Die Gerechtigkeitskonzeption in der Philosophie des Aristoteles

Eine theoretische Abhandlung zur Hinführung auf die Vergabe der politischen Ämter innerhalb der Polis


Bachelorarbeit, 2016

44 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Anwendungsbereich des Gerechtigkeitsbegriffs
2.1 Formen der Gerechtigkeit
2.1.1 Subjektive Verwendungsform
2.1.2 Institutionelle Verwendungsform
2.1.3 Theoretische Verwendungsform
2.1.4 Resultative Verwendungsform
2.1.5 Kosmische Dimension

3. Gerechtigkeit als ethische Tugend
3.1 Partikulare Gerechtigkeit
3.1.1 Ausgleichende Gerechtigkeit
3.1.2 Distributive Gerechtigkeit

4. Billigkeit als Sonderform der aristotelischen Gerechtigkeit

5. Die Bedeutung des Gerechten in der Polis
5.1 Grundlegende Prinzipien einer Polis
5.2 Verteilung der Ämter
5.3 Das Gleichheitsprinzip

6. Kritische Beurteilung
6.1 Die Problematik des Tugendbegriffs
6.2 Die Gesetze

7. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Internetquellen

1. Einleitung

Bereits seit undenklichen Zeiten beschäftigt sich der Mensch mit der Bewertung seiner moralischen Handlungen. Den erstrebenswerten und als moralisch gut eingestuften Eigenschaften schrieb er im Laufe der Geschichte einen Wert zu. Aus den definierten Werten resultierten individuelle Denk- und Verhaltensmuster, die sich in der Gesellschaft weiter entfalteten und das intersubjektive Miteinander regelten. Mit der Einigung auf gemeinsame ethische Werte innerhalb einer begrenzten Anzahl von sozial Interagierenden entstanden in einem längeren Prozess Kulturen, die sich in ihren Wertvorstellungen unterschieden. Mittels der grundlegenden Werte leiteten sie soziale Normen ab, die individuelles und gesellschaftliches Handeln durch strenge Vorschriften reglementieren sollten. Eine solche Grundnorm, mit der sich die Menschen in der Geschichte weltweit und intensiv auseinandersetzten, ist die Gerechtigkeit, deren Grundzüge im Rahmen dieser Abhandlung expliziert werden sollen. Das Prinzip der Gerechtigkeit als eine ausgewogene Ordnung, eingebettet in einen staatlichen Rahmen, geht tief in die Geschichte zurück und findet sich in nahezu allen Kulturen wieder. Es regelt als Handlungs- und Rechtsnorm das gesellschaftliche Miteinander und ist daher in jeder Ethik, Theologie sowie Rechts- und Sozialphilosophie ein zentrales Thema bei der Bewertung menschlicher Handlungen und der Bestimmung von moralisch-rechtlichen Maßstäben. Die großen Denker und Philosophen bemühten sich im Laufe der Jahrtausende um die Erforschung und die Einteilung der Gerechtigkeit in verschiedene Dimensionen. Die philosophischen Gerechtigkeitskonzeptionen und - kritiken entfalteten sich von der Antike über das Mittelalter bis zur heutigen Gegenwart; die wichtigsten Theoretiker ihrer Zeit machten die Gerechtigkeit zu ihrem Gegenstand und beleuchteten in ihren theoretischen Ansätzen unterschiedliche Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs und seiner Beziehung zu anderen moralischen Werten und Tugenden. Um dem Leser einen historischen Überblick über die vielfältigen Konzeptionen der großen Denker zu skizzieren, bedarf es jedoch weit mehr als einer kurz gefassten Abhandlung. Ebenso gestattet der begrenzte Rahmen keinen Vergleich zwischen den unterschiedlichen Philosophen und Denkern einer Epoche, noch weniger zwischen den vorhergehenden und nachfolgenden.

