sounds spielen eine bedeutende Rolle, besonders in Kombination mit den Geräuschen, die Capdevielle mit seinem Körper produziert. Letztere „fundamentale Laute“[30] haben etwas Erdverbundenes an sich, lösen in ihrem Kontext des Mordens aber auch Ekel und Unbehagen aus. Damit bekommen sie eine Art „Abjekt“[31] -Charakter, auf den im Verlauf der Arbeit noch dezidiert eingegangen wird. Den Reiz an der Bauchrednerei macht die Kluft aus, die Kluft zwischen dem eigentlich als Stimme des Puppenspielers wahrgenommenen Laut und der Vorstellung, diese Laute wären tatsächlich Stimmen der inzwischen Verstorbenen, bzw. der ablegten Puppen, kämen also woanders her.

Final wird aus dem Off ein Aufsatz eines Psychologie-Studenten vorgelesen, der in der fiktionalen Spielebene drei Monate später Brooks zugeschickt wurde und der das Scheitern des Schauspielers David Brooks beklagt. Der Aufsatz, so wird erklärt, wurde nur mit „ausreichend“ bewertet. Es wird beklagt, dass der Puppenspieler sich zu sehr von seinen Gefühlen hat mitreißen lassen, dass er zu sehr in sich selbst gekehrt war, nur für sich gespielt hat. Sein Puppenspiel sei zu obsessiv, erschwert durch sein Bedürfnis, seine eigene Teilnahme an dem Geschehen zu rekonstruieren. Ein Kontrollverlust der Puppenspielkunst gehe vonstatten, obwohl die Gedanken des Brooks als korrupt und ausgeklügelt bezeichnet werden. Gleichzeitig sei die Wirklichkeit des Puppenspielers der tatsächlichen Wirklichkeit enthoben, sodass seine Identität eine geisterhafte sei. Er vermöge nicht zu besitzen, was er auszudrücken versucht. Damit geht sein Scheitern einher mit dem Scheitern der Dean-Figur, die ebenfalls nicht besitzen kann, was sie anstrebt. Die Stimme, die den Aufsatz vorträgt, ist die des Autors Dennis Cooper.[32] Wie dieses Scheitern zu verstehen ist, wird im Laufe der Arbeit erläutert. Die Stimme geht sowohl auf der Stück-Aufnahme als auch im Hörspiel in lärmender Musik unter, die das Stück beendet.

Es wird außerdem zu klären sein, warum gerade diese Mittel, das Puppenspiel, die Bauchrednerei, das Lesen von Fanzines, die Erklärungen des Schauspielers Brooks zwischendurch und schließlich der Aufsatz aus dem Off, zur künstlerischen Umsetzung eines realen Gewaltverbrechens verwendet wurden. Einen nicht geringen Stellenwert nimmt das Verhältnis von Spieler zu Puppe ein, das, wie erwähnt, in „Jerk“ ein doppeltes Verhältnis ist. Ganz bewusst möchte ich vorweg nehmen, dass „Jerk“ keinen moralischen Zeigefinger darstellen möchte, sondern dass Vienne mit ihren düsteren Inszenierungen eine Seite des Menschen anrühren möchte, die in jedem vorhanden ist, aber zu Recht normalerweise nicht zum Ausdruck kommt, da sie mit Gewalt verbunden ist. Somit bilden ihre Stücke ein Ventil für Empfindungen, die man so eigentlich nicht haben darf. Wie der Zuschauer sich genau dazu positioniert, bleibt ihm selbst überlassen. Wie Bataille in seinen Abhandlungen über die Erotik sagt, ist jeder Mensch prinzipiell zu Gewalt fähig, es fragt sich nur, unter welchen Umständen. Denn es gibt nichts im Wesen des Menschen, „das so viel entsetzliches unmöglich macht“[33]. Oft verhindert nur die Feigheit die Überschreitung der Grenze zur Grausamkeit.[34] Diese Grausamkeit, die in jedem von uns Zuschauern steckt, macht uns so betroffen angesichts der Gewaltsamkeit der Puppen und des Erlebens des Schauspielers.