Im Fokus dieser Arbeit steht die Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff in der Zeit der griechischen Antike genauer, mit dem aristotelischen Gerechtigkeitsverständnis. Zwar befasste man sich bereits wie aus überlieferten Schriften hervorgeht vor Platon und Aristoteles mit dem Gerechtigkeitsbegriff und seinem umfassenden Einfluss auf die Gesellschaft, doch hatte dieser nur einen mythisch-religiösen Charakter. Er ist deshalb nicht zu vergleichen mit der philosophisch-argumentativen Beschaffenheit des Gerechtigkeitsbegriffs bei Platon und Aristoteles, die in seiner Umsetzung eine Notwendigkeit zur Erreichung des individuellen Glücks verstanden.1

Daher ist im Vorfeld auch der Rahmen zu beachten, unter dem Platon und Aristoteles die Gerechtigkeit beschreiben. Sie fungiert bei beiden Philosophen als wichtigste moralische Tugend auf sozialer Ebene. Aristoteles erweitert jedoch ihren Anwendungsraum und spricht in seiner Ethik von einem staatlichen-gerechten Ordnungsprinzip, das in seiner Umsetzung das Glück des einzelnen Bürgers ermögliche.

Die folgende Abhandlung wird diese zwei Ebenen der aristotelischen Gerechtigkeit und ihre Wechselwirkung erläutern. Zunächst soll dafür der Anwendungsbereich des Gerechtigkeitsbegriffs im allgemeinen Sprachgebrauch in kompakter Form dargelegt werden. Die Notwendigkeit dieses einleitenden, ersten Schritts resultiert aus den unterschiedlichen Wortverständnissen der Gerechtigkeit in der Antike gegenüber der mittel- bzw. neuzeitlichen Epoche. Die in den oberen Sätzen angeschnittene Bedeutung bei Platon und Aristoteles ist signifikant für das Verständnis der vielfältigen und umfassenden Dimensionen der Gerechtigkeit. Der Begriff umfasst nämlich weit mehr als eine gerechte und faire Regeleinhaltung auf intersubjektiver Ebene und eine gleichmäßige Verteilung des Staates. In einem weiteren Abschnitt werden daher die unterschiedlichen und allgemein bekannten Verwendungsformen expliziert.

Im zweiten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf die Gerechtigkeit als vollkommene Tugend. Die Gerechtigkeit als ethische Tugend, die sich durch ständige Erziehung entfaltet und zudem eine seelische Grundhaltung widerspiegelt, wurde erstmals von Platon ausführlich diskutiert. Vorangegangene sophistische Ansätze behandelten die Gerechtigkeit nur im Rahmen der Natur- und Sozialordnung, schenkten ihr auf individualethischer Ebene als Voraussetzung für die seelische Harmonie jedoch keine Beachtung. Aristoteles erweitert die Theorie Platons durch eine Systematisierung und Konkretisierung des Gerechtigkeitsbegriffs. Er unterscheidet sich in seiner Theorie von Platon in der Hinsicht, als dass er die partikulare Gerechtigkeit als Teil der moralischen Gerechtigkeitstugend betrachtet und gleichzeitig von ihr unterscheidet. Die Gerechtigkeit beschränkt sich in der aristotelischen Theorie folglich nicht auf das Wohl des Einzelnen, vielmehr berücksichtigt sie das Gemeinwohl innerhalb eines Staates. Aus der partikularen Gerechtigkeit als wesentliche Komponente der Gerechtigkeitstugend entspringen zunächst zwei Nebenformen: die verteilende und die ausgleichende Gerechtigkeit. Hinzu kommt die Verkehrs- und Vertragsgerechtigkeit als weitere Unterkategorie. Aristoteles trennt in seiner Konzeption, erstmals in der Geschichte, deutlich zwischen der Gerechtigkeit als moralische Tugend und als Teil der menschlichen Seele und der Gerechtigkeit als Habitus einer Person bzw. eines Staates mit dem Ziel der ausgeglichenen Güterverteilung. Diese Unterscheidung zwischen der gerechten Güter- und Aufgabenverteilung eines Staates/einer Person und der Gerechtigkeit als charakterliche Tugend scheint für die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles maßgeblich zu sein. Das platonische Gerechtigkeitskonzept entbehrt eine solche Differenzierung und ist dadurch anfällig für Kritik. Dieser fundamentalen Unterscheidung wird ein weiteres Kapitel gewidmet, ehe die distributive und ausgleichende Gerechtigkeit näher erläutert werden.

Aristoteles Gerechtigkeitsbegriff ist keine festgefahrene Grundnorm, sondern in sich flexibel und dehnbar. Diese These führe ich zurück auf den Begriff der Billigkeit, der in der Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles als Sonderrechtsform neben der Härte der Gerechtigkeit ergänzend hinzukommt. Welche Funktion die Billigkeit im aristotelischen Konzept übernimmt und in welcher Beziehung jene spezielle Sonderform zur Norm der Gerechtigkeit steht, wird im Anschluss an die Differenzierung thematisiert.

Die umfassende Gerechtigkeit manifestiert sich für den Bürger auch in der vollständigen Einhaltung der Gesetze und der Gleichheit vor dem Staat. Das gerechte Handeln hängt in der Konzeption des Aristoteles von der jeweiligen Staatsform ab. Die Gerechtigkeit steht infolge dessen in direkter Verbindung mit der politischen Herrschaftsordnung und kann von ihr nicht getrennt werden. Die vorangegangenen theoretischen Erläuterungen manifestieren sich also insbesondere in der Polis, der vollkommenen Gemeinschaft System des Aristoteles. Das Ziel dieser Arbeit soll es letztlich sein, anhand der Erläuterungen der Gerechtigkeitskonzeption die gerechte Verteilung der Ämter innerhalb der Polis zu erläutern. Die vorangehenden Erläuterungen sind jedoch insofern notwendig, als dass die Verteilung der Herrscher-und Regierungspositionen auf den theoretischen Ansätzen der Gerechtigkeit in der Nikomachischen Ethik basieren. Die Verteilung der Ämter wird bei Aristoteles ethisch legitimiert. Daher ist es obligatorisch, ein Gesamtbild des aristotelischen Systems zu skizzieren. In Kapitel 5 werden zunächst die wesentlichen Prinzipien der Polis dargelegt. Aufbauend auf dieser Darstellung wird die Art der Verteilung der Ämter in der Polis ausführlicher behandelt. Im Fokus stehen die wesentlichen Kriterien, nach denen der Philosoph die Verteilung der Herrscherpositionen bestimmt. Anschließend wird der Begriff der Gleichheit in der Polis stärker beleuchtet. Welche Folgen zieht das Gleichheitsprinzip für die Bürger der Polis und andere Personengruppen nach sich und wieso ist sie maßgeblich für die gesellschaftliche Ordnung?

Mit der Beantwortung dieser Fragestellung folgt ein gesonderter Abschnitt, in dessen Kontext der Tugendbegriff des Aristoteles kritisch hinterfragt wird. Gleiches gilt für die Stellung und die Funktion der Gesetze im aristotelischen Gerechtigkeitssystem. Die kritische Beurteilung erachte ich als notwendig, denn letztlich ist die Gerechtigkeit bei Aristoteles 1. ein Teil der gesamten Tugend und 2. steht sie als Gesamttugend an oberste Stelle und umfasst alle anderen. Von ebenso großer Wichtigkeit ist das Gesetz, das ein notwendiges Instrument in der Gerechtigkeitskonzeption des Philosophen darstellt. Zudem stehen die Gesetze in Beziehung mit der jeweiligen Staatsform und somit auch mit der Aristokratie, deren oberstes Ziel letztlich im Gemeinwohl liegt. Alle Tugenden sind im aristotelischen Konzept bloße Mittel zur Verwirklichung des Gemeinwohls. Sie sind diesem erhabenen Zweck untertan.

2. Anwendungsbereich des Gerechtigkeitsbegriffs

Vieles bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch als gerecht oder ungerecht: Neben den einzelnen Personen oder Gemeinschaften und ihren menschlichen Handlungen umfassen die beiden Begriffe die von Menschen geäußerten Urteile und Bewertungen. Hinzu kommen die Gesetze innerhalb eines Gesellschaftssystems, die wirtschaftlichen Verflechtungen in und außerhalb eines Staates sowie die Rechtsordnung desselben. Daneben findet der Begriff Verwendung bei der gerechten Verteilung von Waren, der gerechten Entlohnung beim Handel und der gerechten Bestrafung bei Gesetzeswidrigkeiten. Die großen Denker der Geschichte sprachen von einer umfassenden kosmischen Gerechtigkeitsordnung. Andere, religiös geprägte Denker sprachen von einer göttlich-metaphysischen Gerechtigkeit, die sich in im gesamten Kosmos manifestiere. Die Gerechtigkeit ist folglich kein einheitliches Phänomen. Viele verschiedene Formen entstanden in der Philosophiegeschichte, die es zeitgenössischen Denkern erschweren, den Begriff der Gerechtigkeit deutlich zu fassen. Ihre Begriffsgeschichte beginnt bereits vor der Antike und wurde im Zuge der Epochen weiter differenziert und konkretisiert. Vor dem Hintergrund des Begriffswirrwarrs und für das Verständnis der aristotelischen Gerechtigkeitskonzeption scheint es zunächst angebracht, die unterschiedlichen Typen und Varianten der Gerechtigkeit vorerst systematisch zu kategorisieren, um dem Leser einen transparenten Überblick über den umfassenden Anwendungsspielraum des Begriffs zu gewähren. Wenn z. B. von Gerechtigkeit im gesetzlichen Kontext gesprochen wird, ist es infolge notwendig, die Voraussetzungen und Bedingungen zu beleuchten, unter denen die Gesetzesgerechtigkeit sich äußert. Dadurch ist der Rezipient in der Lage, die o.g. Verwendungsform logisch einzuordnen und die breite Begriffsbedeutung einzugrenzen. Die verschiedenen Kriterien zur Beurteilung der Gerechtigkeit stehen in Abhängigkeit zu den unterschiedlichen Arten derselben.