Um einen großen Rahmen zu bauen, sei an dieser Stelle schon angemerkt, welchen Aufschluss der Titel über die Inszenierung geben kann. Denn schon hier klingen einige Bedeutungen des Stückes an. So kann „Jerk“ im englischen einen Narren meinen, der in Viennes Stück nicht nur eine lange Tradition karnevalesker Figuren in sich trägt, sondern auch auf Grand Guignol rekurriert. Diese Figur hat wie Punch bei aller Heiterkeit einen Hang zum Gewaltverbrechen.[35] Um ihn und seine Tradition, sowie die Tradition des heiter-lebendigen Jahrmarkt-Theaters wird es in den nächsten Kapiteln gehen. Daneben bedeutet „to jerk off“ umgangssprachlich Onanieren, das wir auch bei Vienne auf so ungewöhnliche Weise bei einem Pandabären erleben dürfen und das obendrein um einige Varianten ergänzt wird. In Zusammenhang mit den dem Tode und der Verstümmelung nahen sexuellen Ausprägungen ist auch die Bedeutungsebene der Zuckung zu erwähnen, die einige Figuren des Stückes betrifft, in realem wie in übertragenem, das Subjekt betreffendem Sinne.[36]

2. Zur Tradition des Puppenspiels

Gisèle Vienne spricht in einem Interview über die Tradition. Konservative Menschen, so sagt sie, sprechen häufig von Traditionen, doch diese Art der Tradition betrüge sie. Sie stützt sich auf eine Puppenspieltradition, die „hardcore“ und grausam ist.[37] Diese wird in den folgenden Kapiteln beleuchtet, genauso wie eine lebensbejahende, fröhliche Form des Puppenspiels. Die besondere Wirkung des Stückes von Gisèle Vienne liegt in der Spannung zwischen beiden Bedeutungsebenen des Puppentheaters. Dennoch ist zu erwähnen, dass die Traditionen nicht streng voneinander geschieden sind, sondern sich durchdringen, sich ergänzen. Zu Zeiten des Jahrmarkt-Theaters war das obligat, heutzutage sehen wir Gegensätzlichkeiten, besonders das Gegensatzpaar Gut und Böse, gern getrennt. Doch widmen wir uns nun der Tradition, die Gegensätze komplementär vereinigt.

2.1. Herkunft vom Jahrmarkt

Es mag zunächst verwundern, dass Vienne für die Umsetzung des Romans von Dennis Cooper unter anderen Medien das Handpuppenspiel wählt, kennt man es heute u.a. als Belustigung der Kinder und hat es doch seine Wurzeln im fröhlichen Spektakel der Jahrmärkte. Das Theater der Straße im Mittelalter beinhaltete wie auch „Jerk“ den Bauchredner-Anteil.[38] Die Traditionslinie des Puppenspiels ist nicht nur nah mit der Commedia all’improvviso verwandt, in Mittelalter und Renaissance gingen beide Theaterformen Hand in Hand – und zwar im wahrsten Wortsinne. Nicht selten teilten sich Puppen und Comödianten eine Bühne. Gleichzeitig mit der Expansion der Commedia dell’arte, verbreiteten sich auch Puppentheaterversionen davon, in denen die Namen der Masken aus der Commedia verwendet wurden.[39] Einige dieser Figuren setzten sich sogar eher als Puppe, denn als Menschen-Schauspieler durch. So zum Beispiel die Maske des Pulcinella. In seiner ausländischen Variante tritt er vorwiegend als Handpuppe oder Marionette auf, unterscheidet sich aber in seiner Eigentümlichkeit nicht von den menschlichen Spielern des Pulcinella.[40] Diese Figur hat bis heute ihren Platz in der im neapolitanischen Karneval gefeierten Canzone di Zeza.[41] Um zu ergründen, warum das Puppenspiel als Medium für die Thematik eines Serienmörders mit realem Hintergrund gewählt wurde, ist es nötig, die Tradition des Puppen- und Jahrmarkt-Theaters zu untersuchen. Dabei soll zwar der komische Anteil nicht zu kurz kommen, doch es bleibt zu bedenken, dass auch diesem lebensbejahenden Theater eine gewisse Affinität zum Tod inhärent ist.