Bevor ich die verschiedenen Verwendungsformen kategorisiere, bedarf es jedoch zunächst einer etymologischen Worterklärung:

Das Wort gerecht leitet sich ursprünglich ab von dem im Wort inhärenten Begriff „recht“. Eine Abgrenzung der beiden Begriffe vollzieht sich erstmals im Neuhochdeutschen. Ursprünglich meinte der Ausdruck rech t nicht mehr als unser heutiges gerade, ehe der Begriff über die Sprachstufe des Mittelhochdeutschen die heutige Form im Sinne von richtig und speziell von moralisch richtig annahm. Der etymologischen Wortherkunft folgend besteht also eine enge Wortverwandtschaft zwischen dem Gerechten und dem Richtigen.2 Folglich überrascht es nicht, wenn die Gerechtigkeit im heutigen Sprachgebrauch definiert wird als „ Prinzip eines staatlichen oder gesellschaftlichen Verhaltens, das jedem gleichermaßen sein Recht gewährt . 3 Die Begriffe Recht und Gerechtigkeit fallen ineinander. Das heutige Verständnis von Gerechtigkeit grenzt derweil an das der traditionellen Antike an. Bei Platon und Aristoteles trifft man auf eine ähnliche Definition. Gerecht bedeutet demnach, jedem das Seine zukommen zu lassen, was ihm oder ihr zusteht.4 Welche Konsequenzen aus der o. a. Definition für den Einzelnen und die Allgemeinheit daraus resultieren, werden die nächsten Kapitel ausführlich erläutern.

2.1 Formen der Gerechtigkeit

2.1.1 Subjektive Verwendungsform

Die subjektive Gerechtigkeit bezieht sich auf das einzelne Subjekt im Sinne einer sittlichen Tugend und grundlegenden Charaktereigenschaft. Bei den Philosophen der griechischen Antike und des Mittelalters gilt sie als essenzielle Voraussetzung zur Erreichung der inneren Glückseligkeit. Gleichzeit gilt sie als höchste Kardinaltugend, denn sie garantiert die Existenz der übrigen Tugenden und sorgt für ein ausgeglichenes Zusammenwirken der einzelnen Teile im Ganzheitssystem der menschlichen Seele. Die subjektive Gerechtigkeit drückt eine innere Haltung aus, die sich in den Handlungen, Verhaltensweisen und verschiedenen Charakterzügen einer Person oder Personengruppe manifestiert. Sie umfasst ferner die Urteile und Bewertungen, die von jener Person oder Personengruppe verbalisiert werden. Die aufgeführten Gebrauchsvarianten können bezeichnet werden, als die personale Verwendungsform von Gerechtigkeit5 und finden Anwendung auf subjektiver bzw. intersubjektiver Ebene.

2.1.2 Institutionelle Verwendungsform

Diese Gebrauchsvariante versteht die Gerechtigkeit als soziale Regel, welche das zwischenmenschliche Zusammenleben mit Hilfe von Regeln, Gesetzen und Vorschriften reguliert und organisiert. Der Begriff der Gerechtigkeit wird weiterhin für soziale Institution, Staaten, Gesellschaftsordnungen und Wirtschaftssystemen gebraucht. Eine jede wohlgeordnete Gesellschaft definiert ihre eigenen Gerechtigkeitsgrundsätze, und jeder handelt gerecht, sofern er seinen Teil zur Erhaltung der gerechten Institution beiträgt. Welche Kriterien eine als vollkommen zu bezeichnende Gesellschaft erfüllen muss, ist bedingt von den Gerechtigkeitsvorstellungen und das damit einhergehende Gesellschaftsideal innerhalb einer Gesellschaft. Die Gerechtigkeitsvorstellungen entspringen den verschiedenen Denkmustern bezüglich der natürlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten eines Menschen. Sie stehen in Abhängigkeit zu den postulierten Werten einer Gemeinschaft.