Zunächst ist also zu bemerken, dass die Puppen in „Jerk“ einer Komik nicht entbehren. Dies ist von Vienne bewusst herbeigeführt.[42] Dieser interessante Gegensatz zu der Ernsthaftigkeit des Geschehens ist dabei keinesfalls aus der Luft gegriffen. Die Tradition des Jahrmarkt-Theaters beinhaltet allerhand ambivalente Figuren. Heute sind davon hauptsächlich die lustigen Elemente übrig geblieben. Gerd Taube schildert die Charakterisierung der lustigen Figur anhand des Kaspers, der bis heute als das Aushängeschild des (Hand-)Puppentheaters gilt. Er stellt die These auf, dass das Kasper-Theater nicht nur synonym für das Handpuppentheater verwendet werde, sondern sogar der ältere Begriff dafür sei.[43] Daneben existiert in der Puppentradition der Kasper des Marionettentheaters, der aber als „kleinbürgerlich domestizierte Form der lustigen Figur im Puppenspiel“[44] gelten kann und in dem Kontext von „Jerk“ weniger von Interesse ist. Den Handpuppenkasper verortet Taube jedoch im „teatro dell‘arte“, um mit dem von Rudolf Münz geprägten Begriff zu sprechen, als ein Überbleibsel des vorbürgerlichen Stegreiftheaters.[45] Da die Gattung des Kaspers „tausend Varietäten [leidet]“[46], setzt Taube ein dem Kasper zugrunde liegendes Prinzip voraus, das Kaspers Einstellung zum und Umgang mit dem Leben beinhaltet. Bei diesem Prinzip handelt es sich um das von Münz dargelegte Harlekin-Prinzip.[47] Es ist davon auszugehen, dass es im Laufe der Zeit, nämlich bereits im Mittelalter, als Gaukler und Ciarlatani eine Art des Puppenspiels pflegten, in die Spieltradition einging. Dies ist nicht als bewusster Prozess zu betrachten, sondern eher als Verinnerlichung des Prinzips durch den konkreten Lebensbezug. Das Harlekin-Prinzip beinhaltet Themen der Lebensfürsorge, Wünsche nach Produktivität, mutter- und erdverbundenes Denken und die Sphäre der „ersten Natur“.[48] Ähnliche Charakteristika werden wir auch in Bachtins karnevaleskem Lebensprinzip noch feststellen. Münz beschreibt diese alte Schicht des Harlekin weiter:

Es geht immer um eine unmittelbare Verbindung mit dem praktischen Gemeinschaftsleben: befriedigende Arbeit und Lebenssicherung, Fortpflanzung, Kampf, Tod und Wiedergeburt des tätigen Menschen sind die „Themen“, geprägt oft von karnevalistischem Geist und von Elementen der Lachkultur als Ausdruck des Schöpferischen schlechthin.[49]

Dass dieser Zusammenhang von Leben, besonders im Sinne der Fortpflanzung, und Tod eines der Hauptthemen in „Jerk“ ist, ist offenkundig. Doch bekommt das Stück in diesem Zusammenhang eine Komponente des Karnevalesken, Spielerischen. Bei aller Grausamkeit der zugrunde liegenden Verbrechen, darf nicht vergessen werden, dass es sich bei „Jerk“ um eine künstlerische Umsetzung handelt, bei der keine Wertung der Taten erforderlich ist. Vienne selbst erwähnt in einem Interview, dass sie mit ihren Stücken böse Gedanken aufzeigen will, die allen Menschen innewohnen. Dabei legt sie besonderen Wert auf den Unterschied zwischen Fantasie und Realität des Mordens. Sie schafft einen Ort, an dem Fantasien erfüllt werden können.[50] Man könnte es als Ventil verstehen, an dem etwas erlebt werden kann, was nicht ausgelebt werden darf. Jedoch handelt es sich um einen irrealen Ort. Insofern ist die Abstraktionsebene des Puppenspiels als zusätzliche fiktionale Ebene gewählt. Vienne verrät also die Tradition nicht ausschließlich, wie sie sagt, sondern macht sich auch gewisse Traditionslinien zu Nutze.

Auch einige Unterschiede zwischen Harlekin und der bekanntesten Puppentheater-Figur Kasper zeigt Taube auf. Während Harlekin durch seine Fähigkeit zur Verwandlung eine Gegenwelt zur realen Welt schafft, befindet sich Kasper in der realen Welt, der er aber mit Respektlosigkeit entgegenzutreten vermag, gegen sie wettert und sie schließlich zerstören kann. Ähnliches nehmen auch die Puppen in „Jerk“ vor. Harlekin befindet sich in seiner Welt, von der aus er auf die reale einzuwirken versucht, während Kasper die Verkehrung innerhalb der realen Welt in Angriff nimmt.[51] Er genießt die Narrenfreiheit, zu sagen was jeder denkt, aber keiner auszusprechen wagt.[52] Dies mag ein Grund dafür sein, dass Puppentheater noch im 19. Jahrhundert als Gefahr angesehen wurde, durchaus in der Lage, die Sitten zu ruinieren, und bis heute immer mehr zur Kinderbelustigung degradiert wurde.[53] Damit verliert es die Ebene des Bösartigen, Zerstörerischen und lässt einzig eine fröhliche Frechheit zurück, den lustigen Clown. Dass der Clown aber immer schon beide Seiten in sich trug, ist auch heute noch zu spüren. Dass die Gegensätze im Laufe der Zeit getrennt wurden, war ein notwendiger Prozess, der nicht mehr aus unseren Denkstrukturen zu entfernen ist. Dennoch sind die alten, tricksterhaften Züge auch heute noch in manchen Figuren spürbar und man reagiert stark auf sie, da die Gegensätze auch in uns Menschen vorhanden sind. In den entsprechenden Figuren hat die komplementäre Vereinigung der Gegensätze Lachen auslösende, heilende Wirkung.[54] Auch die Puppen in „Jerk“ haben diese von Vienne dargelegte Ventilfunktion und auch sie haben ambivalente Züge. Durch ihre Ähnlichkeit zu Teddybären haben sie etwas Niedliches, Unschuldiges an sich, das auch durch die grausamen Taten nicht gänzlich verschwindet.

Das genannte Prinzip der Zerstörung gesellschaftlicher Normen kommt auch den Rollen in „Jerk“ zugute. Vorgestellt durch Handpuppen ist es auch Dean Corll und Wayne Henley möglich, die geltende Moral auf den Kopf zu stellen, ohne dabei wie Monster zu wirken. Es umgibt sie der Geist des Kasper-Prinzips, das mit einer Mischung aus Rücksichtslosigkeit und Naivität wie selbstverständlich die Norm zu unterwandern vermag. Der „deformierte Narr“[55] des Puppentheaters ruft durch sein Unterlaufen der herrschenden Ordnung ein befreiendes Lachen hervor,[56] das in Ansätzen auch in „Jerk“ spürbar ist. Gleichzeitig ruft die Unschuld der Puppen Unbehagen hervor. Das Lachen bleibt einem sozusagen im Hals stecken.

Neben der anhand der Kasper-Figur erläuterten spaßhaft-frechen Seite haben Puppen wie die mit ihnen vergleichbaren Masken also noch eine andere Dimension: die einer bodenlosen Tiefe. „Maskenarbeit findet an der Schwelle des Unbewußten zum Bewußten statt. Ausformung und Höhle zugleich, liefert die Maske ein Bild aus der chaotischen, bodenlosen Tiefe der Psyche“[57] beschreibt Technau diese Dimension der Maske, die sich auch auf die Puppe übertragen lässt. Die Maske des mythischen Denkens ist nur a-logisch verstehbar, insofern benötigt sie nicht immer die sprachliche Dimension. Sie agiert körperlich, als Ganzkörpermaske.[58] In dieser Körperlichkeit offenbart sich die Nähe zur Puppe. Genau wie die Maske ist die (Hand-)Puppe von ihrer Bewegung nicht zu trennen, die sie einzig lebendig erscheinen lässt.[59] In „Jerk“ werden nun Puppen verwendet, die selbst wieder Masken tragen. Damit haben sie eine doppelte Wirkung des Undurchdringlichen, halb Lebendigen und halb dem Tode Zugehörigen. Die Masken, die während des Mordens getragen werden, geben die Möglichkeit der erwähnten Narrenfreiheit, die die Puppen in „Jerk“ komischer Weise unmaskiert noch nicht aufbringen können.

Zudem tragen einige traditionelle Puppen die Zeichen des grotesken Leibes[60], der Erdverbundenheit und Verbindung mit der Welt symbolisiert.

Den Bühnenausschnitt bevölkert das eigentümliche Ensemble mit seinen dicken Lippen, riesigen Mäulern, mit den langen Nasen, Pickeln, Glotzaugen, mit Kröpfen, Buckeln, mit den schweren, stets maskenhaft überhöhten Holzköpfen. In ihrer Bewegungsrichtung muß jede Figur aus der bodenlosen Tiefe kommen, und so gibt es in der Geschichte dieses Ensembles zunächst auch keine „gute“, „positive“ Identifikationsfigur.[61]