2.1.3 Theoretische Verwendungsform

Die theoretische Gebrauchsform der Gerechtigkeit resümiert im Betrachten von Theorien, Konzepten und Prinzipien. Gerechtigkeitstheorien systematisieren den Gerechtigkeitsbegriff und skizzieren den Anwendungsbereich innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung. Gerechtigkeitstheorien und -konzepte tragen einen normativen Charakter und umfassen die zentralen Bereiche einer Gesellschaft. Den Fokus der heutigen Gerechtigkeitstheorien bilden die Institutionen eines Staates. Die Geschichte zeigt allerdings, dass viele Denker in der frühen Historie zu individualistischen Auffassungen neigten. So rückte die Gerechtigkeit als Tugend ausgehend von der platonischen und aristotelischen Philosophie in den Vordergrund und bezog sich zunächst ausschließlich auf das Individuum. Die normativen Gerechtigkeitstheorien sind derweil bedingt von den unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen der Kulturen und ihren gesellschaftlichen Ordnungen.

2.1.4 Resultative Verwendungsform

Die Ausdrücke gerecht und ungerecht finden weiterhin Anwendung beim Austauschverhältnis von Waren und Dienstleistungen oder in der Relation von Arbeitsleistung und Entlohnung. Weiterhin gebraucht man die Ausdrücke bei dem Verhältnis einer gesetzeswidrigen Tat und der dazugehörigen Strafe. Der Gerechtigkeitsbegriff dient außerdem zur Beschreibung von Verteilungszuständen historischer oder natürlicher Beschaffenheit, wie der Ölvorkommen auf den Kontinenten. Im Alltagsgebrauch verwendet man den Begriff z. B. auch bei der Bewertung von Sportveranstaltungen oder im Zusammenhang mit dem Ergebnis eines Bewerbungsverfahrens.6 Es lassen sich noch weitere Beispiele aufzählen, die der resultativen Gebrauchsform der Gerechtigkeit zuordnen sind. Die o. a. Exemplifikationen sollen aufgrund des beschränkten Umfangs jedoch ausreichen.

2.1.5 Kosmische Dimension

Der Glaube an eine kosmische bzw. göttliche Gerechtigkeitsordnung findet sich bereits in den Schriften der frühen Antike. In zahlreichen philosophischen Debatten wurde versucht, das Wesen der Gerechtigkeit zu bestimmen, was dazu führte, dass viele Denker auf eine metaphysische Begründung der Gerechtigkeit zurückgriffen. So verstand man die Gerechtigkeit als eine in der Natur vorhandene Ordnung oder als Manifestation göttlichen Ursprungs. In den Naturrechtslehren der antiken Philosophie betrachtet man die Gerechtigkeit als übergeordnetes, von Raum und Zeit unabhängiges Prinzip. Sie ist entweder göttlich bestimmt oder kosmologisch verankert. Neuzeitliche Denker wie John Locke und Thomas Hobbes sahen in der Gerechtigkeit einen dem Wesen des Menschen inhärenten Wert. Mit der Aufklärung und der Kantischen Philosophie rückte die Vernunft als gestaltendes Element ins Zentrum der Gerechtigkeitstheorien. Während viele Denker der Antike und des Mittelalters die Gerechtigkeit auf die Natur zurückführten, sehen einige neuzeitliche Denker sie in der Vernunft begründet. Wird der Gerechtigkeitsbegriff in dem Natur- oder Vernunftrecht begründet? Der Dissens bezüglich dieser Frage prägte den philosophiegeschichtlichen Diskurs von der Antike bis zur Gegenwart.