In ihrer Leiblichkeit sind die Puppen uns selbst, dem Publikum, verbunden. Stiche in ihrer Haut werden zu Stichen in unserer. Obwohl man sich der Tatsache, dass es sich um leblose Objekte handelt, bewusst ist, werfen Puppen Zweifel an der eigenen Körperlichkeit auf. „Die Puppe hat mit dem Riss an ihrem Körper auch einen Riss an meinem Körper aufplatzen lassen: sie lässt mich die Täuschung über die eigene Körperkohärenz spüren“[62], beschreibt Wagner die fragile Körperlichkeit, die durch die Puppe auch am eigenen Körper in Erscheinung tritt.[63] Durch die dekonstruierenden Körperinszenierungen des modernen Figurentheaters wird auch der eigene Körper als fremd wahrgenommen. Die Puppe macht klar, dass ein Körper nicht einfach durch seine Materialität gegeben ist, sondern diskursiv hergestellt wird, so wie auch der vermeintlich lebendige Körper der Puppe erst entsteht.[64] Ähnlich wie die Maske aus heutiger Sicht eine verhüllende Funktion hat, sich gleichzeitig aber „durch Verhüllung in Geborgenheit [entbirgt]“[65] so enthüllt auch die Puppe, was sie zu verbergen sucht. Die Naht soll Schnittstellen verbergen, ist aber die Markierung des Zerschnittenen.[66] Damit erfüllt sie auch den Zweck des grotesken Leibes: sie weist auf den Scheincharakter des geschlossenen Körpers in seiner Vollkommenheit hin. Wir werden uns im Zusammenhang mit der Subjektbildung in „Jerk“ und der Körperlichkeit noch genauer mit dem Thema des geschlossenen Körpers auseinandersetzen. Für den Moment sei auf den verunsichernden Charakter der Puppen hingewiesen, die damit die archaische, bodenlose Tiefe ausdrücken. Insofern stehen die Puppen in „Jerk“ nicht nur mit der Figur des Kaspers in Verbindung, sondern auch mit seinem sozusagen bösen Bruder: Grand Guignol.

That studies of the Grand Guignol have been largely ignored in scholarly circles should come as no surprise. Here was a theatre genre that was predicated on the stimulation of the rawest and most adolescent of human interactions and desires: incest and patricide; blood lust; sexual anxiety and conflict; morbid fascination with bodily mutilation and death; loathing of authority; fear of insanity; an overall disgust for the human condition and its imperfect institutions.[67]

Dennoch fehlt es Guignol bei aller Grausamkeit nicht an dem schon bei Kasper beschriebenen Humor. Doch handelt es sich hier um einen eher morbiden Humor. Das Lachen wechselt sich bei Guignol mit Bestürzung und Panik ab.[68] Das „Théâtre du Grand Guignol“ eröffnete 1897 in Paris. Den Namen „Grand Guignol“ suchte Gründer Oscar Méténier nach der Lyoner „Punch and Judy“-Handpuppe aus, die zu dieser Zeit schon zur Genre-Bezeichnung geworden war.[69] Er stand dabei im Zeichen des Naturalismus, speziell André Antoines.[70] Wirklich Tabu brechend und gleichzeitig zum Publikumsrenner wurde das Theater Grand Guignols aber unter Max Maurey. Ähnlich wie Vienne in dem zitierten Interview 1 angibt, schaffte auch Maurey einen Ort, an dem die Sensationslust der morbiden Phantasien gestillt werden konnte.[71]

In „Jerk“ wird der Zuschauer in einen Prozess hineingezogen, der ungehörig ist, er wird ungefragt zum „Fan“ des Bühnengeschehens gemacht, wird dazu angehalten, sich mit den Puppen und dem Puppenführer Brooks zu identifizieren, was natürlich nicht gänzlich gelingen kann. Dennoch denkt man unwillkürlich über diese Identifizierung nach und empfindet die Nähte der Puppen erst recht am eigenen Leib.

[...]


[1] Waldenfels 1999: 148.

[2] Vgl. Darian 2015: 355f.

[3] Die Aufnahme ist vom 21. März 2008, von Antoine Parouty beim Festival Etrange Cargo. Im Folgenden werde ich sie als „Videofassung Jerk“ bezeichnen, worunter sie auch im Video-Verzeichnis am Ende der Arbeit zu finden ist. Die Aufnahme ist in französischer Sprache. Zum besseren Verständnis verwende ich die Romanfassung Coopers, aus der ich hauptsächlich zitieren werde. Die Videofassung kommt dann zum tragen, wenn ich mich explizit auf Ereignisse innerhalb der Inszenierung beziehe. Des weiteren liegt mir „Jerk“ in einer englischen Hörspielaufnahme vor, gesprochen von Capdevielle und mit Musik von Peter Rehberg.

[4] Vgl. Cooper 2009: 4.

[5] Vgl. Stoll 2014: 12f.

[6] Vgl. Cooper 2009: 3.

[7] Vgl. Video Jerk: Minute 1.

[8] Vgl. Hörspiel Jerk: Minute 1.

[9] Vgl. Hörspiel Jerk: Minute 20-21.

[10] Vgl. Video Jerk: ab Minute 2.

[11] Vgl. Cooper 2009: 4.

[12] Vgl. Cooper 2009: 5.

[13] Vgl. Cooper 2009: 6.

[14] Cooper 2009: 7.

[15] Vgl. Video Jerk: Minute 7/8.

[16] Vgl. Cooper 2009: 8f.

[17] Vgl Video Jerk: Minute 14-16.

[18] Vgl. Video Jerk: ab Minute 17.

[19] Vgl. Cooper 2009: 10.

[20] Vgl. Video Jerk: ab Minute 20.

[21] Vgl. Cooper 2009: 11.

[22] Vgl. Video Jerk: Minute 28.

[23] Vgl. Cooper 2009: 12.

[24] Vgl. Video Jerk: Minute 33.

[25] Vgl. Cooper 2009: 13ff.

[26] Vgl. Video Jerk: ab Minute 42.

[27] Vgl. Video Jerk: Minute 45.

[28] Vgl. Cooper 2009: 21.

[29] Vgl. Cooper 2009: 22.

[30] Darian 2015: 355.

[31] Kristeva 1982: 1.

[32] Vgl. Stoll 2014: 13.

[33] Bataille 2008: 17.

[34] Vgl. Bataille 2008: 17.

[35] Vgl. Darian 2015: 359.

[36] Vgl. Darian 2015: 368.

[37] Vgl. Interview 1.

[38] Vgl. Jurkowsky 1965, 28

[39] Vgl. Blumenthal 2005: 15, 18.

[40] Vgl. Gschwandtner 2012: 231, 233.

[41] Vgl. Münz 1998: 65.

[42] Vgl. „Drei Fragen an Gisèle Vienne“ 2011.

[43] Vgl. Taube 1994: 41.

[44] Taube 1994: 42.

[45] Vgl. Taube 1994: 42.

[46] Taube 1994: 43, zitiert nach Lessings Hamburgischer Dramaturgie 1979, 399.

[47] Vgl. Taube 1994: 43., Vgl. Münz 1998: 60ff.

[48] Vgl. Taube 1994: 44.

[49] Münz 1998: 61.

[50] Vgl. Interview 1.

[51] Vgl. Taube 1994: 48

[52] Vgl. Nagel 2015: 63.

[53] Vgl. Nagel 2015: 64.

[54] Vgl. Interview 3.

[55] Jurkowsky 1994: 62.

[56] Vgl. Jurkowsky 1994: 62.

[57] Technau 1994: 152.

[58] Vgl. Technau 1994: 152.

[59] Vgl. Technau 1994: 153.

[60] Diesen Begriff verwendet Bachtin wiederholt in „Rabelais und seine Welt“; auf ihn wird später genauer eingegangen

[61] Technau 1994: 155.

[62] Wagner 2003: 14.

[63] Vgl. Wagner 2003: 14.

[64] Vgl. Wagner 2003: 15.

[65] Lippe 2004: 346.

[66] Vgl. Wagner 2003: 17.

[67] Gordon 1997: 2.

[68] Vgl. Gordon 1997: 3.

[69] Vgl. Gordon 1997: 14.

[70] Vgl. Gordon 1997:13.

[71] Vgl. Gordon 1997: 18.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
(Ent-)Äußerung des Subjekts
Untertitel
Eine Analyse der leiblichen Geräusche in dem Puppentheaterstück "Jerk" im Hinblick auf das fragmentierte Ich
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
77
Katalognummer
V451861
ISBN (eBook)
9783668847668
ISBN (Buch)
9783668847675
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jerk, Subjekt, Subjektkonstitution, Puppentheater, Vienne, Capdevielle, Serienmörder, Dean Corll, Cooper, Geräusch, Stimme, Leiblichkeit, Körper, Therapie, Sprache, Laute, grotesker Leib, Individuum, Fragmentierung, Abjekt, Grenze, Vielstimmigkeit
Arbeit zitieren
MA Sabrina Kohl (Autor:in), 2016, (Ent-)Äußerung des Subjekts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/451861

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