Die unterschiedlichen Verwendungsformen zeigen die Vielfältigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs. Im Laufe der Geschichte und aufgrund der vielfältigen Entwicklungen der Gesellschaft kamen neue Formen hinzu. Was ist im wahrsten Sinne gerecht bzw. ungerecht? Die großen Denker zeigten in ihren Theorien divergierende Ansätze, obgleich sie des Öfteren ähnlicher Auffassung waren. Platon legte in seiner Theorie erstmals großen Wert darauf, die Gerechtigkeit als seelische Tugend zu fassen. Die Gerechtigkeit und die Seele stehen für Platon im gleichen Verhältnis wie die Gesundheit und der Körper.7 Die sophistischen Theorien betonten den universellen Charakter der Gerechtigkeit als Phänomen der Naturordnung oder erwähnten die Gerechtigkeit im Rahmen einer gerechten Sozialordnung. Sie vernachlässigten jedoch die Gerechtigkeit auf der Individualebene. Wenngleich Platon das Verdienst zukommt, die Gerechtigkeit auf der individuellen Ebene zu berücksichtigen, ist es sein Nachfolger Aristoteles, der erstmals in seiner Konzeption systematisch unterscheidet zwischen der Gerechtigkeit als charakterliche Verfassung, in deren Rahmen der Einzelne bzw. der Staat mit seiner Präsenz den moralischen Anforderungen der Anderen gerecht wird, und der gerechten Aufgaben- und Güterverteilung einer Person bzw. eines Staates innerhalb einer Staatsform. An dieser Stelle nimmt Aristoteles eine strikte Differenzierung vor. Die nachfolgenden Kapitel explizieren den Kontrast zwischen dem Habitus der personalen, gerechten Güterverteilung auf der einen Seite und der umfassenden Bedeutung der Gerechtigkeit mit Bezug auf das richtige Handeln und Verhalten eines Menschen auf der anderen Seite.

3. Gerechtigkeit als ethische Tugend

Die Ausdifferenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs in seine verschiedenen Verwendungsformen im letzten Kapitel hat gezeigt: Der Begriff der Gerechtigkeit ist bezogen auf das menschliche Zusammenleben innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens von doppelter Gestalt:

1. Mit Bezug auf die sozialen Institutionen und Systeme, wie die Familie sowie das Bildungs- und Gesundheitswesen, wird der Ausdruck der institutionellen Gerechtigkeit präferiert. Den staatlichen Institutionen obliegt die Aufgabe, den moralischen Forderungen der Menschen innerhalb des Staates gerecht zu werden. Mit Blick auf die Rechtsordnung in einem staatlichen System stößt man in der Literatur auch häufiger auf den Begriff der politischen Gerechtigkeit.
2. Auf der subjektiven Ebene meint der Begriff den charakterlichen Zustand einer Person, Forderungen von Institutionen nicht nur aus reiner Furcht vor der Strafe zu entsprechen, vielmehr aus einer inneren Neigung heraus. Sich aus freien Stücken zu entscheiden, die Aufgabe der institutionellen Gerechtigkeit zu erfüllen, ist gerecht im Sinne einer moralischen Tugend. Die Gerechtigkeit fungiert als Persönlichkeitsmerkmal und meint weniger die Konformität mit dem positiven Gesetz, sondern vielmehr jene mit der moralischen Legalität. Der Begriff der Legalität entspringt der Kantischen Terminologie und bezeichnet den Umstand der Übereinstimmung mit dem, was die Gerechtigkeit bzw. die Moral im umfassenderen Sinne gebietet. Die moralische Legalität umfasst verschiedene Stufen, die aufgrund des begrenzten Rahmens nicht näher erörtert werden können. Es sei jedoch anmerkt, dass man auf der Vollendungsstufe der personalen Gerechtigkeit, der Stufe der Moralität, nicht bloß gerecht handelt, weil der Staat es bestimmt, vielmehr agiert man aus einer bestimmten Gesinnung heraus, weil die Handlung schlichtweg gerecht ist. 8

Bevor die Gerechtigkeit als ethische Tugend näher untersucht wird, ist es zunächst notwendig, grundsätzliche Aspekte der aristotelischen Ethik zu benennen. Aristoteles definiert die Tugend im Allgemeinen als vorzügliche und lobenswerte Haltung, der menschlichen Vernunft entsprungen: „Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmten pflegt.“ 9 Angestrebt wird die Mitte zwischen zwei Extremen, und stets strebt sie in den Handlungen und Affekten die Mitte an. Das Mittlere ist nach Aristoteles immer das Beste, das es zu erreichen gilt. „Deshalb ist die Tugend nach ihrer Substanz und ihrem Wesensbegriff Mitte.“ 10 Nicht die Pflichten oder Konsequenzen formen das Fundament der Ethik, vielmehr bilden die Bestimmungen der Tugenden den Kern der ethischen Theorie nach Aristoteles.

Nach der näheren Bestimmung des Tugendbegriffs widmet Aristoteles sich in seinem 5. Buch also dem Gerechtigkeitsbegriff. Er definiert die Gerechtigkeit als feste Grundhaltung bzw. als Habitus (hexis), der dem Einzelnen erlaubt, gerechte Handlungen zu vollführen. Die Entscheidung zum gerechten Handeln basiert auf der Freiwilligkeit des Einzelnen. Durch eine frühzeitige und vernünftige Erziehung mit Blick auf gerechte und tüchtige Handlungen gewöhnt sich der Mensch an diesen Zustand und festigt seine Haltung, gerecht handeln zu wollen. Doch selbst nach Erlangung der Eigenschaft besteht weiterhin die Gefahr, sich von seinen Leidenschaften zu überwältigen zu lassen und ungerecht zu handeln, denn die Tugend entspringt nicht der menschlichen Natur. So kann sich beispielsweise der Mensch nicht ohne Weiteres von seinem Fortpflanzungstrieb befreien, ebensowenig kann der natürliche Trieb verlernt oder vergessen werden. Folglich bedarf es der täglichen Übung und der Wachsamkeit der Eltern und Freunde. Sie sollten ihre Verantwortungspflichten nicht vernachlässigen und für die Erziehung Sorge tragen. Nichtsdestotrotz ist die Gewöhnung an gerechtes und ethisches Handeln im allgemeinen Sinne primär die Aufgabe der Gesetzgeber der Polis.11 Die Gerechtigkeit gilt nach Aristoteles folglich als die wichtigste aller Tugenden. Sie sei die vorzüglichste aller Tugend, da sie die vollkommenste aller Tugenden darstelle. „Vollkommen ist sie aber, weil ihr Inhaber die Tugend auch gegen andere ausüben kann und nicht bloß für sich selbst.“ 12 Den ethischen Tugenden stellt er die dianoethischen gegenüber. Erstere betreffen den Charakter und Letztere die Vernunft und den Verstand. Die Gerechtigkeit fällt aufgrund ihrer praxisnahen Eigenart eher in die erste Kategorie, setzt die Vernunft und den Verstand bei der Bewertung von Handlungen und dem Ausfindigmachen des Mittleren jedoch aus. Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass Aristoteles die Gerechtigkeit als vollkommenste aller Tugenden erachtet. Eine ausführliche Unterscheidung vorzunehmen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Folglich genügen an dieser Stelle die o. a. Ausführungen.

[...]


1 Horn, Christoph; Scarano, Nico. Philosophie der Gerechtigkeit: Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2002.

2 Vgl. Schlothfeldt, Stephan: Gerechtigkeit. Grundthemen Philosophie Herausgegeben von Dieter Birnbacher Pirmin Stekeler-Weithofer Holm Tetens. De GRUYTER Verlag. 2012. S.7-8.

3 http://www.duden.de/rechtschreibung/Gerechtigkeit. (10.06.16)

4 Vgl. Platon, Der Staat: (Politeia). Reclams Universal-Bibliothek) Taschenbuch. 1. Januar 1982. 433 a.

5 Horn, Christoph. Philosophie der Gerechtigkeit, S. 11.

6 Vgl. ebd. S.11.

7 Vgl. Platon, Gorgias. Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag. 441e-445e.

8 Höffe, Otfried. Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Verlag C.H.BECK. 4. Auflage, 2010. S.31.

9 Aristoteles, S.46 (1107a).

10 Ebd. S.46 1107 a.

11 Vgl. Knoll, Manuell. Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption. Wilhelm Fink Verlag München, 2009. S.52.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Die Gerechtigkeitskonzeption in der Philosophie des Aristoteles
Untertitel
Eine theoretische Abhandlung zur Hinführung auf die Vergabe der politischen Ämter innerhalb der Polis
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,5
Autor
Jahr
2016
Seiten
44
Katalognummer
V451795
ISBN (eBook)
9783668846920
ISBN (Buch)
9783668846937
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gerechtigkeitskonzeption, philosophie, aristoteles, eine, abhandlung, hinführung, vergabe, ämter, polis
Arbeit zitieren
Ahmad Abbas (Autor:in), 2016, Die Gerechtigkeitskonzeption in der Philosophie des Aristoteles, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/451795

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